Palästinaflüchtlinge

Ein vertriebener Palästinenser genießt den Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge nur dann, wenn er ihn tatsächlich in Anspruch nimmt, entschied heute der Gerichtshof der Europäischen Union.

Palästinaflüchtlinge

Die Organisation der Vereinten Nationen hat das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East – UNRWA) errichtet, um den vertriebenen Palästinensern Hilfe und Beistand zu leisten, die sich im Libanon, in Syrien, in Jordanien, im Westjordanland (einschließlich Ostjerusalems) und im Gazastreifen befinden. Die Dienste der UNRWA sind grundsätzlich Palästinensern, die in diesen Gebieten leben und infolge des Konflikts von 1948 Heim und Existenzgrundlage verloren haben, sowie ihren Nachkommen zugänglich.

Die Genfer Konvention1 definiert, wer unter welchen Umständen als Flüchtling anzuerkennen ist und was diese Anerkennung impliziert. Im Kontext der Europäischen Union sind die sich aus dieser Konvention ergebenden Verpflichtungen in die Richtlinie 2004/832 übernommen worden.

Nach der Genfer Konvention findet der Ausdruck „Flüchtling“ auf jede Person Anwendung, die

„aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“

Die Konvention sieht allerdings vor, dass diese Bestimmungen keine Anwendung auf Personen finden, die zurzeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) genießen, wie z. B. der UNRWA. Ist dieser Schutz oder diese Unterstützung jedoch aus irgendeinem Grund weggefallen, ohne dass das Schicksal dieser Personen endgültig geregelt worden ist, so fallen diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen dieser Konvention.

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2007 reiste Frau Nawras Bolbol, eine staatenlose Palästinenserin, die mit ihrem Ehemann den Gazastreifen verlassen hatte, mit einem Visum nach Ungarn ein. Sie stellte beim ungarischen Amt für Zuwanderung einen Asylantrag, weil sie angesichts der unsicheren Lage im Gazastreifen wegen der täglichen Zusammenstöße von Fatah und Hamas nicht dorthin zurückkehren wollte.

Frau Bolbol hat im Gazastreifen den Schutz und den Beistand der UNRWA nicht in Anspruch genommen, sie macht jedoch geltend, sie sei wegen ihrer Verwandtschaftsbeziehungen dazu berechtigt gewesen. Als Palästinenserin, die nunmehr außerhalb des Tätigkeitsbereichs der UNRWA wohne, habe sie einen Anspruch auf uneingeschränkte Anerkennung als Flüchtling. Das ungarische Amt für Zuwanderung lehnte ihren Antrag mit der Begründung ab, sie habe ihren Herkunftsstaat nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der nationalen Zugehörigkeit oder politischer Verfolgung verlassen und habe keinen Anspruch auf automatische Anerkennung als Flüchtling.

Frau Bolbol focht diese Entscheidung vor dem F?városi Bíróság (hauptstädtisches Gericht von Budapest, Ungarn) an, das zu prüfen hat, ob sich Frau Bolbol auf die besonderen Vorschriften der Konvention für vertriebene Palästinenser berufen kann. In diesem Zusammenhang möchte das ungarische Gericht im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens vom Gerichtshof der Europäischen Union wissen, ob eine Person den Schutz oder Beistand der UNRWA schon dann genießt, wenn sie einen Anspruch auf diesen Schutz oder Beistand hat, oder ob es erforderlich ist, dass sie diesen Schutz oder Beistand tatsächlich in Anspruch nimmt.

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In seinem heute verkündeten Urteil weist der Gerichtshof der Europäischen Union zunächst darauf hin, dass unter den Begriff „Palästinaflüchtling“ jede Person fällt, die infolge des Konflikts von 1948 ihr Heim in Palästina und ihre Existenzgrundlage verloren hat, dass jedoch auch andere Personen den Beistand oder Schutz der UNRWA beanspruchen können. Der Europäische Gerichtshof stellt insbesondere fest, dass infolge späterer Feindseligkeiten in der Region weitere Gruppen von Palästinensern vertrieben worden sind, die die Hilfe der UNRWA in Anspruch nehmen können.

Die besonderen Vorschriften der Konvention für vertriebene Palästinenser betreffen jedoch nur Personen, die zurzeit den Schutz oder Beistand der UNRWA genießen. Folglich fallen nur die Personen, die die von der UNRWA geleistete Hilfe tatsächlich in Anspruch nehmen, unter diese besonderen Vorschriften. Personen, die lediglich berechtigt sind oder waren, den Schutz oder Beistand dieses Hilfswerks in Anspruch zu nehmen, fallen dagegen unter die allgemeinen Vorschriften der Konvention. Ihre Anträge auf Anerkennung als Flüchtling sind daher individuell zu prüfen, und es kann ihnen nur im Fall einer Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder aus politischen Gründen stattgegeben werden.

Zur Frage des Nachweises der tatsächlichen Inanspruchnahme der Hilfe der UNRWA stellt der Gerichtshof der Europäischen Union fest, dass die Registrierung bei diesem Hilfswerk zwar ein ausreichender Nachweis ist, dass es dem Betroffenen jedoch auch möglich sein muss, den Nachweis auf andere Weise zu erbringen.

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Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 17. Juni 2010 – C-31/09 [Nawras Bolbol/Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal]

  1. Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951[]
  2. Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. L 304, S. 12, mit Berichtigung in ABl. 2005, L 204, S. 24[]