Kündigung ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamts – als Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung

§ 168 SGB IX, wonach die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts bedarf, gehört zu den Vorschriften, die Verfahrenspflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten. Hat der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung die nach § 168 SGB IX erforderliche vorherige Zustimmung des Integrationsamts nicht eingeholt, kann dieser Umstand die Vermutung im Sinne von § 22 AGG begründen, dass die Benachteiligung, die der schwerbehinderte Mensch durch die Kündigung erfahren hat, wegen der Schwerbehinderung erfolgte.

Kündigung ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamts – als Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung

Im hier entschiedenen Fall verneinte das Bundesarbeitsgericht gleichwohl das Bestehen eines Anspruchs auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG.

Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus, wobei § 7 Abs. 1 AGG sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2 AGG) verbietet. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG, das einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus den Antidiskriminierungsrichtlinien des Unionsrechts hergeleiteten Rechte – hier die der Richtlinie 2000/78/EG, zu gewährleisten hat, untersagt im Anwendungsbereich des AGG eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Diese Bestimmung findet – ebenso wie alle anderen Bestimmungen des Teils 3 des SGB IX – nach § 151 Abs. 1 SGB IX auch auf gleichgestellte behinderte Menschen Anwendung. Im Einzelnen gelten hierzu nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGB IX die Regelungen des AGG.

Zwar wurde der Arbeitnehmer durch die Kündigung des Arbeitgeberiln unmittelbar im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt, denn er hat eine weniger günstige Behandlung erfahren als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Darauf, ob gleichzeitig anderen Beschäftigten des Arbeitgeberiln gekündigt wurde, kommt es demnach nicht an.

Allerdings hat der Arbeitnehmer – wie das Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt in der Vorinstanz im Ergebnis zutreffend angenommen hat1 – die unmittelbare Benachteiligung im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren. Der Arbeitnehmer hat keine hinreichenden Indizien im Sinne von § 22 AGG vorgetragen bzw. unter Beweis gestellt, die eine Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung vermuten ließen.

Das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG erfasst nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. Das spezielle Benachteiligungsverbot des § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX nF verbietet eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung. Zwischen der Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund bzw. zwischen der Benachteiligung und der Schwerbehinderung muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen2.

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Soweit es – wie hier – um eine unmittelbare Benachteiligung im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund im Sinne von § 1 AGG das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG an einen Grund im Sinne von § 1 AGG anknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei die bloße Mitursächlichkeit genügt3.

§ 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat4.

Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen5.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts begründet der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, ua. der Verstoß des Arbeitgebers gegen die in § 168 SGB IX geregelte Pflicht, vor Ausspruch der Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen die Zustimmung des Integrationsamts einzuholen, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung. Diese Pflichtverletzungen sind nämlich grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein6.

Danach hat der Arbeitnehmer die unmittelbare Benachteiligung im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren. Er hat keine hinreichenden Indizien im Sinne von § 22 AGG vorgetragen bzw. unter Beweis gestellt, die eine Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung vermuten ließen.

Der Arbeitnehmer hat einen Verstoß des Arbeitgeberiln gegen § 168 SGB IX nicht schlüssig dargetan bzw. unter Beweis gestellt.

Nach § 168 SGB IX, der zu den zugunsten schwerbehinderter Menschen getroffenen Verfahrensbestimmungen gehört, bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Diese Bestimmung findet – ebenso wie alle anderen Bestimmungen des Teils 3 des SGB IX – nach § 151 Abs. 1 SGB IX auch auf gleichgestellte behinderte Menschen Anwendung. Ob ein Mensch im Sinne von § 168 SGB IX schwerbehindert ist, richtet sich nach § 2 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX. Nach § 2 Abs. 2 SGB IX sind Menschen im Sinne des Teils 3 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt. Für die Frage, ob ein Mensch diese Voraussetzungen erfüllt, bedarf es keiner behördlichen Anerkennung. Der Status als schwerbehinderter Mensch beginnt grundsätzlich im Zeitpunkt der Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen7.

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Der Arbeitgeberin war vor Ausspruch der Kündigung des mit dem Arbeitnehmer bestehenden Arbeitsverhältnisses nicht nach § 168 SGB IX verpflichtet, die Zustimmung des Integrationsamts einzuholen. Im Zeitpunkt der Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeberiln fand § 168 SGB IX keine Anwendung.

Nach § 173 Abs. 3 SGB IX findet ua. § 168 SGB IX keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist (1. Alternative) oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 152 Abs. 1 Satz 3 SGB IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte (2. Alternative). § 173 Abs. 3 SGB IX gilt nicht nur für schwerbehinderte Menschen, sondern auch für ihnen gleichgestellte behinderte Menschen. Das Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes setzt damit grundsätzlich voraus, dass im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung entweder die Schwerbehinderung bereits festgestellt (oder eine Gleichstellung erfolgt) ist oder die Stellung des Antrags auf Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch (bzw. auf Gleichstellung) mindestens drei Wochen zurückliegt8. Letzteres dient der Missbrauchsbekämpfung9.

§ 168 SGB IX fand auf die Kündigung des Arbeitgeberiln mit Schreiben vom 29.03.2018, das dem Arbeitnehmer sowohl am 31.03.2018 als auch – nunmehr zutreffend adressiert – am 4.04.2018 zugegangen ist, keine Anwendung.

Im Zeitpunkt des Ausspruchs dieser Kündigung war weder die Eigenschaft des Arbeitnehmers als schwerbehinderter Mensch festgestellt – der Arbeitnehmer wurde erst ab dem 17.10.2018 als schwerbehinderter Mensch anerkannt, noch war eine Gleichstellung erfolgt (1. Alternative). Auch ein Antrag auf Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch (bzw. auf Gleichstellung) war zu diesem Zeitpunkt noch nicht gestellt (2. Alternative).

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Entgegen der Rechtsauffassung des Arbeitnehmers fand das Zustimmungserfordernis des § 168 SGB IX auch nicht deshalb Anwendung, weil seine Schwerbehinderung im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung vom 29.03.2018 offensichtlich bzw. offenkundig gewesen wäre.

Der Erbringung des Nachweises der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch im Wege der behördlichen Feststellung bedarf es nicht, wenn diese entbehrlich ist, weil dieser Umstand sich „gleichsam aufdrängt“. Das ist der Fall, wenn die Schwerbehinderung im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung „offensichtlich“ bzw. „offenkundig“ ist10. Für eine offenkundige Schwerbehinderung muss dabei nicht nur das Vorliegen einer oder mehrerer Beeinträchtigungen offenkundig sein, sondern auch, dass der Grad der Behinderung in einem Feststellungsverfahren auf wenigstens 50 festgesetzt würde11. Eine Schwerbehinderung ist demnach „offensichtlich“ bzw. „offenkundig“, wenn sie unzweifelhaft für jede/n ersichtlich besteht.

Der Arbeitnehmer hat nicht dargetan bzw. unter Beweis gestellt, dass dies im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung des Arbeitgeberiln vom 29.03.2018 der Fall war. Dies gilt selbst dann, wenn unterstellt wird, dass der Arbeitnehmer am 11.02.2018 einen Schlaganfall erlitten hat, noch am 12.02.2018 mit halbseitiger Lähmung auf der Intensivstation eines Krankenhauses behandelt wurde und dem Arbeitgeberiln am 12.02.2018 ua. mitgeteilt worden war, dass nicht absehbar sei, wann und ob der Arbeitnehmer aufgrund der Schwere der Lähmung wieder arbeiten könne. Damit sind keine Umstände dargetan bzw. unter Beweis gestellt, nach denen der Arbeitgeberin im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung vom 29.03.2018, mithin gut eineinhalb Monate nach dem – unterstellten – Schlaganfall, von einer „offensichtlichen“ bzw. „offenkundigen“ Schwerbehinderung, dh. unzweifelhaft von einer Behinderung mit einem Grad von wenigstens 50 auszugehen hatte. Insoweit fehlt es bereits an einem Beweisantritt für den – vom Arbeitgeberiln bestrittenen – Umstand, dass der Arbeitnehmer noch am 29.03.2018 halbseitig gelähmt war. Der Arbeitnehmer hat auch nicht vorgetragen, dass am 29.03.2018 zwangsläufig davon auszugehen gewesen wäre, dass die – unterstellte – halbseitige Lähmung infolge eines Schlaganfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern würde und dass dies unzweifelhaft für jede/n ersichtlich war. Der Umstand, dass der Arbeitnehmer zeitweise unter Betreuung stand, führt – entgegen der Rechtsauffassung des Arbeitnehmers, zu keiner anderen Beurteilung. Eine Betreuung im Sinne von § 1896 BGB setzt nicht das Vorliegen einer Schwerbehinderung voraus.

Nach alledem kommt es nicht darauf an, ob die Annahme des Landesarbeitsgerichts zutrifft, dass kein Erfahrungssatz des Inhalts besteht, dass Beeinträchtigungen, die unmittelbar oder ggf. anderthalb Monate nach dem Schlaganfall vorliegen und bei denen zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen ist wie lange sie andauern, mit hinreichender Sicherheit nicht durch Heilung oder Rehabilitationsmaßnahmen beseitigt, oder zumindest insoweit ausgeglichen werden können, dass eine Behinderung mit einem Grad von zumindest 30 verbleibt. Demzufolge kommt es – entgegen dem Vorbringen des Arbeitnehmers im Revisionsverfahren – auch weder darauf an, ob das Landesarbeitsgericht dem Arbeitnehmer insoweit einen Hinweis hätte erteilen müssen, noch, ob sich aus einem Sachverständigengutachten zweifelsfrei ergeben hätte, dass bei anderthalbmonatigem Krankenhausaufenthalt von einer mittleren bis schweren Verlaufsform des Schlaganfalls auszugehen ist, die mindestens 12 bis 24 Monate bis zur Ausheilung benötigt.

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Es kann dahinstehen, ob der Arbeitgeberin verpflichtet gewesen wäre, vor Ausspruch der Kündigung vom 29.03.2018 ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen. Ein etwaiger Verstoß des Arbeitgeberiln gegen diese Bestimmung hätte nicht die Vermutung begründen können, dass der Arbeitnehmer wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt wurde. Der Arbeitnehmer hatte den Arbeitgeberiln vor Ausspruch der Kündigung nämlich nicht über eine bestehende festgestellte oder offenkundige Schwerbehinderung informiert.

Nach § 167 Abs. 1 SGB IX, der ebenfalls zu den Bestimmungen gehört, die Verfahrens- bzw. Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter bzw. denen gleichgestellter Menschen enthalten, schaltet der Arbeitgeber bei Eintreten von personen, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung und die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen sowie das Integrationsamt ein, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeits- oder sonstige Beschäftigungsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann. Das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX, das wie auch § 168 SGB IX zum Teil 3 des SGB IX gehört, findet nach § 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX ausschließlich auf schwerbehinderte Menschen und ihnen nach § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellte behinderte Menschen Anwendung.

Es kann vorliegend offenbleiben, ob der Arbeitgeberin gegen § 167 Abs. 1 SGB IX verstoßen hat. Ein etwaiger Verstoß des Arbeitgeberiln gegen diese Bestimmung hätte nicht die Vermutung begründen können, dass der Arbeitnehmer wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt wurde. Der Arbeitnehmer hatte den Arbeitgeberiln vor Ausspruch der Kündigung vom 29.03.2018 nicht über eine festgestellte oder offenkundige bzw. offensichtliche Schwerbehinderung informiert.

Der „objektive“ Verstoß des Arbeitgebers gegen Bestimmungen, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, kann die Vermutung der Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung bzw. der Eigenschaft als gleichgestellter behinderter Mensch regelmäßig nur begründen, wenn dem Arbeitgeber die Schwerbehinderung bzw. die Gleichstellung der betreffenden Person bekannt war oder er diese kennen musste. Ist dies nicht der Fall, kann weder die Schwerbehinderung noch die Gleichstellung „Bestandteil eines Motivbündels“ gewesen sein, das die Entscheidung des Arbeitgebers (mit)beeinflusst hat12. Deshalb müssen Beschäftigte, die ihre Eigenschaft als schwerbehinderte oder diesen gleichgestellte Menschen im Arbeitsverhältnis berücksichtigt wissen wollen, den Arbeitgeber über die vorhandene Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung rechtzeitig in Kenntnis setzen, soweit der Arbeitgeber nicht ausnahmsweise bereits über diese Information verfügt. Andernfalls fehlt es an der (Mit-)Ursächlichkeit der Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung für die Benachteiligung13.

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Der Arbeitnehmer hatte den Arbeitgeberiln vor Ausspruch der Kündigung vom 29.03.2018 indes weder über eine festgestellte noch über eine offenkundige bzw. offensichtliche Schwerbehinderung informiert. Der Arbeitnehmer war im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung des Arbeitgeberiln vom 29.03.2018 nicht als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Die Feststellung der Schwerbehinderung wurde erst für die Zeit ab dem 17.10.2018 getroffen. Der Arbeitnehmer hat zudem – wie unter Rn. 40 ausgeführt – auch nicht dargetan bzw. unter Beweis gestellt, dass im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung vom 29.03.2018 von einer „offensichtlichen“ bzw. „offenkundigen“ Schwerbehinderung auszugehen war.

Ebenfalls dahinstehen kann, ob der Arbeitgeberin verpflichtet gewesen wäre, vor Ausspruch der Kündigung vom 29.03.2018 ein betriebliches Eingliederungsmanagement nach § 167 Abs. 2 SGB IX durchzuführen. Ein etwaiger Verstoß des Arbeitgeberiln gegen diese Bestimmung hätte gleichfalls nicht die Vermutung begründen können, dass der Arbeitnehmer wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt wurde.

Nach § 167 Abs. 2 SGB IX klärt der Arbeitgeber zwar in dem Fall, dass Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind, mit der zuständigen Interessenvertretung iSd. § 176 SGB IX, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person, die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement). Bei § 167 Abs. 2 SGB IX handelt es sich allerdings nicht um eine Vorschrift, die die Vermutung begründen könnte, dass eine Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung erfolgte. § 167 Abs. 2 SGB IX bestimmt keine Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen, die Bestimmung findet vielmehr ausdrücklich auf „Beschäftigte“ Anwendung, somit auf alle Beschäftigten unabhängig von dem Vorliegen einer (Schwer)Behinderung.

Auch die sonstigen vom Arbeitnehmer angeführten Umstände begründen nicht die Vermutung im Sinne von § 22 AGG, dass der Arbeitnehmer wegen der (Schwer)Behinderung bzw. einer Gleichstellung benachteiligt wurde. Insoweit fehlt es an einem schlüssigen Vortrag von Indizien iSd. § 22 AGG. Insbesondere kann allein der Umstand, dass beim Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung ggf. eine Behinderung vorgelegen hat, nicht die Vermutung begründen, dass die Behinderung mitursächlich für die Kündigung war. Etwas anderes folgt nicht aus der zeitlichen Nähe der – unterstellten – halbseitigen Lähmung infolge eines Schlaganfalls zur Kündigung vom 29.03.2018 sowie aus den weiteren zeitlichen Abläufen. Dies gilt insbesondere, soweit der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit der Kündigung vom 29.03.2018 von einer „weiteren Kündigung vom 29.03.2018“ sowie einem „Festhalten“ an der zunächst zugegangenen Kündigung ausgeht und der Auffassung ist, der Arbeitgeberin habe mit dem zweiten Kündigungsschreiben vom 29.03.2018 nicht lediglich einen Schreibfehler korrigiert, sondern sich in Kenntnis einer – aus Sicht des Arbeitnehmers – offenkundig gegebenen Schwerbehinderung, zu einer erneuten Kündigungserklärung entschlossen. Nichts an diesem Vortrag zeigt den erforderlichen Kausalzusammenhang im Sinne von § 22 AGG auf.

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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 2. Juni 2022 – 8 AZR 191/21

  1. LAG Sachsen-Anhalt 26.01.2021 – 6 Sa 29719[]
  2. st. Rspr., vgl. etwa BAG 25.11.2021 – 8 AZR 313/20, Rn. 22[]
  3. vgl. etwa BAG 1.07.2021 – 8 AZR 297/20, Rn. 18; 23.11.2017 – 8 AZR 372/16, Rn.20 mwN[]
  4. BAG 25.11.2021 – 8 AZR 313/20, Rn. 24; 25.10.2018 – 8 AZR 501/14, Rn. 51, BAGE 164, 117[]
  5. BAG 1.07.2021 – 8 AZR 297/20, Rn.20; 17.12.2020 – 8 AZR 171/20, Rn. 26 mwN, BAGE 173, 288[]
  6. vgl. etwa BAG 25.11.2021 – 8 AZR 313/20, Rn. 26; 27.08.2020 – 8 AZR 45/19, Rn. 29, BAGE 172, 78; 23.01.2020 – 8 AZR 484/18, Rn. 37, BAGE 169, 302; 16.05.2019 – 8 AZR 315/18, Rn. 22 mwN, BAGE 167, 1; 11.08.2016 – 8 AZR 375/15, Rn. 25, BAGE 156, 107; 22.10.2015 – 8 AZR 384/14, Rn. 35; 26.06.2014 – 8 AZR 547/13, Rn. 45 mwN[]
  7. BVerwG 12.07.2012 – 5 C 16/11, Rn.20 mwN, BVerwGE 143, 325[]
  8. vgl. BAG 22.01.2020 – 7 ABR 18/18, Rn. 33 mwN, BAGE 169, 267; vgl. im Einzelnen Düwell in LPK-SGB IX 6. Aufl. § 168 Rn. 8 und § 173 Rn. 36 ff.[]
  9. vgl. zu den Hintergründen Düwell aaO § 173 Rn. 36[]
  10. vgl. BVerwG 12.07.2012 – 5 C 16/11, Rn. 25, BVerwGE 143, 325; BAG 9.06.2011 – 2 AZR 703/09, Rn. 25; 13.02.2008 – 2 AZR 864/06, Rn. 17, BAGE 125, 345; 24.11.2005 – 2 AZR 514/04, Rn. 30 ff.[]
  11. BAG 13.10.2011 – 8 AZR 608/10, Rn. 42[]
  12. zum Motivbündel vgl. BAG 18.09.2014 – 8 AZR 753/13, Rn. 22[]
  13. für Bewerber/innen: vgl. etwa BAG 17.12.2020 – 8 AZR 171/20, Rn. 33, BAGE 173, 288; 22.10.2015 – 8 AZR 384/14, Rn. 30; 18.11.2008 – 9 AZR 643/07, Rn. 24[]