Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert1.

Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit2. Zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen3.
Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art.20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist4, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt5.
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen6. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft7. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu8. Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen; insofern sind in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung9.
Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei auch unter Berücksichtigung der genannten Aspekte nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein10.
Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen11. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. So ist nach Anklageerhebung bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen12. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umfassende Hauptverhandlungsplanung mit mehr als nur durchschnittlich einem Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig13.
Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen14. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen indes regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen15. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen16.
Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Sie kann selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt17. Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen18.
Im Hinblick auf die besondere Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG ist der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken19. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen insofern einer erhöhten Begründungstiefe20. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können21. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein22. Die fachgerichtlichen Ausführungen müssen hierzu die maßgeblichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls umfassend berücksichtigen und regelmäßig auch den gegen das Vorliegen eines Haftgrundes sprechenden Tatsachen Rechnung tragen, um die (Prognose-)Entscheidung des Gerichts auch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen23.
Diesen Vorgaben genügten im hier vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München24 nicht. Sie zeigen keine besonderen Umstände auf, die die Fortdauer der Untersuchungshaft verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen:
Zwar lässt sich – insbesondere auf Grundlage des Vorbringens des Untersuchungshäftlings – ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot im Zwischenverfahren nicht erkennen. Vor allem begründet der Untersuchungshäftling nicht, wie er zu der Auffassung gelangt, dass bereits spätestens Anfang September 2019 Eröffnungsreife eingetreten gewesen sei, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Ermittlungsergebnisse, insbesondere das psychiatrische Gutachten und die Kontoauswertungen, vorgelegen haben. Darüber hinaus legt der Untersuchungshäftling nicht dar, inwieweit sich eine etwaige Verzögerung im Zwischenverfahren auf die Verfahrensdauer ausgewirkt hat, zumal die Hauptverhandlung bereits einen Monat nach dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses begonnen hat.
Die Ausführungen des Oberlandesgerichts genügen jedoch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen insoweit nicht, als sie die Verzögerungen aufgrund der Aussetzung und Neuterminierung der Hauptverhandlung unter Hinweis auf die Verteidigungsstrategie des Untersuchungshäftlings als gerechtfertigt ansehen.
Zunächst lassen sich keine Umstände feststellen, aufgrund derer das Landgericht darauf hätte vertrauen können und dürfen, dass der Untersuchungshäftling ein umfangreiches Geständnis ablegen würde.
Das Oberlandesgericht begründet nicht, wie es zu der Annahme gelangt, dem Vermerk der Jugendkammer über das Erörterungsgespräch vom 23.10.2019 sei nicht zu entnehmen, dass das angekündigte Geständnis unter dem Vorbehalt der Rücksprache des Verteidigers mit dem Angeklagten und dem weiteren Verteidiger gestanden habe; vielmehr beziehe sich der Vorbehalt „ersichtlich“ auf die angesprochenen Strafrahmen. Insbesondere legt das Oberlandesgericht nicht dar, welchen Sinn ein derart beschränkter Vorbehalt des Verteidigers haben sollte, der sich nicht auch auf die übrigen notwendigen Bestandteile einer Verständigung bezieht, die gerade durch eine synallagmatische Verknüpfung der jeweiligen Handlungsbeiträge gekennzeichnet ist25.
Unabhängig vom Erklärungsinhalt und Umfang eines geäußerten Vorbehalts der Rücksprache mit dem Angeklagten ist es ohnehin einfach- und verfassungsrechtlich von vornherein ausgeschlossen, dass sich die Berufsrichter, der Staatsanwalt und einer von zwei Verteidigern in Abwesenheit und ohne Zustimmung des Angeklagten im Zwischenverfahren verbindlich auf eine Verständigung einigen können (§ 257c Abs. 3 Satz 4 StPO; vgl. auch BVerfGE 133, 168, 231 Rn. 112, 237 Rn. 125). Selbst eine vorbehaltlos im Zwischenverfahren abgeschlossene Verständigung hätte für den Untersuchungshäftling keine Bindungswirkung entfaltet26.
Schließlich begründet das Oberlandesgericht nicht, auf welche Art und Weise der Untersuchungshäftling sich das Verteidigerverhalten (hier: das Verständigungsgespräch und die spätere „Abkehr“ hiervon) „ersichtlich zu eigen gemacht“ habe. Weder den angegriffenen Beschlüssen noch den beigezogenen Akten lässt sich entnehmen, dass sich der Untersuchungshäftling bis zum Beginn der Hauptverhandlung in irgendeiner Weise zur angedachten Verteidigungsstrategie geäußert und somit einen – wie auch immer gearteten – Vertrauenstatbestand gesetzt hätte. Auch ist nicht erkennbar, dass die Jugendkammer die Verteidiger nach dem Ergebnis der angekündigten Rücksprache gefragt oder eine bestimmte Erwartung zum Ausdruck gebracht hätte, sodass sich die Verteidigung zu einer – positiven oder negativen – Mitteilung hätte veranlasst sehen müssen.
Darüber hinaus lässt sich nicht nachvollziehen, warum das Landgericht entschieden hat, die Hauptverhandlung sogleich auszusetzen, ohne die geladenen und erschienenen Zeugen und Sachverständigen zu vernehmen und – für den Fall, dass die Beweisaufnahme nicht am 23. und 30.12 2019 hätte abgeschlossen werden können – sich um die Bestimmung weiterer Fortsetzungstermine zu bemühen. Es erschließt sich nicht, warum das – zweifellos zulässige – Verteidigungsverhalten des Untersuchungshäftlings, lediglich eine der angeklagten Taten zu gestehen und im Übrigen zu schweigen, die geplante Beweisaufnahme insgesamt obsolet gemacht haben könnte. Insbesondere hätte es einer eingehenderen Begründung bedurft, weshalb das Oberlandesgericht meint, ein mögliches Geständnis des Untersuchungshäftlings hätte durch die geladenen Zeugen und Sachverständigen validiert und die weitere Tat durch die geladenen Zeugen aufgeklärt werden können, demgegenüber aber offenbar annimmt, eine Vernehmung der geladenen und erschienenen Zeugen und Sachverständigen ohne Vorliegen eines umfassenderen Geständnisses wäre von vornherein aussichtslos gewesen. Da die Amtsaufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO von einer Verständigung ohnehin unberührt bleibt (§ 275c Abs. 1 Satz 2 StPO), hätte sich das Landgericht in jedem Fall darauf einstellen müssen, je nach „Qualität“ des Geständnisses eine mehr oder weniger umfangreiche Beweisaufnahme durchzuführen27.
Vor allem aber lassen sich den angefochtenen Beschlüssen keine Gründe entnehmen, die geeignet wären, die Fortdauer der Untersuchungshaft bis zum vorgesehenen Neubeginn der Hauptverhandlung am 16.07.2020 verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt wird sich der Untersuchungshäftling ein Jahr und fünf Monate in Untersuchungshaft befunden haben. Seit Anklageerhebung wird rund ein Jahr, seit Zulassung der Anklage werden rund acht Monate vergangen sein. Das Oberlandesgericht legt nicht dar, dass ein besonderer Ausnahmefall vorliegt, der diese erhebliche Verfahrensverzögerung zu rechtfertigen vermag.
Das Oberlandesgericht zeigt keine besonderen Umstände auf, die es gerechtfertigt erscheinen ließen, dass sich das Landgericht im Dezember 2019 zu einer Neuterminierung der Hauptverhandlung erst im Juli 2020 in der Lage sah. Diese erst bevorstehende, aber schon jetzt deutlich absehbare Verfahrensverzögerung steht einer bereits eingetretenen Verfahrensverzögerung gleich28.
Der Verweis auf die angespannte Terminslage eines der beiden Verteidiger des Untersuchungshäftlings kann allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen. Verhinderungen des Verteidigers können angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nur insoweit berücksichtigt werden, wie dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt. Das Hinausschieben der Hauptverhandlung wegen Terminsschwierigkeiten der Verteidiger ist infolgedessen kein verfahrensimmanenter Umstand, der eine erhebliche Verzögerung – von vorliegend knapp sieben Monaten – rechtfertigen könnte29. Die Jugendkammer hat auch nicht erwogen, vor diesem Hintergrund einen Pflichtverteidiger zur Verfahrenssicherung in Betracht zu ziehen30. Den Ausführungen des Oberlandesgerichts zu einzelnen Verhinderungen im Februar und März 2020 lassen sich zudem keine Schlussfolgerungen für die – ursprünglich angedachten – Termine am 20. und 28.01.2020 und für die weiteren Monate April bis Juni 2020 entnehmen.
Auch der pauschale Hinweis darauf, dass der bislang vorgesehene Sachverständige bis Mai 2020 keine freien Termine habe, ergibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Jugendkammer bei diesem Sachverständigen um eine Verschiebung früherer, weniger eilbedürftiger – und offenbar erst kurzfristig vereinbarter – Termine oder um einen anderen Sachverständigen bemüht hätte. Im Übrigen hätte sich das Oberlandesgericht im diesem Zusammenhang zu einer Auseinandersetzung mit der Frage veranlasst sehen müssen, ob sich die Jugendkammer bereits bei der ursprünglichen Verhandlungsplanung darauf beschränken durfte, einen terminlich besonders beanspruchten Sachverständigen von vornherein nur für zwei Hauptverhandlungstage zu laden.
Schließlich ist nicht erkennbar, dass die Kammer die Möglichkeit erwogen hätte, Hauptverhandlungstermine in anderen Sachen – insbesondere Nicht-Haftsachen – zu verlegen, um ihrerseits den Verfahrensbeteiligten mehr Terminvorschläge unterbreiten zu können.
Vor diesem Hintergrund hätte sich das Oberlandesgericht zu einer näheren Begründung gedrängt sehen müssen, warum die Belastungssituation der Jugendkammer „in der Gesamtbetrachtung nicht ins Gewicht“ falle. Dies gilt erst recht mit Blick darauf, dass die Jugendkammer selbst bereits im Verständigungsgespräch vom 23.10.2019 und vor allem im Vermerk der Vorsitzenden vom 17.01.2020 auf ihre terminliche Auslastung deutlich hingewiesen hat. Insoweit hätte es weiterer Darlegungen bedurft, ob es sich dabei um eine kurzfristige, nicht vorhersehbare Belastungssituation handelt, der auch durch Maßnahmen der Justizverwaltung nicht begegnet werden kann, oder ob die Jugendkammer strukturell und dauerhaft überlastet ist.
Der Hinweis des Oberlandesgerichts, von der Justizverwaltung könne nicht gefordert werden, dass Richter und Kammern vorgehalten würden, um auf „jedes denkbare Verteidigungsverhalten unmittelbar eingehen zu können“, da dies zu „Leerläufen“ führen würde und „dem Steuerzahler nicht vermittelbar“ sei, ist nicht geeignet, eine verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung des Beschleunigungsgebots im Einzelfall zu rechtfertigen. Die Justizverwaltung darf ihre Personalplanung jedenfalls nicht auf die Erwartung stützen, dass auf jede – wirksame – Verständigung tatsächlich ein Geständnis folgt und das Verfahren dann stets auch ohne eine umfangreiche Beweisaufnahme zum Abschluss gebracht werden kann. Wie der Generalbundesanwalt schließlich zutreffend anmerkt, handelt es sich bei der Entscheidung, dass der Untersuchungshäftling in der Hauptverhandlung letztlich doch kein umfassendes Geständnis ablegt, nicht um eine außergewöhnliche Verteidigungsstrategie.
Das Bundesverfassungsgericht hat im hier entschiedenen Fall daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festgestellt, dass die beiden Beschlüsse des Oberlandesgerichts München den Untersuchungshäftling in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG verletzen, und die Beschlüsse unter Zurückverweisung der Sache aufgehoben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
Das Oberlandesgericht wird im besonderen Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen erneut über die Haftfortdauer zu entscheiden haben.
Da dem besonderen Haftprüfungsverfahren Vorrang vor der zuvor eingelegten Haftbeschwerde zukommt und diese durch die dort gebotene erneute Entscheidung gegenstandslos wird31, hat das Oberlandesgericht im Beschwerdeverfahren nur über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Untersuchungshäftlings erneut zu entscheiden32.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 1. April 2020 – 2 BvR 225/20
- vgl. BVerfGE 35, 185, 190; 109, 133, 157; 128, 326, 372; BVerfG, Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, Rn. 52; Beschluss vom 09.03.2020 – 2 BvR 103/20, Rn. 60[↩]
- vgl. BVerfGE 22, 180, 219; 45, 187, 223; 58, 208, 224 f.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, Rn. 53; Beschluss vom 09.03.2020 – 2 BvR 103/20, Rn. 61[↩]
- vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 74, 358, 371[↩]
- vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 20, 45, 49 f.; 36, 264, 270; 53, 152, 158 f.; BVerfG, Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, Rn. 54; Beschluss vom 09.03.2020 – 2 BvR 103/20, Rn. 62[↩]
- vgl. BVerfGE 20, 45, 49 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 36, 264, 270; 53, 152, 158 f.[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 140, 161; 15, 474, 480; 17, 517, 522; Beschluss vom 09.03.2020 – 2 BvR 103/20, Rn. 47[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a., Rn. 37; Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, Rn. 56; Beschluss vom 18.02.2020 – 2 BvR 2090/19, Rn. 47[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.09.1999 – 2 BvR 1775/99, Rn. 16; Beschluss vom 11.06.2008 – 2 BvR 806/08, Rn. 36; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14, Rn. 24; Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, Rn. 55[↩]
- vgl. BVerfGE 20, 45, 50; 36, 264, 273[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2011 – 2 BvR 2781/10, Rn. 15; Beschluss vom 14.11.2012 – 2 BvR 1164/12, Rn. 43; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14, Rn. 21; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/17, Rn. 16; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18, Rn. 28, 37; Beschluss vom 01.08.2018 – 2 BvR 1258/18, Rn. 25[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 21, 46 f.; 7, 140, 157; 12, 166, 167; BVerfG, Beschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07, Rn. 49 ff.; Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, Rn. 57; Beschluss vom 18.02.2020 – 2 BvR 2090/19, Rn. 50[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18, Rn. 29[↩]
- vgl. BVerfGK 15, 474, 480; 17, 517, 523[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 140, 155 f.; BVerfG, Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18, Rn. 29; Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, Rn. 58; Beschluss vom 18.02.2020 – 2 BvR 2090/19, Rn. 51[↩]
- vgl. BVerfGE 36, 264, 273 ff.; BVerfG, Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14, Rn. 23; Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, Rn. 59; Beschluss vom 18.02.2020 – 2 BvR 2090/19, Rn. 52[↩]
- vgl. BVerfGE 36, 264, 275; BVerfG, Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14, Rn. 23; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/17, Rn. 18; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18, Rn. 3; Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, Rn. 59[↩]
- vgl. hierzu BVerfGE 53, 30, 65; 63, 131, 143; BVerfG, Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, Rn. 60; Beschluss vom 09.03.2020 – 2 BvR 103/20, Rn. 65[↩]
- vgl. BVerfGE 103, 21, 35 f.; BVerfGK 7, 140, 161; 10, 294, 301; 15, 474, 481; 19, 428, 433[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 140, 161; 10, 294, 301; 15, 474, 481; 19, 428, 433; Beschluss vom 18.02.2020 – 2 BvR 2090/19, Rn. 54[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 421, 429 f.; 15, 474, 481 f.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.09.2018 – 2 BvR 745/18, Rn. 31; Beschluss vom 18.02.2020 – 2 BvR 2090/19, Rn. 54[↩]
- OLG München, Beschlüsse vom 31.01.2020 – 2 Ws 49/20; und vom 09.0ß3.2020 – 2 Ws 250/20 H[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.04.2016 – 2 BvR 1422/15, Rn. 21 f. m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.04.2016 – 2 BvR 1422/15, Rn. 25; Jahn/Kudlich, Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl.2016, § 257c, Rn. 56, 155[↩]
- vgl. BVerfGE 133, 168, 209 Rn. 70 f.[↩]
- vgl. BVerfGK 6, 384, 392 f.; 12, 166, 168; BVerfG, Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, Rn. 57; Beschluss vom 18.02.2020 – 2 BvR 2090/19, Rn. 68[↩]
- vgl. BVerfGK 10, 294, 306; Beschluss vom 18.02.2020 – 2 BvR 2090/19, Rn. 53[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.02.2007 – 2 BvR 2563/06, Rn. 37 ff.[↩]
- vgl. Schultheis, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl.2019, § 122 Rn. 11[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.07.2019 – 2 BvR 382/17, Rn. 39[↩]