Art. 76 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ist nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 6. November 20141 dahin auszulegen, dass diese Vorschrift dem Beschäftigungsmitgliedstaat erlaubt, in seinen Rechtsvorschriften ein Ruhen des Anspruchs auf Familienleistungen vorzusehen, wenn im Wohnmitgliedstaat kein Antrag auf Gewährung von Familienleistungen gestellt worden ist. § 65 EStG in unionsrechtskonformer Auslegung erfüllt die Voraussetzungen für die in Art. 76 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vorgesehene Ermächtigung.

Ein über das Differenzkindergeld hinausgehender Anspruch auf Kindergeld ist durch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG i.V.m. Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 aufgrund des in Belgien bestehenden Kindergeldanspruchs ausgeschlossen.
Sind für ein und denselben Zeitraum für ein und denselben Familienangehörigen in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehen, so ruht nach Art. 76 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls gemäß Art. 73 bzw. 74 VO Nr. 1408/71 geschuldeten Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats vorgesehenen Betrag. Wird in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so kann der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats Art. 76 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 anwenden, als ob Leistungen in dem ersten Mitgliedstaat gewährt würden (Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71).
Die Voraussetzungen des Art. 76 Abs. 1 und Abs. 2 VO Nr. 1408/71 liegen hier vor: Im Streitfall bestand für den Sohn sowohl ein Kindergeldanspruch nach deutschem als auch nach belgischem Recht.
Als Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. u Ziff. i VO Nr. 1408/71 unterfällt das Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung ihrem sachlichen Geltungsbereich2.
Die in der gesetzlichen Sozialversicherung pflichtversicherte Mutter war in der fraglichen Zeit in Deutschland als Arbeitnehmerin abhängig beschäftigt. Gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a VO Nr. 1408/71 unterlag sie damit, ungeachtet ihres Wohnsitzes in Belgien, den deutschen Rechtsvorschriften. Deutschland als Beschäftigungsmitgliedstaat war damit für die Gewährung des Kindergeldes zuständig.
Nach deutschem Recht bestand für die Mutter im Streitzeitraum für ihren nach §§ 32 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3, 63 Abs. 1 Satz 3 EStG zu berücksichtigenden Sohn ein Kindergeldanspruch gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG.
In Belgien als dem Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen waren aufgrund der Erwerbstätigkeit und der vorherigen Arbeitslosigkeit des Kindsvaters3 Familienleistungen vorgesehen. Diese wurden jedoch nicht beantragt.
Eine tatsächliche Kumulierung der Leistungen lag daher nicht vor, so dass Art. 76 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 allenfalls über Abs. 2 eingreifen kann. Hiernach kann, wenn in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats Art. 76 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 anwenden, als ob Leistungen in dem ersten Mitgliedstaat gewährt würden.
Ein über das Differenzkindergeld hinausgehender Anspruch der Mutter ist gemäß Art. 76 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 VO Nr. 1408/71 i.V.m. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen.
Nach dem Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren4 ist Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass er es dem Beschäftigungsmitgliedstaat erlaubt, in seinen Rechtsvorschriften vorzusehen, dass der zuständige Träger den Anspruch auf Familienleistungen ruhen lässt, wenn im Wohnmitgliedstaat kein Antrag auf Gewährung von Familienleistungen gestellt worden ist. Unter diesen Umständen sei daher der zuständige Träger, falls der Beschäftigungsmitgliedstaat in seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften ein solches Ruhenlassen des Anspruchs auf Familienleistungen vorsieht, verpflichtet, den Anspruch ruhen zu lassen, ohne dass er insoweit über ein Ermessen verfügt.
An dieses EuGH-Urteil im Vorabentscheidungsverfahren ist das nationale Gericht bei seiner Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits gebunden5. Der Bundesfinanzhof ist daher zu einer abweichenden Auslegung der Vorschrift des Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 nicht befugt.
Nach den deutschen Rechtsvorschriften erfüllt § 65 EStG die Voraussetzungen für eine Ermächtigung, die in Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 vorgesehen sind.
Im nationalen Recht sieht § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vor, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind. Die Vorschrift ist nach der Rechtsprechung des EuGH bei eröffnetem Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unionsrechtswidrig, soweit diese nicht zu einer Kürzung des Betrags der Leistung um die Höhe des Betrags einer in einem anderen Staat gewährten vergleichbaren Leistung, sondern zum Ausschluss führt6. Somit kann § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG im Lichte der EuGH-Entscheidung in den Sachen Hudzinski/Wawrzyniak7 wegen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts normerhaltend unionsrechtskonform ausgelegt werden8. Dies führt dazu, dass die unionsrechtswidrige Rechtsfolge -hier der vollständige Ausschluss- nicht zu beachten ist, sondern nur eine Kürzung um den im EU-Ausland bestehenden Kindergeldanspruch in Betracht zu ziehen ist9.
Mit der unionsrechtskonformen Auslegung hält sich § 65 EStG im Rahmen der durch Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 geregelten Ermächtigung. Auch der vom EuGH in seiner Entscheidung zum Vorabentscheidungsersuchen geforderten Rechtssicherheit und Transparenz10 wird Genüge getan. Mit der in § 65 EStG getroffenen Regelung wird der Kindergeldberechtigte darüber informiert, dass eine fehlende Antragstellung auf Familienleistungen im Ausland für ihn zwingend (ohne Ermessen) nachteilig ist. Sofern die unionsrechtskonforme Auslegung die Rechtsfolge „völliger Ausschluss“ abmildert und sich insoweit für den Kindergeldberechtigten günstig auswirkt, verbleibt es doch dabei, dass die Beschränkung der Rechte durch eine fehlende Antragstellung klar und eindeutig umschrieben werden.
Diese Auffassung widerspricht nicht dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht. Die Koordinierung erfolgt weiterhin in erster Linie nach der in der VO Nr. 1408/71 geregelten Antikumulierungsregelung des Art. 76. Die in Art. 76 Abs. 2 vorgesehene „Kann“-Bestimmung wird nach dem Urteil des EuGH lediglich als Ermächtigungsbestimmung ausgelegt11, die es dem Beschäftigungsmitgliedstaat -hier Deutschland- erlaubt, eine Beschränkung des Anspruchs auf Kindergeld vorzusehen, wenn die Leistungen im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen nicht beantragt worden sind.
§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG in seiner unionsrechtskonformen Auslegung schreibt zwingend vor, dass die fehlende Antragstellung auf Familienleistungen im Ausland zu einem Anspruchsausschluss in Höhe des im Ausland bestehenden Anspruchs führt.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 5. Februar 2015 – III R 40/09
- EuGH, Urteil vom 06.11.2014 – C-4/13[↩]
- z.B. EuGH, Urteil Schwemmer, – C-16/09, EU:C:2010:605, Slg. 2010, I-9717-9762, Rn. 33[↩]
- zum Begriff der Erwerbstätigkeit i.S. des Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 vgl. Beschluss Nr.207 der Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 07.04.2006 zur Auslegung des Art. 76 und des Art. 79 Abs. 3 VO Nr. 1408/71 sowie des Art. 10 Abs. 1 VO Nr. 574/72 bezüglich des Zusammentreffens von Familienleistungen oder -beihilfen, Amtsblatt der Europäischen Union -ABl.EU- vom 29.06.2006, Nr. L 175, S. 83[↩]
- EuGH, Urteil vom 06.11.2014- C-4/13[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 03.07.2014 – III R 30/11, BFHE 246, 477, BFH/NV 2014, 2002, Rz 31, m.w.N.[↩]
- EuGH, Urteil Hudzinski und Wawrzyniak, – C-611/10 und – C-612/10, EU:C:2012:339, ABl.EU 2012, Nr. C 227, 4[↩]
- EuGH, Urteil in EU:C:2012:339, ABl.EU 2012, Nr. C 227, 4[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 09.11.2011 – X R 24/09, BStBl II 2012, 321, BFHE 236, 21, Rz 16[↩]
- BFH, Urteile vom 18.12 2013 – III R 44/12, BFHE 244, 344, BStBl II 2015, 143, Rz 14; vom 18.07.2013 – III R 71/11, BFH/NV 2014, 24, Rz 18; vom 11.07.2013 – VI R 68/11, BFHE 242, 206, BFH/NV 2013, 1967, Rz 12; vom 16.05.2013 – III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040, Rz 29[↩]
- EuGH, Urteil in EU:C:2014:2344, Rn. 44[↩]
- so EuGH, Schlussantrag des Generalanwalts vom 10.04.2014,a.a.O. Rn. 52[↩]