Ein im gerichtlichen Verfahren von einem Prozessbeteiligten vorgelegter Schriftsatz – hier: Berufungsbegründung nebst Anlagen – ist kein tauglicher Gegenstand einer Sperrerklärung.

Das Recht und die Pflicht des Gerichts, den Beteiligten nach dem auch im in-camera-Verfahren geltenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs alle prozessrelevanten Äußerungen im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens zur Kenntnis zu geben, steht nicht zur Disposition der Beteiligten1. Das gilt sowohl im Hauptsacheverfahren als auch im in-camera-Verfahren. Schriftsätze, die in einem gerichtlichen Verfahren eingereicht werden, müssen den Prozessbeteiligten vollständig und ohne Schwärzung zugänglich gemacht werden. Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet den Verfahrensbeteiligten grundsätzlich, sich zu jeder dem Gericht zur Entscheidung unterbreiteten schriftsätzlichen Stellungnahme der Gegenseite zu äußern2.
Es besteht keine Rechtsschutzlücke, die durch Analogie zu schließen wäre. Der Beklagte befindet sich nicht in einer Sondersituation. Gründe, von dem nach § 99 Abs. 2 VwGO vorgegebenen Verfahren abzuweichen, sind nicht gegeben. Die Annahme des Beklagten, er werde gezwungen, entweder eine unsubstantiierte Berufungsbegründung einzureichen oder geheimhaltungsbedürftige Geschäftsgeheimnisse zu offenbaren, trifft nicht zu.
Der Beklagte kann seine Berufungsbegründung ohne konkretes Zahlenmaterial und ohne die Anlagen, die seiner Auffassung nach Geschäftsgeheimnisse enthalten, dem Berufungsgericht als Gericht der Hauptsache vorlegen. Zwar ist der Beklagte als Berufungsführer gemäß § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO verpflichtet, in der Begründung konkrete Angaben zu machen, in welchen Punkten tatsächlicher oder rechtlicher Art das angefochtene Urteil für unrichtig gehalten wird3. Das setzt eine Sichtung und Durchdringung des Streitstoffes und eine damit verbundene sachliche Auseinandersetzung mit den die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragenden Gründen voraus4. Welchen Mindestanforderungen eine Rechtsmittelbegründung zu genügen hat, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Das zu beurteilen, obliegt dem Gericht der Hauptsache. Dabei muss es ausgerichtet an der konkreten Prozesssituation – wie hier – auch eine geltend gemachte Geheimhaltungsbedürftigkeit in den Blick nehmen und eine gegebenenfalls daraus resultierende Abstraktion des Vortrags hinnehmen.
Ob es – wie der Beklagte behauptet – allerdings einer „Auseinandersetzung mit dem komplexen Berechnungsmodell der Kommission“ bedarf und ob deswegen die Vorlage von als geheimhaltungsbedürftig bezeichneten Informationen über Geschäftszahlen veranlasst ist, hängt davon ab, ob das Gericht der Hauptsache die Vorlage der Geschäftszahlen und Daten als entscheidungserheblich ansieht. Darauf hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts zu Recht hingewiesen. Ein – grundsätzlich erforderlicher – Beweisbeschluss oder eine vergleichbare förmliche Äußerung des Hauptsachegerichts zur Klärung der rechtlichen Erheblichkeit der Daten für die Entscheidung des Rechtsstreits wäre nur dann ausnahmsweise entbehrlich, wenn die zurückgehaltenen Unterlagen zweifelsfrei rechtserheblich sind. Anhaltspunkte für eine solche Fallkonstellation sind nicht zu erkennen.
Der Vorwurf des Beklagten, die Argumentation des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts sei verfehlt, beruht ebenso wie die Annahme, das Gericht der Hauptsache habe die Entscheidungserheblichkeit „förmlich“ im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zum Ausdruck gebracht, auf einem unzutreffenden Verständnis des Verfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO. Ob zur Beurteilung des Rechtsstreits die Kenntnis der Geschäftszahlen und Daten zwingend erforderlich ist, ist allein Aufgabe des Gerichts der Hauptsache. Gerichtliche Hinweise in einem anderen Verfahren können die grundsätzlich notwendige förmliche Verlautbarung der Entscheidungserheblichkeit nicht ersetzen. Erst wenn die Frage der Entscheidungserheblichkeit bejaht wird, kann – auf Antrag – das Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO eingeleitet werden.
Der Beklagte ist in dieser Prozesssituation nicht schutzlos gestellt. Es bleibt ihm unbenommen, beispielsweise durch Stellung eines Beweisantrags, eine förmliche Verlautbarung des Gerichts der Hauptsache zur Entscheidungserheblichkeit einer Sachverhaltsaufklärung mit Blick auf bestimmte Tatsachen herbeizuführen. Der Einwand des Beklagten, das Gericht könne nicht wissen, was entscheidungserheblich sei, wenn es gerade um geheimhaltungsbedürftige Informationen gehe, überzeugt nicht. Der Einwand beruht auf der Annahme, zur Beurteilung des Rechtsstreits sei die Kenntnis der Geschäftszahlen zwingend erforderlich. Ausgeblendet wird dabei, dass jedenfalls das Verwaltungsgericht die im Verfahren aufgeworfenen Fragen ohne die vom Beklagten beantragte Sachverhaltsaufklärung hat entscheiden können. Es ist gerade Aufgabe des Berufungsgerichts, festzustellen, ob die Rechtsauffassung der Vorinstanz fehlerhaft ist. Dazu gehört die Prüfung, ob es zur Entscheidung der Vorlage geheimhaltungsbedürftiger Angaben bedarf.
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 28. November 2014 – 20 F 5.2014 -
- vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.04.2012 – 20 F 7.11, NVwZ 2012, 1488 Rn. 13[↩]
- BVerwG, Beschlüsse vom 17.11.2003 – 20 F 16.03, Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 35 S. 24 f.; und vom 05.02.2009 – 20 F 24.08 16 zur Abfassung einer Sperrerklärung[↩]
- BVerwG, Beschluss vom 16.02.2012 – 9 B 71.11, Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 42 Rn. 2 m.w.N.[↩]
- BVerwG, Urteil vom 03.03.1998 – 9 C 20.97, BVerwGE 106, 202, 203 zu den Anforderungen einer Revisionsbegründung[↩]
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