Der angehende Fachanwalt für Arbeitsrecht – und die Fälle aus dem Sozialversicherungsrecht

Fallbearbeitungen aus dem Sozialversicherungs- und Arbeitsförderungsrecht genügen nur dann für den Erwerb der erforderlichen besonderen praktischen Erfahrungen im Fachgebiet „Arbeitsrecht“, wenn die Fälle einen konkret darzulegenden arbeitsrechtlichen Bezug aufweisen1.

Der angehende Fachanwalt für Arbeitsrecht – und die Fälle aus dem Sozialversicherungsrecht

Die Verleihung der Befugnis zur Führung der Bezeichnung „Fachanwalt für Arbeitsrecht“ setzt nach § 43c Abs. 1, § 59b Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b BRAO, § 1 Satz 1, § 2 Abs. 1 FAO besondere theoretische Kenntnisse in den in § 10 FAO bezeichneten Einzelbereichen und besondere praktische Erfahrungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts voraus. Dazu muss der Rechtsanwalt nach § 5 Abs. 1 Buchst. c FAO persönlich und weisungsfrei als Rechtsanwalt mindestens 100 Fälle aus den in § 10 Nr. 1 Buchst. a bis e, Nr. 2 Buchst. a und b FAO bestimmten Bereichen, davon mindestens fünf Fälle aus dem Bereich des § 10 Nr. 2 FAO und mindestens die Hälfte gerichts- oder rechtsförmliche Verfahren bearbeitet haben.

Die erforderlichen praktischen Erfahrungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts konnte der Rechtsanwalt in dem hier vom Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs entschiedenen Fall für den maßgeblichen Referenzzeitraum von drei Jahren vor der Antragstellung nicht vorweisen, weil er in dieser Zeit keine 50 gerichts- oder rechtsförmliche Verfahren aus dem Fachgebiet Arbeitsrecht bearbeitet hat. Der Bundesgerichtshof vermisste insoweit bei einer größeren Anzahl der für diesen Zeitraum gemeldeten 57 Fallbearbeitungen eine ausreichende Befassung mit arbeitsrechtlichen Fragestellungen.

In der vom Rechtsanwalt vorgelegten Liste der im Referenzzeitraum von ihm bearbeiteten gerichts- und rechtsförmlichen Verfahren ist eine größere Anzahl von Fällen aus dem Sozialversicherungs- und Arbeitsförderungsrecht (§ 10 Nr. 1 Buchst. e FAO) aufgeführt. Diese Fallbearbeitungen genügen nur dann für den Erwerb nach § 5 Abs. 1 Buchst. c FAO erforderlichen besonderen praktischen Erfahrungen im Fachgebiet „Arbeitsrecht“, wenn die Fälle einen konkret darzulegenden arbeitsrechtlichen Bezug aufweisen2.

Ein solcher Bezug zum Arbeitsrecht ist, anders als dies der Anwalt dem BGH, Beschluss vom 25.02.20083 entnehmen will, nicht schon dann gegeben, wenn sich in Fällen, die dem Sozialversicherungs- oder Arbeitsförderungsrecht zuzuordnen sind (§ 10 Nr. 1 Buchst. e FAO), eine arbeitsrechtliche Frage stellen könnte. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist für die Beurteilung, ob eine Fallbearbeitung ausreichende praktische Erfahrungen auf dem betreffenden Fachgebiet – hier dem Arbeitsrecht – vermittelt, danach zu unterscheiden, ob der Fall originär diesem Gebiet zuzurechnen ist oder ob er thematisch einem anderen Rechtsbereich unterfällt und lediglich Berührungspunkte zum relevanten Fachgebiet aufweist4.

Ein thematisch dem Gebiet des Arbeitsrechts zuzuordnender Fall ist schon dann als arbeitsrechtlicher Fall im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchst. c FAO anzuerkennen, wenn eine Frage aus den in § 10 FAO bestimmten Bereichen des Arbeitsrechts zumindest erheblich werden kann5. Fälle aus den Bereichen des Arbeitsförderungs- oder Sozialversicherungsrechts weisen jedoch nicht schon von sich aus einen arbeitsrechtlichen Schwerpunkt auf. Sie sind, obwohl § 10 Nr. 1 Buchst. e FAO auch Grundzüge des Arbeitsförderungs- und Sozialversicherungsrechts zum Gebiet des Individualarbeitsrechts zählt, nicht dem Arbeitsrecht selbst, sondern lediglich mit ihm in Beziehung stehenden Nebengebieten zuzuordnen. Denn § 10 Nr. 1 Buchst. e FAO legt nicht fest, welche Art von Fallbearbeitungen für die Fachanwaltsbezeichnung in dem Fachgebiet Arbeitsrecht zu erbringen sind, sondern bestimmt nur, welchen Rechtsstoff das Fachgebiet Arbeitsrecht umfasst6. Diese Regelung trägt lediglich dem Umstand Rechnung, dass ein Fachanwalt für Arbeitsrecht ohne Grundkenntnisse auf den angrenzenden Rechtsgebieten des Arbeitsförderungs- und Sozialversicherungsrechts seiner Aufgabe in vielen Fällen nicht gerecht werden kann3. Eine Befassung mit solchen Fällen kann daher nur dann Ausweis praktischer Erfahrung auf den Kerngebieten des Arbeitsrechts sein, wenn die Fälle arbeitsrechtliche Bezüge besitzen7.

Einen ausreichenden inhaltlichen Bezug zum Arbeitsrecht weist ein Fall, der auf dem Gebiet des Arbeitsförderungs- oder Sozialversicherungsrechts liegt, entgegen der Auffassung des Rechtsanwalts nur dann auf, wenn bei ihm arbeitsrechtliche Fragen für die argumentative Auseinandersetzung (tatsächlich) eine Rolle spielen8. Die arbeitsrechtliche Problemstellung muss dabei zwar nicht einen wesentlichen Anteil an der Fallbearbeitung haben oder gar den Mittelpunkt des Falles bilden. Es muss aber im Rahmen eines arbeitsförderungs- oder sozialrechtlichen Falles im maßgeblichen Referenzzeitraum eine für die juristische Bearbeitung relevante arbeitsrechtliche Frage aufgeworfen werden9. Solche Fälle werden also nicht schon dadurch zu arbeitsrechtlichen Fällen im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. c FAO, dass bei der Prüfung eines sozialversicherungs- oder arbeitsförderungsrechtlichen Anspruchs nebenbei arbeitsrechtliche Aspekte zu berücksichtigen sind, die keiner näheren Befassung bedürfen, weil sie sich als unproblematisch darstellen10.

Auch ist aus dem Passus im BGH-Beschluss vom 25. Februar 200811, in dem der Bundesgerichtshof bestimmte sozialversicherungsrechtliche Widerspruchsverfahren12 mit der Begründung als arbeitsrechtliche Verfahren anerkannt hat, „diese Fallbearbeitungen werfen nicht nur sozialrechtliche, sondern auch arbeitsrechtliche Fragen nach dem Bestand eines Arbeitsverhältnisses oder nach der Erwerbsfähigkeit des Arbeitnehmers auf“ nicht herzuleiten, der Bundesgerichtshof bejahe bei Randgebieten zum Arbeitsrecht schon dann einen ausreichenden arbeitsrechtlichen Bezug, wenn Fragestellungen aus dem Arbeitsrecht eine Rolle spielen könnten. Anders als der Rechtsanwalt meint, ist auch nicht die Annahme gerechtfertigt, bei Verfahren, in denen eine sozialversicherungsrechtliche Erwerbsminderung geltend gemacht wird, bestehe stets ein inhaltlicher Bezug zum Arbeitsrecht.

Der Bundesgerichtshof hat mit diesen Ausführungen die in demselben BGH, Beschluss erstmals aufgestellten allgemeinen Grundsätze zur Anerkennungsfähigkeit von sozialversicherungs- und arbeitsförderungsrechtlichen Fällen13 nicht relativiert, sondern sie lediglich auf die konkret zu beurteilenden Fälle übertragen. Dementsprechend hat er seine Subsumtion daran ausgerichtet, ob in den vom dortigen Antragsteller bearbeiteten sozialversicherungsrechtlichen Fällen Fragestellungen aus dem Arbeitsrecht, wie etwa der Bestand des Arbeitsverhältnisses oder die Erwerbsfähigkeit des Arbeitnehmers, zu klären waren. Dabei hat der Bundesgerichtshof allerdings die Unterscheidung zwischen dem arbeitsrechtlichen Aspekt der Arbeitsunfähigkeit und der rentenversicherungsrechtlichen Problematik der Erwerbsminderung nicht trennscharf herausgearbeitet und folglich nicht näher ausgeführt, dass die Prüfung der sozialversicherungsrechtlichen Erwerbsminderung nicht stets eine Klärung von arbeitsrechtlichen Fragestellungen, etwa der Arbeitsunfähigkeit oder des Berufsbilds, mit einschließt.

Dies gibt dem Bundesgerichtshof Anlass zur Klarstellung, dass ein ausreichender arbeitsrechtlicher Bezug in solchen Fallgestaltungen nicht automatisch anzunehmen ist. Vielmehr ist er – wie auch sonst bei Fällen, die dem relevanten Fachgebiet nicht originär zuzuordnen sind, – jeweils konkret festzustellen. Zwar gibt es gewisse Überschneidungen zwischen dem Begriff der (vollen oder teilweisen) Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) und der Arbeitsunfähigkeit. Jedoch gelten für die rentenversicherungsrechtliche Erwerbsminderung andere Maßstäbe als für den arbeitsrechtlichen Begriff der Arbeitsunfähigkeit.

Eine volle oder teilweise Erwerbsminderung liegt dann vor, wenn der Versicherte wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei beziehungsweise mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1, 2 SGB VI; vgl. auch BSGE 109, 189 ff.). Arbeitsunfähigkeit ist dagegen dann gegeben, wenn ein Krankheitsgeschehen den Arbeitnehmer außerstande setzt, die ihm nach dem Arbeitsvertrag obliegende Arbeit zu verrichten, oder wenn er die Arbeit nur unter der Gefahr fortsetzen könnte, in absehbarer Zeit seinen Zustand zu verschlimmern14. Im ersten Fall ist also eine auf die üblichen Bedingungen des Arbeitsmarkts bezogene Sichtweise maßgebend, während im zweiten Fall das Unvermögen zur Verrichtung der nach den arbeitsvertraglichen Absprachen geschuldeten Arbeitsleistung entscheidend ist.

Ob bei Nebengebieten zum Arbeitsrecht ausreichende arbeitsrechtliche Bezüge vorliegen, ist letztlich unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen15. Es ist daher, wie die Beklagte und der Anwaltsgerichtshof zutreffend angenommen haben, von einem Bewerber um den Fachanwaltstitel „Arbeitsrecht“ zu fordern, dass er in seinen Fallbeschreibungen aufzeigt, welche arbeitsrechtlichen Fragestellungen bei der Bearbeitung sozialversicherungs- oder arbeitsförderungsrechtlicher Fälle konkret eine Rolle gespielt haben. An solchen Bezügen zum Arbeitsrecht fehlt es, wenn arbeitsrechtliche Fragestellungen für die Fallbearbeitung letztlich nicht relevant werden, etwa weil Inhalt eines Arbeitsvertrags oder der Bestand beziehungsweise die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses von keiner Seite in Zweifel gezogen werden. Es gelten hier die gleichen Maßstäbe, die der Bundesgerichtshof bereits für das Fachgebiet „Erbrecht“ beschrieben hat. Danach wird ein Fall, dessen Schwerpunkt in einem anderen Gebiet liegt, nicht schon dadurch zu einem erbrechtlichen Fall, dass einem Anspruch etwa eine unstreitige Gesamtrechtsnachfolge gemäß § 1922 BGB zugrunde liegt16.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 10. März 2014 – AnwZ (Brfg) 58/12

  1. Fortführung von BGH, Beschluss vom 25.02.2008 – AnwZ (B) 17/07, NJW-RR 2008, 925 Rn. 1013[]
  2. vgl. BGH, Beschluss vom 25.02.2008 – AnwZ (B) 17/07, NJW 2008, 3301 Rn. 10 – 13[]
  3. BGH, Beschluss vom 25.02.2008 – AnwZ (B) 17/07, aaO[][]
  4. BGH, Beschluss vom 20.04.2009 – AnwZ (B) 48/08, BRAK-Mitt.2009, 177 Rn. 8 ff.[]
  5. BGH, Beschlüsse vom 06.03.2006 – AnwZ (B) 36/05, NJW 2006, 1513, teilweise nicht abgedruckt in BGHZ 166, 292, Rn. 22, 29 [für Steuerrecht]; vom 20.04.2009 – AnwZ (B) 48/08, aaO Rn. 8 [für Erbrecht][]
  6. BGH, Beschluss vom 25.02.2008 – AnwZ (B) 17/07, aaO Rn. 11[]
  7. BGH, Beschluss vom 25.02.2008 – AnwZ (B) 17/07, aaO Rn. 10 ff.[]
  8. BGH, Beschlüsse vom 25.02.2008 – AnwZ (B) 17/07, aaO Rn. 12 [für Arbeitsrecht]; vom 20.04.2009 – AnwZ (B) 48/08, aaO Rn. 9 [für Erbrecht][]
  9. vgl. BGH, Beschluss vom 20.04.2009 – AnwZ (B) 48/08 aaO[]
  10. vgl. BGH, Beschluss vom 20.04.2009 – AnwZ (B) 48/08, aaO [für eine unstreitige Gesamtrechtsnachfolge bei einem nicht originär dem Erbrecht zuzuordnenden Fall][]
  11. BGH, Beschluss vom 25.02.2008 – AnwZ (B) 17/07, aaO Rn. 14[]
  12. zum Gegenstand dieser Verfahren vgl. AGH Koblenz, Beschluss vom 10.11.2006 – 1 AGH 13/06 18[]
  13. BGH, Beschluss vom 25.02.2008 – AnwZ (B) 17/07, aaO Rn. 10 – 12[]
  14. vgl. BAGE 45, 165 ff.[]
  15. vgl. BGH, Beschluss vom 20.04.2009 – AnwZ (B) 48/08, aaO Rn. 10 [zum Erbrecht][]
  16. BGH, Beschluss vom 20.04.2009 – AnwZ (B) 48/08, aaO Rn. 9[]