Stellt ein Wanderarbeitnehmer, der die Anspruchsvoraussetzungen für einen Kindergeldanspruch im Inland erfüllt, seinen Antrag auf Kindergeld bei der inländischen Familienkasse erst nach Ablauf der in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG vorgesehenen sechsmonatigen Ausschlussfrist, kann sein Auszahlungsanspruch erst abgelehnt werden, wenn festgestellt wird, dass weder der Wanderarbeitnehmer selbst noch eine andere berechtigte Person für das betreffende Kind im Heimatland des Kindes einen die Frist wahrenden Antrag auf Kindergeld oder eine vergleichbare ausländische Familienleistung gestellt haben.

Bezieht der Wanderarbeitnehmer oder eine andere berechtigte Person laufend Familienleistungen für das betreffende Kind, genügt es für einen nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG zu berücksichtigenden Antrag auch, dass der Wanderarbeitnehmer oder eine andere berechtigte Person gegenüber dem zuständigen Träger des Heimatlandes innerhalb der Sechsmonatsfrist den durch die in Deutschland ausgeübte Tätigkeit entstandenen grenzüberschreitenden Sachverhalt anzeigt und hierdurch die Durchführung des Koordinierungsverfahrens ermöglicht.
Die Feststellungen zum Vorliegen eines Antrags oder einer Mitteilung beim ausländischen Träger sind durch an diesen gerichtetes Auskunftsersuchen zu treffen. Der Anspruchsteller trägt die Feststellungslast (objektive Beweislast) hinsichtlich der Nichterweislichkeit eines entsprechenden Antrags oder einer entsprechenden Mitteilung.
Nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG i.d.F. des Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch (SozialMissbrG) vom 11.07.20191 erfolgt die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Die Vorschrift ist nach § 52 Abs. 50 EStG i.d.F. des SozialMissbrG auf nach dem 18.07.2019 eingehende Kindergeldanträge anzuwenden.
Das europäische Recht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sieht ein umfassendes Prinzip der europaweiten Antragsgleichstellung vor. Nach Art. 68 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit2 in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung gilt für den Fall, dass beim zuständigen Träger eines Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften gelten, aber nach den Prioritätsregeln des Art. 68 Abs. 1 und 2 der VO Nr. 883/2004 nachrangig sind, ein Antrag auf Familienleistungen gestellt wird, ein besonderes Verfahren. Der betreffende Träger leitet den Antrag unverzüglich an den zuständigen Träger des Mitgliedstaats weiter, dessen Rechtsvorschriften vorrangig gelten, teilt dies der betroffenen Person mit und zahlt unbeschadet der Bestimmungen der Durchführungsverordnung über die vorläufige Gewährung von Leistungen erforderlichenfalls den Unterschiedsbetrag aus. Der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften vorrangig gelten, bearbeitet den Antrag, als ob er direkt bei ihm gestellt worden wäre; der Tag der Einreichung des Antrags beim ersten Träger gilt als der Tag der Einreichung bei dem Träger, der vorrangig zuständig ist. Diese Regelung wird durch die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit3 in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung zum einen dahingehend ergänzt, dass im Falle der unterbliebenen Antragstellung durch einen berechtigten Elternteil auch der von dem anderen Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, gestellter Antrag zu berücksichtigen ist (Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009). Zum anderen ergibt sich aus Art. 60 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 987/2009, dass die Antragsgleichstellung nicht nur für den Fall des Antragseingangs beim nachrangig verpflichteten Leistungsträger, sondern auch für den Fall des Antragseingangs beim vorrangig zuständigen Leistungsträger gilt. Denn auch für Zwecke der Zahlung eines bloßen Unterschiedsbetrages soll der Antrag an den nachrangig zuständigen Leistungsträger weitergeleitet werden. Zudem ergibt sich auch aus Art. 81 der VO Nr. 883/2004, dass Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe, die gemäß den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist bei einer Behörde, einem Träger oder einem Gericht dieses Mitgliedstaats einzureichen sind, innerhalb der gleichen Frist bei einer entsprechenden Behörde, einem entsprechenden Träger oder einem entsprechenden Gericht eines anderen Mitgliedstaats eingereicht werden können. In diesem Fall übermitteln die in Anspruch genommenen Behörden, Träger oder Gerichte diese Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe entweder unmittelbar oder durch Einschaltung der zuständigen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten unverzüglich der zuständigen Behörde, dem zuständigen Träger oder dem zuständigen Gericht des ersten Mitgliedstaats. Der Tag, an dem diese Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe bei einer Behörde, einem Träger oder einem Gericht des zweiten Mitgliedstaats eingegangen sind, gilt als Tag des Eingangs bei der zuständigen Behörde, dem zuständigen Träger oder dem zuständigen Gericht. Somit ist das „Prinzip der europaweiten Antragstellung“ zu beachten4.
Zweck dieser Regelungen ist es, den Wanderarbeitnehmern und den ihnen Gleichgestellten die Teilnahme am zwischenstaatlichen Verwaltungsverfahren zu erleichtern. Statt sich direkt an die für sie zuständige ausländische Einrichtung zu wenden, können sie ihr Anliegen an die entsprechende Stelle ihres Wohnstaats richten, ohne einen Rechtsverlust aufgrund langer Postwege, Unkenntnis über den Verwaltungsaufbau im ausländischen Staat und ähnlicher rechtlicher und praktischer Schwierigkeiten befürchten zu müssen5. Zudem wird aus der den beteiligten Trägern auferlegten Pflicht zur unverzüglichen Antragsweiterleitung deutlich, dass die genannten Vorschriften auf eine zeitnahe Durchführung des Koordinierungsverfahrens abzielen.
Hat der Kläger oder eine berechtigte Person -wie im vorliegenden Fall- im anderen Mitgliedstaat laufend Familienleistungen für das betreffende Kind bezogen, wäre es aus Sicht des Bundesfinanzhofs für die Annahme eines Antrags auch ausreichend, dass der Kläger oder ein anderer Berechtigter gegenüber dem zuständigen Träger seines Heimatlandes innerhalb der Sechsmonatsfrist den durch die in Deutschland ausgeübte Tätigkeit entstandenen grenzüberschreitenden Sachverhalt angezeigt und hierdurch die Durchführung des Koordinierungsverfahrens für den Streitzeitraum ermöglicht hätte.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 14. Juli 2022 – III R 28/21
- BGBl I 2019, 1066, BStBl I 2019, 814[↩]
- ABl.EU 2004 Nr. L 166, S. 1[↩]
- ABl.EU 2005 Nr. L 117, S. 1[↩]
- BFH, Urteil vom 09.12.2020 – III R 73/18, BFHE 271, 508, BStBl II 2022, 178, Rz 16[↩]
- Pabst/Otting in: jurisPK-SGB I, Aufl.2021, Art. 81 VO (EG) 883/2004 Rz 8, m.w.N.[↩]
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