Sektorspezifische Tätigkeitsverbote und Karenzzeiten in der Energiewirtschaft

Die für die zweite Führungsebene bestehenden Karenzzeitenregelungen in § 10c Abs. 6 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 und Abs. 5 EnWG verstoßen nach Ansicht des Bundesgerichtshofs nicht gegen höherrangiges Recht.

Sektorspezifische Tätigkeitsverbote und Karenzzeiten in der Energiewirtschaft

§ 10c Abs. 6 EnWG erfasst diejenigen Führungskräfte der zweiten Führungsebene, die umfangreiche Kenntnisse über die technischen Eigenschaften des Transportnetzes und seinen Zustand haben müssen und die unternehmerischen Entscheidungen der obersten Unternehmensleitung in Bezug auf Betrieb, Wartung und Entwicklung des Netzes maßgeblich beeinflussen können.

Kein Verstoß gegen europäisches Unionsrecht[↑]

Die Karenzzeitenregelungen des § 10c Abs. 6 i.V.m. Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 EnWG verstoßen nicht gegen höherrangiges Recht.

Es spricht einiges dafür, dass die Vorschriften an der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu messen sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union finden die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung1. Dies betrifft zum einen Fälle, in denen Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht, vor allem Verordnungen und Richtlinien, umsetzen oder durch allgemeine Rechtsakte oder Einzelakte durchführen2, und zum anderen Fälle, in denen Mitgliedstaaten Grundfreiheiten auf Grund geschriebener oder ungeschriebener Schrankenvorbehalte im Gemeinschaftsrecht durch nationales Recht einschränken3. Hier dürfte die erste Fallgruppe einschlägig sein. Nach der Gesetzesbegründung zu § 10c EnWG dient die Vorschrift der Umsetzung von Art.19 der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.07.2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG (im Folgenden: Stromrichtlinie oder StromRL) und von Art.19 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.07.2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (im Folgenden: Gasrichtlinie oder GasRL). Dabei wird in den Materialien betont, dass die Richtlinie „keinen Gestaltungsspielraum zulässt“4 oder „ein Gestaltungsspielraum für den deutschen Gesetzgeber (nicht) erkennbar“ sei5. Infolgedessen entsprechen § 10c Abs. 6 i.V.m. Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 EnWG nahezu wortgleich Art.19 Abs. 8 Satz 3, Abs. 3 und 7 GasRL.

Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich nichts anderes. Danach kommen die Unionsgrundrechte jedenfalls dann zur Anwendung, wenn – wie hier anzunehmen – keine Umsetzungsspielräume verbleiben oder es um eine Systementscheidung geht6.

der Richtlinien und ihre Umsetzung in § 10c EnWG verstoßen nicht gegen die Berufsfreiheit, die unternehmerische Freiheit und das Eigentumsrecht nach Art. 15 bis 17 der Charta. Zwar ist deren Schutzbereich berührt oder kann – insbesondere im Hinblick auf das Eigentumsrecht – als berührt unterstellt werden. Nach der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofes können aber weder das Eigentumsrecht noch die freie Berufsausübung oder die unternehmerische Freiheit uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden7.

Nach dieser Rechtsprechung, die nunmehr in Art. 52 Abs. 1 der Charta normiert worden ist, können folglich die Ausübung des Eigentumsrechts und der unternehmerischen Freiheit sowie die freie Berufsausübung Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet8. Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta muss eine solche Einschränkung, damit sie zulässig ist, ferner gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Freiheiten und Rechte achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit darf sie außerdem nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich ist und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entspricht9. Dabei kommt den Gemeinschaftsorganen grundsätzlich ein weiter Ermessens- und Prognosespielraum zu, dessen Weite der Unionsgerichtshof insbesondere im Rahmen wirtschaftspolitischer Maßnahmen besonders hervorhebt10. Die Rechtmäßigkeit einer in diesem Bereich erlassenen Maßnahme kann nur dann beeinträchtigt sein, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist11.

Nach diesen Maßgaben ist der mit § 10c Abs. 6 i.V.m. Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 EnWG verbundene Eingriff in den Schutzbereich der Berufsfreiheit, der unternehmerischen Freiheit und des Eigentumsrechts nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt.

Die Karenzzeitenregelungen sind Bestandteil des sogenannten ITO-Modells als einer der drei Entflechtungsoptionen des 3. EU-Liberalisierungspakets zur Vollendung des Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkts. Während die Kommission in ihren Richtlinien-Vorschlägen vom 19.09.200712 in Bezug auf die Transportnetzbetreiber für die Einführung der eigentumsrechtlichen Entflechtung („Ownership Unbundling“, OU) – also den Zwangsverkauf der Netze – votiert und das Modell des Unabhängigen Systembetreibers („Independent System Operator“, ISO) nur als zweitbeste Alternative angesehen hatte, hat als dritte Alternative das Modell eines Unabhängigen Transportnetzbetreibers („Independent Transmission Operator“, ITO) erst auf Initiative von acht Mitgliedstaaten unter Führung von Frankreich und Deutschland Eingang in die Richtlinien gefunden13. Hintergrund für die Überlegungen der Kommission zur Erforderlichkeit einer Entflechtung der Transportnetzbetreiber war der Befund, dass der durch die bisherigen Vorschriften und Maßnahmen vorgegebene Rahmen nicht ausgereicht hat, um das Ziel eines gut funktionierenden Binnenmarkts zu verwirklichen14. Dazu hat sie insbesondere auf ihre Mitteilung „Untersuchung der europäischen Gas- und Elektrizitätssektoren gemäß Art. 17 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 (Abschlussbericht)“ vom 10.01.2007 verwiesen. Diese Untersuchung hat ergeben, dass durch die vertikale Integration der Versorgungs- und Netztätigkeiten ein systemimmanenter Interessenkonflikt besteht, der zu einem Mangel an Investitionen und zu Diskriminierung geführt hat. Um diesen Interessenkonflikt aufzulösen und um Verzerrungen bei den Anreizen für Eigentümer und/oder Netzbetreiber durch die Interessen der verbundenen Versorgungsunternehmen zu vermeiden, hat es die Kommission für notwendig erachtet, die bisherige – unzureichende – Entflechtung weiter voranzutreiben, wobei sie die eigentumsrechtliche Entflechtung als wirksamstes Mittel angesehen hat15. Die in der Gas- und Stromrichtlinie vorgesehenen Entflechtungsmodelle sollen daher vor allem dem Zweck dienen, bei vertikal integrierten Unternehmen die Gefahr einer Diskriminierung in der Ausübung des Netzgeschäfts zu vermeiden und Anreize zu schaffen, ausreichend in die Netze zu investieren16.

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Kein Verstoß gegen Grundrechte[↑]

Vor diesem Hintergrund begegnen die Karenzzeitenregelungen keinen grundrechtlichen Bedenken.

Sie sind zur Erreichung der genannten Ziele geeignet und erforderlich. Die Vorschriften dienen der Gewährleistung eines diskriminierungsfreien Netzzugangs, der besseren Durchsetzung einer diskriminierungsfreien Tarifgestaltung, der Verhütung von Quersubventionierungen durch missbräuchlich überhöhte Netzentgelte, der Verhinderung einer Weitergabe vertraulicher Informationen im Konzern und der Unterbindung wettbewerbshemmender Investitionsentscheidungen gerade auch mit Blick auf den grenzüberschreitenden Handel im Binnenmarkt17. Aufgrund der Einbindung des Transportnetzbetreibers in den Verbund eines vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens ist zu besorgen, dass der Netzbetreiber seine Tätigkeit nicht auf eine möglichst effiziente Bereitstellung der Netzdienste im Sinne des § 21 Abs. 2 EnWG ausrichtet, sondern auf eine Beförderung der Interessen der Wettbewerbsbereiche des Energieversorgungsunternehmens18. Dies kann sich in offenen Netzzugangsdiskriminierungen zeigen, aber auch mittelbar in Form überhöhter Netzentgelte zur Quersubventionierung der Wettbewerbsbereiche und einem am Konzerninteresse ausgerichteten Ausbau der Netze.

Insbesondere im Hinblick auf die – in § 6 Abs. 1 Satz 1 EnWG ausdrücklich normierten – Entflechtungsziele eines transparenten und diskriminierungsfreien Netzbetriebs ist es erforderlich, die Karenzzeitenregelungen nicht nur auf die Geschäftsleitung, sondern auch auf die leitenden Mitarbeiter der zweiten Führungsebene zu erstrecken. Auch diese können wichtige Tätigkeiten im Hinblick auf einen diskriminierungsfreien Netzbetrieb ausüben, weil sie insoweit – anders als ein Sachbearbeiter – über einen hinreichend großen Überblick über die Netztätigkeit ihres Arbeitgebers und eine entsprechende Verantwortung verfügen. Die Gefahr einer Beförderung der Interessen des Energieversorgungsunternehmens besteht dabei nicht nur bei den Führungskräften der rein technischnetzbezogenen Fachabteilungen, sondern auch bei denjenigen, die einen maßgeblichen Einfluss auf die unternehmerischen Entscheidungen ausüben.

Der Erforderlichkeit der Karenzzeitenregelungen steht nicht entgegen, dass diese durch die übrigen Maßnahmen zur Gewährleistung von Transparenz und diskriminierungsfreier Ausgestaltung und Abwicklung des Netzbetriebs und damit zur Sicherstellung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs bei der Versorgung mit Gas und Strom entbehrlich sind.

Das ITO-Modell als dritte Möglichkeit einer Entflechtung umfasst zwar insgesamt ein ganzes Bündel an Maßnahmen zur Erreichung der genannten Ziele. Dazu gehören neben den besonderen Entflechtungsvorgaben für Transportnetzbetreiber nach §§ 8 ff. EnWG die Zertifizierungspflicht nach § 4a EnWG, die Vorschriften über die Vertraulichkeit wirtschaftlich sensibler Informationen und die Verpflichtung zur diskriminierungsfreien Verwendung dieser Informationen nach § 6a EnWG, die Verpflichtungen zur diskriminierungsfreien Gewährung von Netzanschluss (§ 17 EnWG) und Netzzugang (§ 20 EnWG) sowie die Vorschriften über – angemessene, diskriminierungsfreie und transparente – Bedingungen und Entgelte für den Netzzugang (§ 21 EnWG). Diese Maßnahmen werden flankiert durch die Bestellung eines Gleichbehandlungsbeauftragten beim Unabhängigen Transportnetzbetreiber (§ 10e Abs. 2 EnWG), die staatliche Entgeltregulierung (§ 21a EnWG), ein ausdrückliches Missbrauchs- und Diskriminierungsverbot nebst entsprechenden Missbrauchsverfahren (§§ 30, 31 EnWG) und umfangreiche behördliche Eingriffsbefugnisse (§ 65 EnWG).

Dessen ungeachtet haben aber der europäische Richtliniengeber wie auch der nationale Gesetzgeber den Karenzzeitenregelungen eine besondere Bedeutung für die Unabhängigkeit des Fernleitungsnetzbetreibers beigemessen19. Insoweit ist es konsequent, dass die Verpflichtung zur Vertraulichkeit wirtschaftlich sensibler Informationen und zu ihrer diskriminierungsfreien Verwendung nicht nur den Unabhängigen Transportnetzbetreiber und das vertikal integrierte Energieversorgungsunternehmen selbst trifft, sondern – um die Effektivität des ITO-Modells zu gewährleisten – auch auf die Führungskräfte erstreckt wird. Denn gerade den Karriere- und Wechselmöglichkeiten innerhalb des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens wohnt ein nicht unerhebliches Diskriminierungspotential inne. Da eine natürliche Person ihr vorhandenes Wissen schlechterdings nicht „verschließen“ kann, kann der Gefahr einer Diskriminierung durch einen Wissenstransfer nur durch nachlaufende Karenzzeiten begegnet werden. Entsprechendes gilt für die vorlaufenden Karenzzeiten im Hinblick auf die Gefahr einer Bevorzugung des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens und einer Ausrichtung der zu fällenden unternehmerischen Entscheidungen an dessen Interessen.

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Die sektorspezifischen Tätigkeitsverbote sind schließlich auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Die Karenzzeitenregelungen dienen dem gewichtigen öffentlichen Interesse der Union und ihrer Mitgliedstaaten an einem funktionierenden, wettbewerblichen Energiemarkt, der ein hohes Rechtsgut verkörpert. Die Sperrfristenregeln gelten nur innerhalb des vertikal integrierten Unternehmens. Sie schließen eine Tätigkeit bei einem anderen Netzbetreiber oder auch in einem netzfremden Tochterunternehmen innerhalb des (vertikal integrierten) Unternehmensverbunds, wenn es sich etwa um ein Mehrspartenunternehmen handelt, nicht aus. Die verbleibenden Nachteile der Führungskräfte bei ihrem beruflichen Fortkommen innerhalb des vertikal integrierten Unternehmens und die Erschwerungen bei der Personal- und Nachwuchsplanung des Unternehmens treten dagegen hinter die mit den Karenzzeitenregelungen verbundenen Ziele zurück.

Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die in der Gas- und Stromrichtlinie vorgesehenen Entflechtungsmaßnahmen die Reaktion des europäischen Richtlinien- und nationalen Gesetzgebers auf eine bis dahin von der Kommission als unzureichend festgestellte Entflechtung der Transportnetzbetreiber mit der damit verbundenen Gefahr der Diskriminierung in der Ausübung des Netzgeschäfts und fehlender Anreize zur Investition in das Netz darstellten. Gegen diese Einschätzung ist aufgrund des dem Richtliniengebers zukommenden weiten Ermessens- und Prognosespielraums nichts zu erinnern; hiergegen bringt auch die Rechtsbeschwerde nichts vor. Das Modell des Unabhängigen Transportnetzbetreibers ist zudem – im Vergleich zu den beiden anderen Modellen – für das vertikal integrierte Unternehmen mit den geringsten Eingriffen verbunden. Für die Geschäftsleitung und die Führungskräfte der zweiten Führungsebene stellt sich die Rechtslage nicht schlechter dar als bei dem Modell einer eigentumsrechtlichen Entflechtung.

Auch die Länge der Karenzzeitenregelungen ist nicht zu beanstanden. Auch insoweit kommt dem europäischen Richtlinien- und nationalen Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Der nationale Gesetzgeber ist in § 10c Abs. 5 EnWG über die in Art.19 Abs. 7 GasRL vorgesehen Mindestfrist von vier Jahren nicht hinausgegangen. Die Dauer der Fristen von drei bzw. vier Jahren begegnet keinen Bedenken. Sie sind geeignet und erforderlich, das erhebliche Diskriminierungspotential im Rahmen des Netzbetriebs zu minimieren. Vor diesem Hintergrund gehen die Hinweise der Rechtsbeschwerden der Antragstellerin und der Führungskraft auf die Regelung für Handelsvertreter nach §§ 74 ff. HGB, die nur ein zweijähriges Tätigkeitsverbot und zudem nur gegen eine Karenzentschädigung zulassen20, oder auf die aktienrechtliche Vorschrift des § 100 Abs. 2 Nr. 4 AktG für den Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat ins Leere. Diese Regelungen betreffen (lediglich) den bilateralen Interessenkonflikt zwischen Prinzipal und Agent bzw. die – ebenfalls wichtige – Frage einer guten Unternehmensführung („Corporate Governance“); sie dienen indes nicht dem gewichtigen öffentlichen Interesse an einem diskriminierungsfreien Netzbetrieb und einem wirksamen Wettbewerb auf dem Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarkt. Im Hinblick darauf sprechen diese – wenn überhaupt – sogar eher dafür, dass die Karenzzeitenregelungen deutlich über diejenigen nach §§ 74 ff. HGB bzw. § 100 Abs. 2 Nr. 4 AktG hinausgehen dürfen.

Auch für den Einwand einer Verletzung der Grundrechte der Führungskräfte aus Art. 12 und 14 GG ergibt sich nichts anderes. Deren Schutzbereich stimmt mit demjenigen der Art. 15 bis 17 der Charta überein und kann hier ebenfalls als berührt angesehen werden. Der Eingriff ist indes aus den vorstehenden Gründen gerechtfertigt.

Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf das Grundrecht auf freie Berufsausübung der Führungskraft. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Freiheit der Berufswahl der Führungskraft Führungskraft – hier in der Form des Berufswechsels – betroffen oder lediglich ein Eingriff in ihre Freiheit der Berufsausübung gegeben ist, weil eine – zeitlich verzögerte oder praktisch verhinderte – Beförderung auf eine andere Position innerhalb des vertikal integrierten Unternehmens nicht als eigenständiger Beruf anzusehen wäre. Selbst dann, wenn hier die strengeren Maßstäbe, die an eine Zulassungsbeschränkung bei der Wahl eines Zweitberufs zu stellen sind21, Anwendung finden sollten, begegnen die Karenzzeitenregelungen des § 10c EnWG keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Regelungen, die die Aufnahme der Berufstätigkeit von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängig machen, sind nur gerechtfertigt, soweit sie zum Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter zwingend erforderlich sind, d.h. soweit der Schutz von Gütern in Frage steht, denen bei sorgfältiger Abwägung der Vorrang vor dem Freiheitsanspruch des einzelnen eingeräumt werden muss, und soweit dieser Schutz nicht auf andere Weise, nämlich mit Mitteln, die die Berufswahl nicht oder weniger einschränken, gesichert werden kann22. Dies ist hier der Fall.

Die Karenzzeitenregelungen dienen dem gewichtigen öffentlichen Interesse an einem diskriminierungsfreien Netzbetrieb und der Sicherstellung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs bei der Versorgung mit Elektrizität und Gas und der Sicherung eines langfristig angelegten leistungsfähigen und zuverlässigen Betriebs von Energieversorgungsnetzen. Dahinter müssen die Interessen der Betroffenen an einem in zeitlicher Hinsicht unbeschränkten beruflichen Fortkommen zurückstehen, zumal es ihnen unbenommen bleibt, eine solche Position außerhalb des vertikal integrierten Unternehmens oder – bei einem Mehrspartenunternehmen – auch innerhalb des vertikal integrierten Unternehmens zu erlangen.

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Es ist auch nicht erkennbar, dass die Karenzzeitenregelungen im Hinblick auf Anwendungsbereich und Dauer durch ein milderes, aber gleich geeignetes Mittel ersetzt werden könnten. Die Sperrfristen sollen die Unabhängigkeit des Transportnetzbetreibers auf personeller Ebene gewährleisten, indem ein „Wissenstransfer“ innerhalb des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens unterbunden wird. Dazu bedarf es einer gewissen Anzahl von Jahren. Die Dauer der Karenzzeiten von drei und vier Jahren ist nicht unverhältnismäßig lang; sie liegt unterhalb der Dauer einer Regulierungsperiode von fünf Jahren (§ 3 Abs. 2 ARegV). Zur Vermeidung des für den Wettbewerb besonders gefährlichen „Wissenstransfers“ aus dem Transportnetzbetreiber heraus ist es auch gerechtfertigt, dass die Karenzzeit für ausscheidende Führungskräfte vier Jahre (§ 10 Abs. 5 EnWG) und für eintretende Führungskräfte (nur) drei Jahre beträgt (§ 10 Abs. 2 Satz 1 EnWG).

Schließlich ist auch der Gleichheitssatz aus Art.20 der Charta oder Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt.

Im Hinblick darauf, dass die Kommission in ihrer Untersuchung der europäischen Gas- und Elektrizitätssektoren bei vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmen einen systemimmanenten Interessenkonflikt festgestellt hat, der zu einem Mangel an Investitionen und zu Diskriminierung geführt hat, ist es sachgerecht, die Karenzzeitenregelungen auf berufliche Wechsel innerhalb des Unternehmensverbunds, aber nicht zu Drittunternehmen zu beschränken. Eine mögliche Ungleichbehandlung mit Führungskräften von Unternehmen, die sich einer der beiden anderen Entflechtungsvarianten unterworfen haben, wäre ebenfalls gerechtfertigt, weil mit den Sperrfristen die – nach der Einschätzung des Richtliniengebers – für die Zielerreichung an sich unvollkommenen Maßnahmen des Modells des Unabhängigen Transportnetzbetreibers aufgewogen werden sollen, um die Effektivität dieses Modells sicherzustellen23. Davon abgesehen enthalten auch die beiden anderen Entflechtungsvarianten mit § 8 Abs. 2, § 9 Abs. 2 Satz 1 EnWG Vorschriften, die die persönliche Unabhängigkeit der handelnden Führungspersonen gewährleisten sollen. Die unterschiedliche Behandlung von Geschäftsleitern und Führungskräften der zweiten Führungsebene einerseits und den übrigen Mitarbeitern des Transportnetzbetreibers andererseits ist bereits mangels vergleichbaren Kenntnisstands und mangels vergleichbarer Einflussmöglichkeiten auf die Entscheidungen des Unternehmens sachgerecht. Schließlich ist es auch sachgerecht, dass die Karenzzeitenregelungen uneingeschränkt nur für Transportnetzbetreiber gelten; dies beruht darauf, dass nach der Einschätzung des europäischen Richtliniengebers das Diskriminierungspotential vor allem auf der Ebene der Fernleitungsnetze und weniger auf der Verteilerebene besteht24.

Sachlicher Anwendungsbereich des § 10c Abs. 6 EnWG[↑]

Von § 10c Abs. 6 EnWG werden nicht nur die Leiter derjenigen Abteilungen erfasst, die sich lediglich in technischer Hinsicht mit Betrieb, Wartung und Entwicklung des Netzes befassen, sondern auch die Führungskräfte der zweiten Führungsebene, die umfangreiche Kenntnisse über die technischen Eigenschaften des Transportnetzes und seinen Zustand haben müssen und die unternehmerischen Entscheidungen der obersten Unternehmensleitung maßgeblich beeinflussen können.

Entgegen der Auffassung der Bundesnetzagentur ist § 10c Abs. 6 EnWG nicht dahin auszulegen, dass im Zweifel alle leitenden Mitarbeiter der zweiten Führungsebene erfasst sind, sofern der Netzbetreiber nichts Anderweitiges nachweist. Eine solche Zweifelsregelung widerspricht dem Charakter dieser Vorschrift als – grundrechtsrelevanter – Eingriffsnorm, die nur bei Vorliegen der in ihr positiv umschriebenen Tatbestandsmerkmale anwendbar ist.

Insoweit hat der Netzbetreiber allerdings im Rahmen der ihm obliegenden Mitwirkungspflichten nach § 69 EnWG unter anderem das Organisationsschema und eine detaillierte Arbeitsplatzbeschreibung der fraglichen Führungsstellen vorzulegen. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit kann die Regulierungsbehörde von den Ermittlungsmaßnahmen nach § 68 EnWG Gebrauch machen.

Unter dem Begriff „Betrieb“ ist nicht der (gesamte) Netzbetrieb an sich zu verstehen, weil ansonsten die weiteren Tatbestandsmerkmale der Wartung und Entwicklung des Netzes ohne eigenständige Bedeutung wären. Ausgangspunkt der Auslegung einer Norm ist ihr Wortlaut. Hätte der Gesetzgeber in § 10c Abs. 6 EnWG alle Leiter der zweiten Führungsebene erfassen wollen, hätte es genügt, das Eingreifen der Vorschrift lediglich davon abhängig zu machen, dass die betreffenden Mitarbeiter „unmittelbar“ der obersten Führungsebene unterstellt sind. Der Dreiklang aus Betrieb, Wartung und Entwicklung spricht dafür, dass (nur) diejenigen Bereichsleiter erfasst werden, die aufgrund des Aufgabenzuschnitts ihrer Fachbereiche oder Abteilungen maßgeblichen Einfluss auf die unternehmerischen Entscheidungen zu den technischen Eigenschaften des Transportnetzes, seinem Zustand und seiner Fortentwicklung haben und dazu umfangreiche diskriminierungsrelevante Kenntnisse darüber haben müssen.

Diese Tatbestandsvoraussetzungen dürfen nicht dahin verengt werden, dass nur die Fachbereiche erfasst werden, die rein technische, netzbezogene Aufgaben zu erfüllen haben. § 10c Abs. 6 EnWG nimmt zwar mit den Begriffen des Betriebs, der Wartung und der Entwicklung des Netzes auf die in Art. 17 Abs. 2 Buchst. e StromRL/GasRL genannten Kernaufgaben des Transportnetzbetreibers Bezug, ohne aber den Anwendungsbereich darauf einzuschränken. Insoweit hat die Aufzählung in Art. 17 Abs. 2 StromRL/GasRL keine abgrenzende, sondern lediglich eine konkretisierende Funktion. Auch bei den übrigen in dieser Regelung genannten Bereichen handelt es sich um Kernaufgaben des Transportnetzbetreibers, wie etwa bei der Investitionsplanung und der Netzplanungskompetenz25, aber auch bei anderen unternehmensspezifischen Einrichtungen, wie unter anderem Rechtsabteilung, Buchhaltung und IT-Diensten. Dies zeigt sich vor allem daran, dass für sie aufgrund ihrer Bedeutung für den Netzbetrieb und des Umfangs der gespeicherten unternehmensinternen, wirtschaftlich sensiblen Daten noch weitere Entflechtungsmaßnahmen vorgesehen sind (vgl. nur Art. 17 Abs. 5 StromRL/GasRL, § 10c Abs. 5 EnWG für IT-Abteilung, Art. 17 Abs. 6 StromRL/GasRL, § 10 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, § 10a Abs. 7 EnWG für Rechnungswesen).

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Dieses Verständnis wird durch Art.19 Abs. 8 StromRL/GasRL belegt, wonach die der obersten Unternehmensleitung unmittelbar unterstellten Personen mit dem Betrieb, der Wartung oder der Entwicklung des Netzes „befasst“ sein müssen. Es genügt eine für die Aufgabenerfüllung der entsprechenden Fachabteilung notwendige Kenntnis der technischen Eigenschaften des Transportnetzes und seines Zustands, verbunden mit einer maßgeblichen Einflussmöglichkeit auf die Entscheidungen der Unternehmensführung, ohne dass damit zugleich verlangt wird, dass der Fachbereich die technischen Aufgaben selbst ausführt. Soweit in den Materialien zu § 10c Abs. 6 EnWG als Beispiel für die betroffenen Personen der zweiten Führungsebene der Hauptbereichsleiter Netz genannt wird26, ist dies zwar zutreffend, vermag aber im Hinblick auf den (weiten) Wortlaut dieser Norm wie auch des Art.19 Abs. 8 StromRL/GasRL keinen engeren Anwendungsbereich zu begründen.

Insoweit ist im Rahmen der systematischen Auslegung zu berücksichtigen, dass alle drei Entflechtungsmodelle die bestehenden Interessenkonflikte zwischen Erzeugern, Lieferanten und Fernleitungsnetzbetreibern wirksam, d.h. (gleich) effektiv beseitigen wollen27. Die Entflechtungsmodelle sollen lediglich auf unterschiedlichen konstruktiven Wegen eine effektive Trennung der Sparten Erzeugung/Versorgung und der Transportnetze bewirken. Aufgrund der fehlenden eigentumsrechtlichen Entflechtung muss die Effektivität des ITO-Modells durch besondere zusätzliche Vorschriften sichergestellt werden23. Dies erfordert die Durchtrennung unerwünschter Wissens- und Informationsschnittstellen und sogenannter weicher Faktoren wie der bewussten oder unbewussten Verbesserung der persönlichen Karrierechancen derjenigen Führungskräfte, die umfangreiche Kenntnisse über die technischen Eigenschaften des Transportnetzes und seinen Zustand haben müssen und erheblichen Einfluss auf die unternehmerischen Entscheidungen in Bezug auf Betrieb, Wartung und Entwicklung des Netzes haben. Dazu gehören neben der Geschäftsleitung jedenfalls auch die Leiter der zweiten Führungsebene, soweit sie für Kerntätigkeiten des Unabhängigen Transportnetzbetreibers zuständig sind.

Die Vorschrift des § 10d Abs. 3 EnWG spricht nicht für eine engere Auslegung des § 10c Abs. 6 EnWG. Nach dieser Vorschrift sind die Karenzzeitenregelungen nur für weniger als die Hälfte der Mitglieder des Aufsichtsrates anwendbar. Daraus lässt sich indes wegen des unterschiedlichen Regelungszwecks für eine Auslegung des § 10c Abs. 6 EnWG nichts gewinnen. Die Vorschriften der §§ 10c, 10d EnWG unterscheiden zwar zwischen dem Aufsichtsrat, der Unternehmensleitung, der zweiten Führungsebene und den übrigen Mitarbeitern des Unabhängigen Transportnetzbetreibers. Diese Regelungen sind aber nicht allein mit einer verhältnismäßigen Abstufung der Entflechtungsintensität zu erklären, sondern tragen dem komplexen Interessengeflecht zwischen dem Unternehmensverbund und der rechtlichen sowie faktischen Unabhängigkeit des Netzbetriebs Rechnung. Dabei hat der Aufsichtsrat eine Sonderstellung, weil er nicht nur Kontrollorgan der Geschäftsleitung ist, sondern über ihn die Anteilseigner – d.h. die Muttergesellschaft des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens – ihre eigenen Unternehmensinteressen einfließen lassen dürfen. Demgegenüber müssen sich die Vorgaben für die personelle Unabhängigkeit des für das operative Tagesgeschäft zuständigen Managements des Unabhängigen Transportnetzbetreibers allein an den Entflechtungszielen eines transparenten und diskriminierungsfreien Netzbetriebs orientieren. Aufgrund dessen können die in § 10d Abs. 3 EnWG geschützten Anteilseignerinteressen für die Interpretation des § 10c Abs. 6 EnWG nicht maßgeblich sein28.

Die Materialien bestätigen dieses Auslegungsergebnis. Danach sollen die Führungskräfte erfasst werden, „die zwar nicht der Unternehmensleitung angehören, also keine Vertretungsbefugnis für den Unabhängigen Transportnetzbetreiber haben, aber eine sonst vergleichbare Stellung“26. Dies wird dahingehend näher präzisiert, dass „dieser Personenkreis … ebenfalls erheblichen Einfluss und umfangreiche Kenntnisse der technischen Eigenschaften des Transportnetzes und seines Zustandes“ hat26. Das entspricht der in den Gesetzesmaterialien in Bezug genommenen Vorstellung des europäischen Richtliniengebers, wonach eine wirksame Entflechtung mittels der Vorschriften für die unabhängigen Fernleitungsnetzbetreiber vor allem auf den Pfeiler der Maßnahmen zur Organisation und Verwaltung der Fernleitungsnetzbetreiber gestützt werden soll29. Nach diesen Erwägungsgründen soll die Unabhängigkeit des Fernleitungsbetreibers insbesondere durch die Karenzzeiten sichergestellt werden, in denen in dem vertikal integrierten Unternehmen keine Leitungsfunktion ausgeübt wird oder keine sonstige wichtige Funktion wahrgenommen wird, die Zugang zu den gleichen Informationen wie eine leitende Position eröffnen. Dies bedeutet, dass es für die Anwendbarkeit des § 10c Abs. 6 EnWG nicht darauf ankommt, ob die betreffende Führungskraft eine netzbezogene, technische Abteilung leitet, sondern vor allem darauf, ob sie – innerhalb der zweiten Führungsebene – umfangreiche Kenntnisse der technischen Eigenschaften des Transportnetzes und seines Zustandes haben muss und erheblichen Einfluss auf die netzbezogenen Entscheidungen der Geschäftsleitung hat.

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Schließlich sprechen auch Sinn und Zweck des § 10c EnWG für dieses Normverständnis.

Die Vorschrift regelt die personelle Trennung der Unternehmensleitung und der weiteren Führungskräfte des Unabhängigen Transportnetzbetreibers von der Muttergesellschaft des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens, deren Tochtergesellschaften und Mehrheitsanteilseignern, um damit deren berufliche Unabhängigkeit zu gewährleisten23. Durch die Sicherung der beruflichen Handlungsunabhängigkeit der Führungskräfte des Unabhängigen Transportnetzbetreibers sollen in Ergänzung zur formalen personellen Entflechtung Anreize unterbunden werden, zur Verbesserung der persönlichen Karrierechancen oder der persönlichen Vergütung Marktaktivitäten des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens gegenüber dessen Wettbewerbern zu bevorzugen30. Es soll der mit der von der Kommission als unzureichend festgestellten Entflechtung der Transportnetzbetreiber verbundenen Gefahr der Diskriminierung in der Ausübung des Netzgeschäfts und der Gefahr fehlender Anreize zur Investition in das Netz begegnet werden. Aufgrund der Einbindung des Transportnetzbetreibers in den Verbund eines vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens ist zu besorgen, dass der Netzbetreiber seine Tätigkeit nicht auf eine möglichst effiziente Bereitstellung der Netzdienste im Sinne des § 21 Abs. 2 EnWG ausrichtet, sondern auf eine Beförderung der Interessen der Wettbewerbsbereiche des Energieversorgungsunternehmens18. Dies kann sich in offenen Netzzugangsdiskriminierungen zeigen, aber auch mittelbar in Form überhöhter Netzentgelte zur Quersubventionierung der Wettbewerbsbereiche und einem am Konzerninteresse ausgerichteten Ausbau der Netze.

Diese Zielsetzung wird nicht nur durch eine bloß formale personelle Entflechtung der Führungskräfte des Unabhängigen Transportnetzbetreibers und des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens erreicht, sondern bedarf auch einer Durchtrennung unerwünschter Wissens- und Informationsschnittstellen und sogenannter weicher Faktoren wie der bewussten oder unbewussten Verbesserung der persönlichen Karrierewünsche der einzelnen Führungskräfte. Nur dann bestehen wirksame Anreize für das mit dem Netzbetrieb und allen damit zusammenhängenden Kerntätigkeiten betraute Personal des Unabhängigen Transportnetzbetreibers, damit dieses aus eigenem Antrieb einen transparenten und diskriminierungsfreien Netzbetrieb sicherstellt31.

§ 10c Abs. 6 EnWG soll die Gefahr der Diskriminierung in der Ausübung des Netzgeschäfts und der Gefahr fehlender Anreize zur Investition in das Netz begegnen. Im Verfahren der Entscheidungsfindung zielt die Vorschrift damit nicht nur auf deren abschließende Phase – das „Treffen“ der Entscheidung – und auch nicht nur auf das die Entscheidung „treffende“ Personal, sondern nimmt auch weitere Phasen der Entscheidungsvorbereitung und die insofern damit befassten Personen in den Blick. Erfasst werden damit unter anderem alle Vorbereitungshandlungen, mit denen sachlich auf die zu treffende Entscheidung Einfluss genommen wird oder Einfluss genommen werden kann32. Auch insoweit besteht die naheliegende Gefahr, dass die mit diesen Entscheidungen befasste Person den Interessen des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens im Zweifel den Vorzug gibt, schon weil sie dort ihre bisherige berufliche Laufbahn zurückgelegt hat – beruflich „groß geworden“ ist – und ihre künftige Laufbahn nicht in Frage stellen will33.

Aufgrund dessen ist es zur Zielerreichung folgerichtig, wenn von § 10c Abs. 6 EnWG nicht nur die Führungskräfte derjenigen Abteilungen erfasst werden, die sich lediglich in technischer Hinsicht mit Betrieb, Wartung und Entwicklung des Netzes befassen, sondern auch die Führungskräfte, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit über umfangreiche Kenntnisse der technischen Eigenschaften des Transportnetzes und seines Zustandes verfügen und innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs maßgeblichen Einfluss auf die unternehmerischen Entscheidungen der Geschäftsleitung des Transportnetzbetreibers ausüben.

Der Anwendungsbereich des § 10c Abs. 6 EnWG wird durch das weitere Tatbestandsmerkmal der Verantwortlichkeit lediglich in persönlicher Hinsicht, nicht in sachlicher Hinsicht eingeschränkt.

Nach den Materialien sollen mit diesem Kriterium die Führungskräfte erfasst werden, „die zwar nicht der Unternehmensleitung angehören, also keine Vertretungsbefugnis für den Unabhängigen Transportnetzbetreiber haben, aber eine sonst vergleichbare Stellung“26. Dabei handelt es sich jedenfalls um die Leiter der jeweiligen Fachabteilung, während zweifelhaft ist, ob auch ihre Stellvertreter, die durchaus über denselben Kenntnisstand bezüglich der technischen Eigenschaften des Transportnetzes verfügen können, erfasst werden.

Ob nach dem Wortlaut des Art.19 Abs. 8 StromRL/GasRL der von dieser Norm betroffene Personenkreis weiter gezogen werden könnte, bedarf keiner Entscheidung. Die jeweiligen Fachbereichsleiter werden augenscheinlich erfasst. Dies zeigt auch ein Blick in die englische und französische Fassung der Richtlinien. Die Formulierungen „… to those directly reporting to them on matters related to the operation, maintenance or development of the network“ bzw. „… celles qui leur rendent directement compte à propos de questions liées à l’exploitation, à la maintenance ou au développement du réseau“ legen nahe, dass zumindest die der Geschäftsleitung unmittelbar nachgeordneten Bereichsleiter von Art.19 Abs. 8 StromRL/GasRL erfasst sein sollen, weil diese eine unmittelbare und umfassende Berichtspflicht gegenüber der Geschäftsleitung haben.

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Der persönliche Anwendungsbereich des § 10c Abs. 6 EnWG ist damit im Hinblick auf die Führungskräfte der zweiten Führungsebene dahin eindeutig bestimmt, dass jedenfalls die jeweiligen Fachbereichsleiter von der Vorschrift erfasst werden. Der von der Rechtsbeschwerde der Antragstellerin und der Führungskraft gerügte Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz liegt nicht vor.

Schließlich bedarf es zur Frage des Kenntnisstands des jeweiligen Fachbereichsleiters keiner konkreten Feststellungen des Tatrichters im Einzelfall. Vielmehr stellen Gesetz und Richtlinien insoweit auf eine generalisierende Betrachtungsweise auf der Grundlage der konkreten Aufgabenbeschreibung innerhalb des Organisationsschemas des Transportnetzbetreibers ab. Die Karenzzeitenregelungen sollen die Effektivität des ITO-Modells sicherstellen und die im Hinblick auf die Ziele der Entflechtung bestehenden Schwächen dieses Modells insbesondere im Vergleich zu dem Modell der eigentumsrechtlichen Entflechtung ausgleichen23. Aufgrund dessen ist allein maßgeblich, welchen Aufgabenbereich der betreffende Leiter der zweiten Führungsebene hat und welche Kenntnisse über die technischen Eigenschaften des Transportnetzes und seines Zustands er zur Erfüllung seiner Aufgaben üblicherweise besitzen muss.

Dieses Auslegungsergebnis entspricht den oben dargestellten grundrechtlichen Vorgaben der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und des Grundgesetzes und bedarf im Hinblick darauf keiner Korrektur im Sinne einer unionsrechts- oder verfassungskonformen Auslegung. Der Anwendungsbereich des § 10c Abs. 6 EnWG ist in persönlicher Hinsicht durch die Beschränkung auf die Leiter der zweiten Führungsebene und in sachlicher Hinsicht durch die Merkmale des maßgeblichen Einflusses auf die netzbezogenen unternehmerischen Entscheidungen der Geschäftsleitung und der umfangreichen Kenntnisse der technischen Eigenschaften des Netzes und seines Zustands hinreichend bestimmt. Im Hinblick auf die mit den Karenzzeiten verbundene Zielsetzung der Sicherstellung der Effektivität des ITO-Modells, um für einen gerechten Wettbewerb, hinreichende Investitionen, den Zugang neuer Marktteilnehmer und die Integration der Strom- und Erdgasmärkte zu sorgen, sind die Karenzzeiten geeignet, erforderlich und verhältnismäßig.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26. Januar 2016 – EnVR 51/14

  1. vgl. EuGH, Urteil vom 26.02.2013 – C617/10, NJW 2013, 1415 Rn.19 mwN – Åkerberg Fransson; Urteil vom 30.04.2014 – C390/12, EuZW 2014, 597 Rn. 33 – Pfleger ua[]
  2. vgl. EuGH, Urteil vom 13.07.1989 – 5/88, Slg. 1989, 2609 Rn. 17 ff. – Wachauf[]
  3. vgl. EuGH, Urteil vom 18.06.1991 – C260/89, Slg. 1991, I2925 Rn. 41 ff. – ERT[]
  4. BT-Drs. 17/6072, S. 63 zu § 10c Abs. 2[]
  5. BT-Drs. 17/6072, S. 64 zu § 10c Abs. 5[]
  6. vgl. BVerfGE 118, 79, 95 ff. mwN[]
  7. vgl. nur EuGH, Urteil vom 13.12 1994 – C306/93, Slg. 1994, I5555 Rn. 22 = EuZW 1995, 109 – SMW Winzersekt[]
  8. vgl. EuGH, Slg. 1994, I5555 Rn. 22 = EuZW 1995, 109 – SMW Winzersekt[]
  9. vgl. EuGH, EuZW 2014, 597 Rn. 58 – Pfleger ua[]
  10. vgl. EuGH, Slg. 1994, I5555 Rn. 21 = EuZW 1995, 109 – SMW Winzersekt[]
  11. vgl. EuGH aaO[]
  12. KOM(2007) 528 endg. und KOM(2007) 529 endg.[]
  13. vgl. dazu Schmidt-Preuß, et 9/2009, 82 ff.; Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 59, BT-Drs. 17/7181, S. 111 f.[]
  14. Erwägungsgründe 5 und 7 GasRL, Erwägungsgründe 7 und 10 StromRL[]
  15. aaO; Erwägungsgrund 8 GasRL, Erwägungsgrund 11 StromRL[]
  16. Erwägungsgrund 6 GasRL, Erwägungsgrund 9 StromRL[]
  17. vgl. Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 49, BT-Drs. 16/7087, S. 161; Mohr, N&R 2015, 45, 47[]
  18. vgl. BVerwGE 137, 58 Rn. 44 [zu § 9a AEG]; Mohr, N&R 2015, 45, 46[][]
  19. vgl. Erwägungsgrund 16 GasRL, Erwägungsgrund 19 StromRL, BT-Drs. 17/6072, S. 64[]
  20. vgl. dazu BVerfGE 81, 242, 252 ff.[]
  21. vgl. dazu BVerfGE 21, 173, 181; 22, 275, 276[]
  22. vgl. nur BVerfGE 7, 377, 406 f.; 55, 185, 196[]
  23. vgl. Erwägungsgrund 16 GasRL, Erwägungsgrund 19 StromRL[][][][]
  24. vgl. Erwägungsgrund 25 GasRL, Erwägungsgrund 26 StromRL[]
  25. vgl. Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 59, BT-Drs. 17/7181, S. 112[]
  26. BT-Drs. 17/6072, S. 64[][][][]
  27. vgl. Erwägungsgrund 9 GasRL, Erwägungsgrund 12 StromRL[]
  28. vgl. Mohr, N&R 2015, 45, 47 f.[]
  29. Erwägungsgrund 16 GasRL, Erwägungsgrund 19 StromRL[]
  30. BerlKommEnR/Säcker/Mohr, 3. Aufl., EnWG § 10c Rn. 1[]
  31. Mohr, N&R 2015, 45, 46[]
  32. vgl. BVerwGE 137, 58 Rn. 38 zu § 9a AEG[]
  33. vgl. BVerwGE 137, 58 Rn. 44 zu § 9a AEG[]