Entziehung Minderjähriger – und die Verwirklichung beider Tatvarianten

Die Tatvarianten des § 235 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB stehen bei Identität des betroffenen Kindes in Tateinheit zueinander.

Entziehung Minderjähriger – und die Verwirklichung beider Tatvarianten

Das konkurrenzrechtliche Verhältnis dieser beiden Varianten ist umstritten. Während in der Kommentarliteratur teilweise angenommen wird, dass diese auch bei Identität des betroffenen Minderjährigen in Tateinheit stehen1, soll nach einer anderen Ansicht in dieser Fallkonstellation Nr. 2 von Nr. 1 verdrängt werden2. Der Bundesgerichtshof hat, soweit ersichtlich, diese Frage bislang nicht entschieden.

Werden – wie hier – durch dieselbe Handlung mehrere Straftatbestände erfüllt, so ist grundsätzlich von Tateinheit auszugehen. Etwas anderes gilt nur ausnahmsweise im Falle der Gesetzeseinheit, die verhindern soll, dass ein im Kern identisches Unrecht doppelt erfasst wird3. Gesetzeseinheit kommt in der vorliegenden Konstellation einzig in der Erscheinungsform der Konsumtion in Betracht. Diese setzt voraus, dass der Unrechtsgehalt der strafbaren Handlung bei einer wertenden Betrachtung bereits durch einen der anwendbaren Tatbestände erschöpfend erfasst wird. Die Verletzung des einen Tatbestandes muss also regelmäßige oder typische Erscheinungsform der Verwirklichung des anderen Tatbestandes sein4.

Ausgehend von diesen Maßstäben wird die Annahme einer Konsumtion dem Verhältnis der Tatvarianten des § 235 Abs. 1 StGB zueinander nicht gerecht.

Die zuvörderst die elterliche oder sonstige familienrechtliche Sorge schützende Vorschrift des § 235 StGB wurde durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26.01.19985 mit dem Ziel novelliert, Nachweisprobleme zu beseitigen und Strafbarkeitslücken zu schließen, die sich nach Ansicht des Gesetzgebers unter anderem im Zusammenhang mit der heimlichen „Wegnahme“ von Kleinstkindern sowie der Verbringung von Kindern in das Ausland ergeben hatten6. Die Neuregelung verzichtet deswegen in Fällen, in denen der Täter ein Kind entzieht oder vorenthält, ohne dessen Angehöriger zu sein (Abs. 1 Nr. 2), auf die bisher den Tatbestand einschränkenden Tatmittel der List, Drohung und Gewalt. Gleiches gilt für die ein Kind betreffenden Fälle mit Auslandsbezug (Abs. 2).

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Mit der Neuregelung hat der Gesetzgeber im Hinblick auf den Täterkreis, den geschützten Personenkreis und die besonderen Tatmodalitäten bewusste Differenzierungen vorgenommen. Diese finden ihren Grund und ihre Rechtfertigung in der besonderen Schutzbedürftigkeit von Säuglingen und Kleinkindern7 und der im Ausland ungleich schwereren Durchsetzbarkeit deutscher Entscheidungen über die Personensorge8.

Zwar mögen sich die beiden Varianten des Abs. 1 nicht selten überschneiden, die Variante des § 235 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist aber keineswegs regelmäßig oder typisch (mit)erfüllt, wenn die Entziehung unter Einsatz eines der in Abs. 1 Nr. 1 genannten Tatmittel erfolgt. Zudem wohnt der Entziehung eines Kindes durch einen womöglich vollkommen fremden Nichtangehörigen ein weiteres Unrecht inne, das auch mit einer größeren Gefahr für das entzogene Kind verbunden sein kann. Deshalb stellt die Tatvariante des Abs. 1 Nr. 2 StGB auch bei wertender Betrachtung nicht lediglich eine Auffangnorm dar. Vielmehr kommt ihr ein den in Abs. 2 normierten Fällen vergleichbares spezifisches Tatunrecht zu.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21. Februar 2023 – 6 StR 16/23

  1. vgl. LK-StGB/Krehl, 12. Aufl., § 235 Rn. 132[]
  2. vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 235 Rn. 22; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 235 Rn. 26[]
  3. vgl. BGH, Beschlüsse vom 27.11.2018 – 2 StR 481/17, BGHSt 63, 253, 258; vom 21.08.2019 – 3 StR 7/19, NStZ-RR 2020, 176, 177; vom 25.10.2022 – 4 StR 265/22; allgemein zur Gesetzeseinheit LK-StGB/Rissingvan Saan, 13. Aufl., vor § 52 Rn. 144 ff.[]
  4. vgl. BGH, Urteil vom 30.11.2022 – 3 StR 249/22 Rn. 14; Beschlüsse vom 27. Novem- ber 2018 – 2 StR 481/17, aaO, 258 f.; vom 21.08.2019 – 3 StR 7/19, aaO; vgl. zur Konsumtion MünchKomm-StGB/v. Heintschel-Heinegg, vor § 52 Rn. 49 ff. jeweils mwN[]
  5. BGBl. I 164[]
  6. BT-Drs. 13/8587 S. 23[]
  7. vgl. Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl., § 235 Rn. 4[]
  8. vgl. NK-StGB/Sonnen, 5. Aufl., § 235 Rn.19; SK-StGB/Wolters, 9. Aufl., § 235 Rn. 15[]
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