Sachverhandlung durch Anordnung und Vollzug des Selbstleseverfahrens

Wird durch Anordnung und Vollzug des Selbstleseverfahrens zur Sache verhandelt? Mit dieser strafprozessualen Frage hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen. Konkret ging es dabei um die Frage, ob Anordnung und Vollzug des Selbstleseverfahrens eine fristwahrende Sachverhandlung im Sinne des § 229 Abs. 1, 2 und 4 Satz 1 StPO darstellten. Der Bundesgerichtshof bejahte dies und sah hierdurch die Vorschriften über die Höchstdauer der Unterbrechung der Hauptverhandlung gemäß § 229 Abs. 1, 2 und 4 Satz 1 StPO nicht als verletzt an:

Sachverhandlung durch Anordnung und Vollzug des Selbstleseverfahrens

Der Bundesgerichtshof erachtet die Anordnungen und Feststellungen des Vorsitzenden im Hauptverhandlungstermin zur Durchführung des Selbstleseverfahrens (§ 249 Abs. 2 Sätze 1 und 3 StPO) als Sachverhandlung im Sinne der Unterbrechungsvorschriften. Eine solche liegt vor, wenn die Verhandlung den Fortgang der zur Urteilsfindung führenden Sachverhaltsaufklärung betrifft1.

Entgegen der Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs2 stellen für den – vorliegend zur Entscheidung berufenen – 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs allein die Feststellungen des Vorsitzenden nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO schon eine inhaltliche Sachverhandlung dar. Die Feststellung, dass außerhalb der Hauptverhandlung eine Beweiserhebung durch Selbstlesung einer Urkunde stattgefunden hat, erschöpft sich nicht in deren Protokollierung3, sondern betrifft den Fortgang der zur Urteilsfindung führenden Sachaufklärung. Die Berufsrichter und die Schöffen geben auf Nachfrage des Vorsitzenden regelmäßig – wie auch hier – die festzustellende Erklärung ab, dass sie vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben; gleiches gilt für die Erklärung der übrigen Verfahrensbeteiligten, dass sie hierzu Gelegenheit hatten. Erst mit dem Akt der Feststellung durch den Vorsitzenden ist nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO dieser Teil einer Beweisaufnahme durch das Selbstleseverfahren abgeschlossen. Die Urkunde kann dann zum Gegenstand von Erklärungen (§ 257 StPO) gemacht werden. Dem Tatgericht ist es ohne die abschließende Feststellung verwehrt, die Urkunde zur Urteilsfindung heranzuziehen (§ 261 StPO)4.

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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshof sieht sich auch nicht gehalten, gemäß § 132 Abs. 2 und 3 GVG beim 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs anzufragen, ob er an seiner entgegenstehenden Rechtsauffassung festhält, weil der prozessuale Sachverhalt eine Besonderheit aufweist.

Der Vorsitzende der Strafkammer hat zwar teilweise hinsichtlich in der Hauptverhandlung vorausgegangener Anordnungen des Selbstleseverfahrens die Feststellungen nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO getroffen; eine insoweit auch getroffene wiederholte Anordnung mag ohne verfahrensrechtlichen Gehalt sein. In Bezug auf die Selbstleseliste lag aber noch keine Anordnung des Selbstleseverfahrens durch den Vorsitzenden vor, die in der Hauptverhandlung erfolgen muss, deren Inbegriff (§ 261 StPO) sie mitbestimmt. Die Verfügung des Vorsitzenden in der Terminsanberaumung, dass von der Verlesung der in dieser Liste angeführten Urkunden gemäß § 249 Abs. 2 StPO abgesehen werden solle, stellt noch keine Anordnung im Sinne dieser Vorschrift, sondern lediglich eine Vorankündigung zur Verfahrensgestaltung dar5. Jedenfalls insoweit bedurfte es – anders als etwa bei einem Beschluss nach § 247a StPO6 – in der Hauptverhandlung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO neben den gebotenen Feststellungen im Zusammenhang mit der Kenntnisnahme von den Urkunden noch einer Anordnung des Vorsitzenden. Diese erfolgte ausdrücklich – so dass es auf eine etwa mögliche konkludente Anordnung nicht ankommt – in dem hier in Streit stehenden Hauptverhandlungstermin vom 03.01.2012. Hierdurch unterscheidet sich der prozessuale Sachverhalt von dem vom 03. StrafBundesgerichtshof des Bundesgerichtshofs entschiedenen Fall, in dem die Anordnung des Selbstleseverfahrens an einem früheren Hauptverhandlungstag getroffen worden war und lediglich dessen Vollzug protokolliert wurde. Dass die Anordnung der Feststellung des Vollzugs des Selbstleseverfahrens durch Kenntnisnahme und Gelegenheit hierzu nicht vorausging, sondern ihr nachfolgte, ist zwar strukturell ungeschickt7, indes unschädlich8.

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Die Anordnung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO stellt unzweifelhaft eine Sachverhandlung dar, in gleicher Weise wie eine Beweisanordnung9, die Entgegennahme von die Sachverhaltsaufklärung betreffenden Verteidigeranträgen10 oder die Ladung von Zeugen nach einem gestellten Beweisantrag11. Allein die kurze Dauer des Termins am 3.01.2012 steht bei dem inhaltlichen Gehalt der Verhandlung der Annahme einer Sachverhandlung nicht entgegen12.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 28. November 2012

  1. BGH, Urteil vom 11.07.2008 – 5 StR 74/08; und Beschluss vom 22.06.2011 – 5 StR 190/11, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 9 und 13 mwN[]
  2. BGH, Beschluss vom 16.10.2007 – 3 StR 254/07, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 8[]
  3. vgl. hierzu Winkler, jurisPR-StrafR 6/2008 Anm. 1[]
  4. vgl. BGH, Beschluss vom 28.01.2010 – 5 StR 169/09, BGHSt 55, 31, 32[]
  5. vgl. auch Mosbacher in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 68, 69[]
  6. vgl. BGH, Beschluss vom 28.09.2011 – 5 StR 315/11, StV 2012, 65[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 28.08.2012 – 5 StR 251/12, NJW 2012, 3319[]
  8. vgl. BGH, Beschluss vom 10.01.2012 – 1 StR 587/11, NStZ 2012, 346, 347[]
  9. vgl. BGH, Urteil vom 19.04.2000 – 3 StR 442/99, NJW 2000, 2754: Beauftragung eines Sachverständigen[]
  10. BGH, Beschluss vom 06.07.2000 – 5 StR 613/99, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 5[]
  11. BGH, Urteil vom 19.08.2010 – 3 StR 98/10, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 11[]
  12. vgl. BGH, Beschlüsse vom 07.04.2011 – 3 StR 61/11 – und vom 22.06.2011 – 5 StR 190/11, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 12 und 13[]
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