Die rückwirkend in Kraft getretene Abwassergebührensatzung

Das rückwirkende Inkrafttreten einer neuen Satzung stellt weder eine Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO noch ein rückwirkendes Ereignis im Sinne § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar. Es besteht kein absoluter Vorrang des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung vor dem Prinzip der Rechtssicherheit. Beide Belange stehen sich vielmehr gleichwertig gegenüber. Die Abwägung beider Verfassungsprinzipien obliegt grundsätzlich dem Gesetzgeber.

Die rückwirkend in Kraft getretene Abwassergebührensatzung

Liegt bereits eine bestandskräftige Gebührenfestsetzung vor, wäre eine Abänderung nur dann möglich, wenn durch das rückwirkende Inkrafttreten der neuen Abgabensatzung die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 172 ff. AO (i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 4 c KAG) vorliegen würden. Dies ist nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Freiburg aber nicht der Fall:

Der begehrte Erlass eines Änderungsbescheids lässt sich nicht auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO1 stützen. Nach dieser Vorschrift können Abgabenbescheide zu Gunsten des Abgabenpflichtigen u.a. geändert werden, wenn Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Abgabe führen, und den Abgabenpflichtigen kein Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden trifft. Tatsache ist jeder Lebensvorgang, der insgesamt oder teilweise den gesetzlichen Steuertatbestand oder ein einzelnes Merkmal dieses Tatbestands erfüllt; also Zustände und Vorgänge der Seinswelt, die Eigenschaften der Gegenstände dieser Seinswelt und die gegenseitigen Beziehungen zwischen diesen Gegenständen2.

Es ist nicht ersichtlich, dass in Bezug auf die Festsetzung der Abwassergebühren für das Jahr 1998 Tatsachen in diesem Sinne nachträglich bekannt geworden sind. Das in den Jahren 2010 und 2014 erfolgte rückwirkende Inkrafttreten einer neuen Satzung stellt jeweils eine Rechtsänderung und keine Tatsache dar3.

Bei den subjektiven Vorstellungen des Gemeinderats bei Erlass der neuen Satzung mag es sich zwar möglicherweise um innere Tatsachen handeln. Sie stellen jedoch offensichtlich keinen Sachverhalt dar, der im Rahmen eines Abgabentatbestandes rechtlich relevant sein könnte. Sie wären daher auch ersichtlich ungeeignet, zu einer niedrigeren Abgabe zu führen und sind damit eine im Hinblick auf die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO unerhebliche Tatsache.

Die begehrte Abänderung ist auch nicht von § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO gedeckt. Danach ist ein Steuerbescheid zu ändern, wenn ein Ereignis eintritt, das abgabenrechtliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Der rückwirkende Erlass einer neuen Satzung (wie auch die rückwirkende Änderung von Steuergesetzen) stellt jedoch kein rückwirkendes Ereignis im Sinne dieser Vorschrift dar, denn er verändert nur den satzungsrechtlichen Tatbestand rückwirkend, nicht aber den eigentlichen Lebenssachverhalt selbst4.

Dies gilt unabhängig von den subjektiven Vorstellungen des Satzungsgebers. Daher ist der in der mündlichen Verhandlung gestellte unbedingte Beweisantrag der Kläger, der darauf gerichtet ist, den subjektiven „Willen“ des Satzungsgebers bei Erlass der Satzung vom 23.10.14 zu ermitteln, auch in diesem Zusammenhang auf den Beweis einer unerheblichen Tatsache gerichtet.

Der in § 176 AO gewährte Vertrauensschutz kann von vornherein keinen Anspruch auf Änderung eines bestandskräftigen Abgabenbescheids begründen. § 176 AO schützt in seinem tatbestandlichen Anwendungsbereich allein das Vertrauen in den Bestand eines bestandskräftigen Abgabenbescheids5.

Der geltend gemachte Anspruch ergibt sich ach alledem auch nicht aus dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben (§ 242 BGB) oder aus sonstigen allgemeinen Billigkeitserwägungen. Hierfür besteht hier schon aus Gründen der Rechtsklarheit, Rechtssicherheit und Nachvollziehbarkeit des Abgabenrechts kein Raum6.

Hoheitliches Handeln ist zwar einerseits durch die Bindung an Gesetz und Recht (Art.20 Abs. 3 GG) der Rechtsrichtigkeit verpflichtet. Die jederzeitige Abänderbarkeit hoheitlicher Maßnahmen zugunsten der materiellen Richtigkeit wird jedoch durch das Prinzip der Rechtssicherheit eingeschränkt, das – als Anliegen des Rechtsstaatsprinzips – Verlässlichkeit als Gerechtigkeitskriterium postuliert. Entgegen der Auffassung der Kläger besteht dabei kein absoluter Vorrang des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Beide Belange stehen sich vielmehr gleichwertig gegenüber7. Die Abwägung beider Verfassungsprinzipien obliegt grundsätzlich dem Gesetzgeber. Sie hat hier ihren Niederschlag in der ausdifferenzierten Regelung der §§ 172?ff. AO gefunden. Danach wird die Änderung bestandskräftiger Verwaltungsakte zugunsten der materiellen Richtigkeit nur unter bestimmten tatbestandlichen Voraussetzungen zugelassen. In allen anderen Fällen ist deren Rechtswidrigkeit hinzunehmen. Dieses ausdifferenzierte Regelungssystem kann grundsätzlich nicht durch einen Rückgriff auf allgemeine Rechtsgedanken ausgehebelt werden.

Verwaltungsgericht Freiburg, Urteil vom 11. November 2015 – 1 K 2954/14

  1. i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 4 c KAG[]
  2. Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 173 AO Rn. 1[]
  3. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 22.04.2013 – 2 S 598/13 – KStZ 2013, 236; Koenig in: Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl., § 173 Rn. 12; von Wedelstädt in: Beermann/Gosch, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rn. 9; Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 173 AO Rn. 3[]
  4. vgl. Koenig in: Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl., § 175 Rn. 38; Rüsken in: Klein, AO, 9. Aufl., § 175 Rn. 80; Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 175 AO Rn. 42[]
  5. vgl. Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 176 AO Rn. 3[]
  6. vgl. zum Erschließungsbeitragsrecht: BVerwG, Urteil vom 24.02.2010 – 9 C 1.09, BVerwGE 136, 126[]
  7. vgl. hierzu und zum Folgenden m.w. Nachw.: Koenig, AO, 3. Aufl., Vor §§ 172-177 Rn. 1[]