Eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft über das Absehen von der Verfolgung gemäß § 45 Abs. 1 JGG verletzt, soweit sie in ihren Gründen eine Schuldfeststellung enthält, den Beschuldigten in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.

Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. Sie ist auch kraft Art. 6 Abs. 2 EMRK Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland im Range eines Bundesgesetzes1.
Die Unschuldsvermutung verwehrt es den Strafverfolgungsorganen nicht, schon vor Abschluss der Hauptverhandlung verfahrensbezogen den Grad des Verdachts einer strafbaren Handlung des Beschuldigten zu beurteilen2. Festlegungen zur Schuld zu treffen, Schuld auszusprechen und Strafe zuzumessen, ist den Strafgerichten allerdings erst erlaubt, wenn die Schuld des Angeklagten in einem mit rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien ausgestatteten, bis zum prozessordnungsgemäßen Abschluss durchgeführten Strafverfahren nachgewiesen ist2.
Die Unschuldsvermutung schließt nicht aus, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten und dies bei der Entscheidung über die kostenrechtlichen Folgen zu berücksichtigen. Sie verbietet aber, gegen den Beschuldigten Maßregeln zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe oder strafähnlichen Sanktion gleichkommen, oder ihm in einer strafgerichtlichen Entscheidung Schuld zuzuweisen, ohne dass ihm in dem gesetzlich dafür vorgeschriebenen Verfahren strafrechtliche Schuld nachgewiesen worden ist. Rechtsfolgen, die keinen Strafcharakter haben, können darum auch in einer das Verfahren abschließenden Entscheidung an einen verbleibenden Tatverdacht geknüpft werden. Allerdings muss dabei aus der Begründung deutlich hervorgehen, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung oder ‑zuweisung handelt, sondern nur um die Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage. Dieser Unterschied muss auch in der Formulierung der Gründe hinreichenden Ausdruck finden. Dabei ist der Sinnzusammenhang der gesamten Entscheidungsgründe zu würdigen. Unabhängig davon sollten die Gerichte und Strafverfolgungsorgane im Blick auf den verfassungsrechtlichen Rang der Unschuldsvermutung darauf Bedacht nehmen, nur solche Formulierungen zu verwenden, die von vornherein jeden Anschein einer unzulässigen Schuldzuweisung vermeiden; dies gilt insbesondere bei Formblättern3.
Wird ein Strafverfahren eingestellt, bevor die Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden ist, so fehlt es an der prozessordnungsgemäßen Grundlage für eine Erkenntnis zur Schuld. Wie die Einstellungsvorschrift des § 153 StPO verlangt auch § 45 JGG nur eine hypothetische Schuldbeurteilung. Die Strafverfolgungsorgane haben den Sachverhalt, so wie er sich im jeweiligen Verfahrensstadium abzeichnet, daraufhin zu prüfen, ob die Schuld des Angeklagten gering wäre, wenn die Feststellungen in einer Hauptverhandlung diesem Bild entsprächen. Die strafrechtliche Relevanz darf nicht nach Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld festgestellt, sie darf lediglich unterstellt werden4.
Nach diesen Maßstäben verstößt die dem Verteidiger des Beschuldigten mitgeteilte Begründung der Verfügung, von einer Verfolgung gemäß § 45 Abs. 1 JGG abzusehen, gegen die im Rechtsstaatsprinzip gründende Unschuldsvermutung. Sie verletzt den Beschuldigten in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG.
Die Formulierung „Ihr Mandant hat sich durch sein Verhalten einer Straftat schuldig gemacht“, lässt sich nicht mehr als gebotene Beschreibung einer Verdachtslage verstehen. Auch wenn im zweiten Satzteil nicht ausdrücklich von einem Schuldspruch gesprochen wird, ist der Wortlaut der Formulierung „einer Straftat schuldig gemacht“ einer noch der Unschuldsvermutung Rechnung tragenden Beschreibung der Verdachtslage nicht zugänglich. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass im Folgesatz das „Verschulden“ des Beschuldigten als „nicht groß“ bewertet wird.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. März 2017 – 2 BvR 2282/16