In anderen EU-Staaten verhängte Strafen – und der unbezifferte Härteausgleich

Weder der Rahmenbeschluss 2008/675/JI des Rates vom 24.07.2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren noch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union führt zu einem Verständnis, wonach ein Härteausgleich wegen Strafen, die von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängt wurden, zwingend die konkrete Bezifferung der fiktiven Gesamtstrafe bzw. des vorgenommenen Strafabschlags erfordert.

In anderen EU-Staaten verhängte Strafen – und der unbezifferte Härteausgleich

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hatte das Landgericht Kleve in seiner gemäß § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1 Satz 2 StGB vorgenommene Gesamtstrafenbildung die von einem polnischen Gericht rechtskräftig verhängte Haftstrafe bei der Bestimmung des Gesamtstrafübels durch Gewährung eines unbezifferten Härteausgleichs berücksichtigt 1. Der Bundesgerichtshof billigte dieses Vorgehen und verwarf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts:

Die Strafkammer hat zutreffend angenommen, dass es aufgrund dieser Vorverurteilung bei der Bemessung der Gesamtfreiheitsstrafe eines Härteausgleichs bedurft hat.

Bei der Strafzumessung sind auch solche etwaigen Härten in den Blick zu nehmen, die durch die zusätzliche Vollstreckung von Strafen drohen, die von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängt wurden, wenn diesbezüglich in zeitlicher Hinsicht die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB erfüllt wären2. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union3 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass frühere in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen in gleichem Maße bei der Strafzumessung berücksichtigt werden wie inländische Vorverurteilungen nach innerstaatlichem Recht. Dieser Grundsatz gilt stets und ohne weitere Bedingungen4. Hiernach ist bei zeitigen Freiheitsstrafen ein Härteausgleich vorzunehmen, um den sich daraus ergebenden Nachteil auszugleichen, dass bei einer früheren Verurteilung durch ein Gericht eines anderen EU-Mitgliedstaats keine Gesamtstrafe nach § 55 StGB gebildet werden kann5.

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Im Hinblick auf die dem angefochtenen Urteil vorausgegangene Verurteilung des Angeklagten in Polen wären die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB an sich gegeben gewesen. Das dortige Bezirksgericht in L. sprach ihn mit der Entscheidung vom 20.03.2018 in Verbindung mit derjenigen vom 25.09.2018 insgesamt 19 vollendeter oder versuchter Einbruchdiebstähle schuldig und belegte ihn mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten. Diesem Erkenntnis liegen Einzelfreiheitsstrafen von einmal drei Jahren, elfmal einem Jahr und sechs Monaten sowie siebenmal einem Jahr zugrunde. Der Angeklagte beging die hier verfahrensgegenständlichen Taten vor der Verurteilung durch das Bezirksgericht in L. . Die von diesem festgesetzten Strafen sind daher in zeitlicher Hinsicht gesamtstrafenfähig. Sie sind nicht erledigt; vielmehr wurde ein Rest der in Polen festgesetzten Haftstrafe mit Beschluss vom 03.11.2020 zur Bewährung ausgesetzt.

Dass die Strafkammer den aus der fehlenden Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil nicht konkret ausgewiesen hat, begegnet ebenso wenig revisionsrechtlichen Bedenken.

Soweit der 1. Strafsenat über die dargelegten bisherigen Anforderungen an den Härteausgleich wegen Strafen, die von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängt wurden, hinausgehend – nicht tragend – eine Bezifferung der fiktiven Gesamtstrafe bzw. des vorgenommenen Strafabschlags für erforderlich gehalten hat6, ist dem nicht beizutreten7. Denn die Notwendigkeit einer Abweichung von der etablierten Rechtsprechung zur Art und Weise der Berücksichtigung des Härteausgleichs ergibt sich weder aus dem vom 01. Strafsenat für seine Rechtsansicht in Bezug genommenen Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union8 noch aus dem der dortigen Entscheidung zugrundeliegenden Rahmenbeschluss 2008/675/JI des Rates vom 24.07.2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren9 selbst. Im Einzelnen:

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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs steht es im Ermessen des Tatgerichts, auf welche Weise es den Härteausgleich vornimmt10. Ihm obliegt es, die hierfür maßgeblichen Umstände zu gewichten und die hiernach angemessene Strafe zu bestimmen. Das Revisionsgericht greift – ebenso wie bei der Kontrolle der Gesamtstrafenbildung – nur dann ein, wenn der Umfang des Härteausgleichs nicht mehr ausreichend begründet wurde. Es bleibt dem Tatgericht insbesondere überlassen, ob es zunächst eine „fiktive Gesamtstrafe“ bildet und diese um die vollstreckte Strafe mildert oder ob es den Nachteil unmittelbar bei der Festsetzung der neuen Strafe berücksichtigt11 hat diese Anordnung dahin präzisiert, dass den früheren Verurteilungen aus einem anderen Mitgliedstaat gleichwertige tatsächliche bzw. verfahrens- oder materiellrechtliche Wirkungen zuzuerkennen sind wie Vorverurteilungen im Inland nach innerstaatlichem Recht. Dabei ist die Abänderung, Aufhebung oder Überprüfung der früheren Entscheidung durch die spätere Entscheidung des anderen Mitgliedstaats nicht vorgesehen (Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses).

Diesen Vorgaben kann bereits dem Wortlaut nach nicht entnommen werden, dass die in einem anderen Mitgliedstaat ergangene an sich gesamtstrafenfähige Verurteilung ausschließlich durch konkrete Bezifferung einer fiktiven Gesamtstrafe oder eines entsprechenden Strafabschlags unionsrechtskonform berücksichtigt werden kann.

Auch im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu dem Umsetzungsgesetz vom 02.10.2009 wurde ein solches Erfordernis konkreter Bezifferung nicht in Betracht gezogen. Wie sich aus der Beschlussempfehlung vom 01.07.2009 ergibt, ging der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages davon aus, der Ansatz, dass ausländische Vorverurteilungen zwar nicht formell (über eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung) in die Strafzumessung eingebunden werden können, der Verurteilte aber gleichwohl dadurch möglichst nicht benachteiligt werden soll, entspreche dem in Deutschland von der Rechtsprechung auch bei ausländischen Vorverurteilungen bereits praktizierten Härteausgleich12. Wie sich insbesondere den in den Gesetzesmaterialien zitierten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs13 entnehmen lässt, war damit ersichtlich auch die Möglichkeit eines unbezifferten Härteausgleichs gemeint.

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Die Pflicht zur Bezifferung des Härteausgleichs liegt überdies nach dem Sinn und Zweck der unionsrechtlichen Vorgaben nicht nahe.

Die wesentliche Wirkung einer Gesamtstrafenbildung nach §§ 54, 55 StGB in Fällen innerstaatlicher Verurteilungen – nämlich der Wegfall der einbezogenen Strafe als selbständig vollstreckbares Erkenntnis – tritt in Fällen verschiedenstaatlicher Verurteilungen, wie sich Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses ausdrücklich entnehmen lässt, gerade nicht ein14. Insofern ist die vorliegende Fallkonstellation im Sinne der referierten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht gleichwertig mit Verurteilungen, bei denen innerstaatliche Erkenntnisse tatsächlich auf Gesamtstrafen zurückzuführen sind, wohl aber mit solchen, bei denen aus verschiedenen Gründen auch im Inland verhängte Strafen nicht (mehr) zur Bildung einer Gesamtstrafe herangezogen werden können. Als solcher – eine Gesamtstrafenbildung von vornherein ausschließender15 – Grund kommt etwa die wesensmäßige Verschiedenartigkeit von Freiheitsstrafe und Jugendstrafe in Betracht, die dazu führt, dass hinsichtlich getrennt nach Erwachsenen- und Jugendrecht abgeurteilten Taten eine Gesamtstrafe nicht gebildet werden kann16. Ebenso verhält es sich in Fallkonstellationen, in denen die einzubeziehende Strafe bereits – durch Vollstreckung, Verjährung oder Erlass – erledigt ist17.

Aus den vorstehenden Gründen greift schließlich auch die Argumentation, das mit dem Rahmenbeschluss 2008/675/JI umgesetzte Prinzip der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen auf der Grundlage wechselseitigen Vertrauens in die Grundrechtskonformität des Verhaltens sämtlicher Mitgliedstaaten erfordere die Vornahme eines bezifferten Härteausgleichs18, nicht durch. Wenn – wie dargelegt – ein unbezifferter Härteausgleich selbst dann ausreichend ist, wenn in den genannten Fallkonstellationen in zeitlicher Hinsicht gesamtstrafenfähige inländische Erkenntnisse nicht zur Bildung einer Gesamtstrafe herangezogen werden können, kann in Fällen von Erkenntnissen aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union nichts anderes gelten.

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Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26. Januar 2022 – 3 StR 461/21

  1. LG Kleve, Urteil vom 22.07.2021 – 110 KLs503.Js 1107/1711/21[]
  2. s. BGH, Beschlüsse vom 04.08.2020 – 1 StR 252/20, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 26 Rn. 5; vom 23.04.2020 – 1 StR 406/19, BGHSt 65, 1 Rn. 9; 1 StR 15/20, BGHSt 65, 5 Rn. 18 ff.; vom 28.01.2020 – 4 StR 599/19, NStZ-RR 2020, 122; vom 03.07.2019 – 4 StR 256/19, juris; vom 18.12.2018 – 1 StR 508/18, NJW 2019, 1159 Rn. 6 mwN[]
  3. EuGH, Urteil vom 21.09.2017 – C-171/16 26; ferner Urteile vom 15.04.2021 – C-221/19, NJW 2021, 3107 Rn. 50; vom 05.07.2018 – C-390/16 28[]
  4. s. BGH, Beschluss vom 23.04.2020 – 1 StR 406/19, BGHSt 65, 1 Rn. 11 mwN[]
  5. vgl. BGH, Beschlüsse vom 04.08.2020 – 1 StR 252/20, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 26 Rn. 5; vom 23.04.2020 – 1 StR 15/20, BGHSt 65, 5 Rn. 14 ff.[]
  6. vgl. BGH, Beschluss vom 23.04.2020 – 1 StR 15/20, BGHSt 65, 5 Rn. 18 ff.; ferner BGH, Beschlüsse vom 12.01.2021 – 1 StR 404/20, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 27 Rn. 4; vom 12.11.2020 – 1 StR 379/20 6[]
  7. zweifelnd bereits BGH, Beschlüsse vom 09.03.2021 – 3 StR 37/21, NStZ-RR 2021, 154; vom 18.05.2021 – 6 StR 142/21[]
  8. EuGH, Urteil vom 21.09.2017 – C-171/16, aaO[]
  9. ABl. L 220 S. 32 ff.[]
  10. BGH, Beschlüsse vom 17.08.2011 – 5 StR 301/11, StV 2012, 596 Rn. 3; vom 09.11.2010 – 4 StR 441/10, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 20 Rn. 6; Urteil vom 15.09.2004 – 2 StR 242/04 12; Beschluss vom 02.09.1997 – 1 StR 317/97, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 10; Urteile vom 23.01.1985 – 1 StR 645/84, BGHSt 33, 131, 132; vom 29.07.1982 – 4 StR 75/82, BGHSt 31, 102, 103; ferner LK/Rissingvan Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., § 55 Rn. 32[]
  11. BGH, Beschlüsse vom 09.11.2010 – 4 StR 441/10, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 20 Rn. 6; vom 10.03.2009 – 5 StR 73/09, StV 2010, 240 Rn. 4; Urteile vom 23.01.1985 – 1 StR 645/84, BGHSt 33, 131, 132; vom 29.07.1982 – 4 StR 75/82, BGHSt 31, in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Verurteilung in einem neuen Strafverfahren. Dies hat in demselben Maße zu erfolgen, in dem im Inland ergangene frühere Verurteilungen berücksichtigt werden (Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses). Der Unionsgerichtshof ((EuGH, Urteil vom 21.09.2017 – C-171/16 26[]
  12. BT-Drs. 16/13673 S. 5[]
  13. s. BGH, Beschlüsse vom 02.09.1997 – 1 StR 317/97, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 10; vom 30.04.1997 – 1 StR 105/97, BGHSt 43, 79 f.[]
  14. ebenso BGH, Beschluss vom 23.04.2020 – 1 StR 15/20, BGHSt 65, 5 Rn. 13 mwN[]
  15. s. LK/Rissingvan Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., § 55 Rn. 8 mwN[]
  16. s. BGH, Beschlüsse vom 11.12.2019 – 5 StR 610/19, StV 2020, 660 Rn. 3; vom 16.09.2008 – 4 StR 316/08 2; vom 24.01.2007 – 2 StR 583/06, NStZ-RR 2007, 168; Urteil vom 30.04.1997 – 1 StR 105/97, BGHSt 43, 79, 80; Beschluss vom 11.05.1995 – 4 StR 172/95, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 6; Urteile vom 12.10.1989 – 4 StR 445/89, BGHSt 36, 270, 275; vom 06.05.1960 – 4 StR 107/60, BGHSt 14, 287, 288 ff.; LK/Rissingvan Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., Rn. 33[]
  17. vgl. BGH, Urteile vom 30.04.1997 – 1 StR 105/97, BGHSt 43, 79, 80; vom 28.10.1958 – 5 StR 419/58, BGHSt 12, 94, 95; SSW-StGB/Eschelbach, 5. Aufl., § 55 Rn. 23; LK/Rissingvan Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., Rn. 22 f.; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 55 Rn. 21 ff.; NK-StGB/Frister, 5. Aufl., § 55 Rn. 22[]
  18. BGH, Beschluss vom 23.04.2020 – 1 StR 15/20, BGHSt 65, 5 Rn. 28 f.[]
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