Ablehnung von Prozesskostenhilfe in einem sozialgerichtlichen Verfahren

Das Grundgesetz gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Dies ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art.20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt in Art.19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet1.

Ablehnung von Prozesskostenhilfe in einem sozialgerichtlichen Verfahren

Es ist dabei verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint2.

Prozesskostenhilfe darf aber von Verfassungs wegen insbesondere dann nicht versagt werden, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt. Denn dadurch würde der unbemittelten Partei im Gegensatz zu der bemittelten die Möglichkeit genommen, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen3.

Nach diesen Grundsätzen verletzten die hier angegriffenen Entscheidungen des Sozialgerichts Frankfurt am Main4 und des Hessischen Landessozialgerichts5 die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG:

Die angegriffenen Beschlüsse überspannen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung und verfehlen dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, weil sich die im Verfahren aufgeworfene Rechtsfrage, ob der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltsrecht zusteht, als ungeklärt und schwierig darstellt.

In der Rechtsprechung der Landessozialgerichte und der Literatur ist umstritten, ob § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 AEUV dem sorgeberechtigten Elternteil eines wegen der Begleitung des anderen Elternteils nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigten minderjährigen Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht vermitteln kann6. Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte hierzu ist nicht ersichtlich.

Die Frage nach der Anwendbarkeit von § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist danach eine ungeklärte Rechtsfrage. Sie ist auch als „schwierig“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einzustufen, da sich die vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen aufgeworfene Frage der Reichweite des Diskriminierungsverbots des Art. 18 AEUV, insbesondere seine hier nur mittelbare Anwendung weder aus der hierzu vorliegenden Rechtsprechung noch aus den gesetzlichen Regelungen ohne Weiteres beantworten lässt. Hinzu kommt, dass die Frage nach dem Aufenthaltsrecht sorgeberechtigter Angehöriger eines minderjährigen, freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers auch die Wertungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK berücksichtigen muss.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten für das Verfassungsbeschwerdeverfahren erledigt sich insoweit, als das Land Hessen zur Kostenerstattung verpflichtet wird7. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG8.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. Oktober 2019 – 1 BvR 1710/18

  1. vgl. BVerfGE 78, 104, 117 f.; 81, 347, 357; 117, 163, 187[]
  2. vgl. BVerfGE 81, 347, 357[]
  3. vgl. ausführlich BVerfG, Beschluss vom 16.04.2019 – 1 BvR 2111/17, Rn. 22 m.w.N.[]
  4. SG Frankfurt am Main, Beschluss vom 12.02.2018 – S 16 AS 1451/17[]
  5. Hess. LSG, Beschluss vom 03.07.2018 – L 7 AS 274/18 B[]
  6. für ein Aufenthaltsrecht: LSG NRW, Beschluss vom 30.11.2015 – L 19 AS 1713/15 B ER 15 und Beschluss vom 01.08.2017 – L 19 AS 1131/17 B ER 41 m.w.N. sowie Beschluss vom 30.10.2018 – L 19 AS 1472/18 B ER 28 ff.; ebenso Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl.2018, § 11 FreizügG/EU Rn. 38, 39 und Oberhäuser, in: NK-AuslR, 2. Aufl.2016, FreizügG/EU § 11 Rn. 57 f.; ablehnend dagegen: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.05.2017 – L 31 AS 1000/17 B ER 5, LSG NRW, Beschluss vom 27.07.2017 – L 21 AS 782/17 B ER 43 und wohl auch Hailbronner, in: AuslR, Freizügigkeitsgesetz/EU § 11 Rn. 38, März 2017[]
  7. vgl. BVerfGE 105, 239, 252[]
  8. vgl. BVerfGE 79, 365, 366 ff.[]

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