Informatorische Anhörung statt Beweiserhebung?

Eine informatorische Anhörung von Personen, die nicht den strengen Regeln der anzuwendenden Bestimmungen der Zivilprozessordnung über den Zeugenbeweis genügt, kann nicht an die Stelle einer Zeugenvernehmung treten, wenn die entscheidungserheblichen Tatsachen und Umstände zwischen den Beteiligten streitig geblieben sind.

Informatorische Anhörung statt Beweiserhebung?

Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (Überzeugungsgrundsatz). Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung einer Tatsacheninstanz ist der Beurteilung des Revisionsgerichts nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geht. Rügefähig ist damit nicht das Ergebnis der Beweiswürdigung, sondern nur der Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. Derartige Mängel liegen insbesondere vor, wenn das angegriffene Urteil von einem falschen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, also beispielsweise entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder auf einer aktenwidrigen Tatsachengrundlage basiert. Die Einhaltung der verfahrensmäßigen Verpflichtungen des Tatsachengerichts ist nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter ein aus seiner Sicht fehlerhaftes Ergebnis der gerichtlichen Verwertung des vorliegenden Tatsachenmaterials rügt, aus dem er andere Schlüsse ziehen will als das angefochtene Urteil. Die Beweiswürdigung des Tatsachengerichts darf vom Revisionsgericht nicht daraufhin überprüft werden, ob sie überzeugend ist, ob festgestellte Einzelumstände mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die abschließende Beweiswürdigung eingegangen sind und ob diese Einzelumstände die Würdigung tragen. Solche Fehler sind revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen und können einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO grundsätzlich nicht begründen. Ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz hat jedoch dann den Charakter eines Verfahrensfehlers, wenn das Tatsachengericht allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze verletzt1. Das Ergebnis der gerichtlichen Beweiswürdigung selbst ist vom Revisionsgericht nur daraufhin nachzuprüfen, ob es gegen Logik (Denkgesetze) und Naturgesetze verstößt oder gedankliche Brüche und Widersprüche enthält2.

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Eine informatorische Anhörung (§ 103 Abs. 3, § 104 Abs. 1 VwGO) ist weder formell noch inhaltlich der Zeugenvernehmung (§ 96 Abs. 1 Satz 2, § 98 VwGO i.V.m. § 373 ff. ZPO) gleich zu achten. Die als Zeuge zu hörende Person ist einzeln und in Abwesenheit etwaiger später anzuhörenden Zeugen zu vernehmen (§ 394 Abs. 1 ZPO), als Zeuge zu belehren (§ 395 Abs. 1 ZPO) und zur Person zu befragen (§ 395 Abs. 2 ZPO). Die Zeugenaussage ist in einer den Anforderungen nach § 160 Abs. 3 Nr. 4, § 162 ZPO entsprechenden Weise zu protokollieren. Eine informatorische Anhörung von Personen, die nicht den strengen Regeln der anzuwendenden Bestimmungen der Zivilprozessordnung über den Zeugenbeweis genügt, kann nicht an die Stelle einer Zeugenvernehmung treten, wenn die entscheidungserheblichen Tatsachen und Umstände zwischen den Beteiligten streitig geblieben sind3. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass das Gericht Erklärungen im Rahmen einer informatorischen Anhörung würdigt. Solche Erklärungen dienen aber nur der Klarstellung und Ergänzung des Beteiligtenvorbringens; sie sind von der Vernehmung eines Zeugen zu unterscheiden und vermögen diese auch nicht zu ersetzen. Die Anhörung ist kein Beweismittel4. Würdigt das Tatsachengericht dennoch die Erklärungen des informatorisch Befragten so wie es dessen Vernehmung hätte würdigen dürfen, verkennt es also den Unterschied zwischen informatorischer Anhörung und Vernehmung eines Zeugen im Rahmen seiner Beweiswürdigung, liegt darin ein Verfahrensfehler5.

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So auch in dem hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall: 

Nach dem Protokoll der mündlichen Verhandlung hat das Berufungsgericht den früheren Vorgesetzten des Klägers, Forstdirektor B., lediglich informatorisch befragt, nicht förmlich als Zeugen vernommen. Zwar hat der Beklagte dem früheren Vorgesetzten eine Aussagegenehmigung erteilt, über die ihm dienstlich bekannt gewordenen Tatsachen und Umstände als Zeuge auszusagen. Die Vorlage der Aussagegenehmigung ist auch im Protokoll der mündlichen Verhandlung in einem Klammerzusatz erwähnt. Es fehlt jedoch an den weiteren Förmlichkeiten einer Zeugenvernehmung. Das Berufungsgericht hat weder einen Beweisbeschluss noch eine formlose Beweisanordnung vor Anhörung des früheren Vorgesetzten erlassen, ihn nicht zur Person befragt und belehrt, nicht zur wahrheitsgemäßen Aussage ermahnt und auf die Möglichkeit der Beeidigung (§ 98 VwGO i.V.m. § 395 Abs. 1 und 2 ZPO) hingewiesen. Seine Erklärungen wurden auch nicht protokolliert (vgl. § 160 Abs. 3 Nr. 4, § 162 ZPO). Schließlich enthält das Sitzungsprotokoll keinen Hinweis darauf, dass den Beteiligten Gelegenheit gegeben wurde, zu einer durchgeführten Beweisaufnahme Stellung zu nehmen. Es bestand lediglich für den Kläger und seinen Bevollmächtigten die Möglichkeit, zu den Ausführungen des früheren Vorgesetzten des Klägers Stellung zu nehmen.

Dennoch hat das Berufungsgericht in den Urteilsgründen die auf die informatorische Befragung abgegebenen Erklärungen des früheren Vorgesetzten in einer Weise verwertet, die einer Beweiswürdigung entspricht. Bei der Ermittlung des dem Bewährungsurteil zugrundeliegenden, zwischen Kläger und Beklagtem streitigen Sachverhalts hat es sich maßgebend auf die Erklärungen des früheren Vorgesetzten gestützt. Das Berufungsgericht hat diese Erklärungen, die es im Übrigen zum Teil selbst als Aussage bezeichnet hat, in der Art der Würdigung einer Zeugenaussage ausgewertet. Im Ergebnis dieser Würdigung ist es zu der Überzeugung gelangt, dass bezogen auf die Tätigkeit des Klägers im Forstamt von dem Sachverhalt auszugehen ist, wie er sich nach den Schilderungen des früheren Vorgesetzten darstellt. Damit hat das Berufungsgericht die informatorische Anhörung des früheren Vorgesetzten als unzulässigen Ersatz für die gebotene Beweiserhebung verwertet. Angesichts des widerstreitenden Vorbringens der Beteiligten zum dienstlichen Verhalten des Klägers wäre die Beweiserhebung durch Einvernahme des früheren Vorgesetzten als Zeugen geboten gewesen.

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Von der Vernehmung des früheren Vorgesetzten durfte das Oberverwaltungsgericht auch nicht im Hinblick auf die Regelung des § 295 ZPO absehen, weil der in der Berufungsverhandlung anwaltlich vertretene Kläger nicht gerügt hat, dass sein früherer Vorgesetzter lediglich informatorisch befragt wird. Ob ein Verfahrensverstoß vorliegt, konnte der Kläger erst abschließend beurteilen, nachdem ihm die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils vorlagen. Erst die Entscheidungsgründe gaben Aufschluss darüber, dass das Berufungsgericht die informatorische Anhörung wie eine Zeugeneinvernahme verwertet hat6. Der Kläger war auch nicht gehalten, das Berufungsgericht vorbeugend auf eventuelle Verfahrensverstöße aufmerksam zu machen7.

Ohne die gebotene Zeugenvernehmung fehlt es an einer richterlichen Überzeugungsbildung, die das gewonnene Gesamtergebnis des Verfahrens zu tragen geeignet wäre. Der Verfahrensfehler ist beachtlich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn es die Zeugenvernehmung durchgeführt hätte.

Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 19. Mai 2022 – 2 B 41.21

  1. stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2017 – 2 B 2.16 15; und vom 08.06.2017 – 2 B 5.17 17[]
  2. stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 03.05.2007 – 2 C 30.05, Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 50 Rn. 16 sowie Beschlüsse vom 23.09.2013 – 2 B 51.13 19; vom 28.03.2017 – 2 B 9.16 17; und vom 28.01.2020 – 2 B 15.19, Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 87 Rn. 15[]
  3. vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.04.2006 – 6 PB 1.06, Buchholz 251.7 § 72 NWPersVG Nr. 35 Rn. 15 ff.[]
  4. vgl. BVerwG, Urteil vom 03.02.1982 – 6 C 106.81, Buchholz 448.0 § 25 WPflG Nr. 127 S. 23[]
  5. vgl. BVerwG, Urteil vom 23.01.1981 – 4 C 88.77, Buchholz 406.11 § 35 BBauGB Nr. 179 S. 12 f. zur Notwendigkeit einer Vernehmung von Beteiligten[]
  6. vgl. BGH, Urteil vom 16.07.1998 – I ZR 32/96 – NJW 1999, 363 <364>[]
  7. vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 18.07.2001 – 2 BvR 982/00 – InfAuslR 2001, 463 Rn.20[]
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  • Bundesverwaltungsgericht: Robert Windisch