Die Nichtausübung eines verbrieften Rückgaberechts stellt in einem sogenannten „Dieselfall“ den für die Erwerbskausalität geltenden Erfahrungssatz nicht in Frage, dass der Geschädigte in Kenntnis sämtlicher Umstände und mit Rücksicht auf das damit einhergehende Stilllegungsrisiko das mit einer Umschaltlogik versehene Fahrzeug nicht gekauft hätte1.

Der Bundesgerichtshof hat in Bezug auf den Fortbestand des Schadens, hinsichtlich des Rechtsgedankens der Bestätigung (§ 144 BGB), im Hinblick auf Treu und Glauben gemäß § 242 BGB, bezüglich der Schadensminderungspflicht gemäß § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB und mit Rücksicht auf die für Leasingverträge geltenden Grundsätze bereits entschieden, dass diesem Umstand keine rechtliche Bedeutung zukommt2.
Offen geblieben ist dies lediglich noch für die vom Berufungsgericht erörterte Frage nach dem Einfluss der Nichtausübung eines verbrieften Rückgaberechts auf die Erwerbskausalität. Der Bundesgerichtshof hat zwar in einem Urteil vom 16.12.20213 die Anwendung des die Erwerbskausalität betreffenden Erfahrungssatzes gebilligt, dass ein Käufer in Kenntnis sämtlicher Umstände und mit Rücksicht auf das damit einhergehende Stilllegungsrisiko das Fahrzeug nicht erworben hätte. Zugleich hat er seine Entscheidung aber darauf gestützt, dass die Revision dort eine bewusste Inkaufnahme eines Stilllegungsrisikos nach dem Aufspielen des Software-Updates, die möglicherweise Rückschlüsse auf die Erwerbskausalität zulasse, nicht geltend gemacht habe4. An dieser Stelle hat der Bundesgerichtshof ausdrücklich offengelassen, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen die Nichtausübung eines verbrieften Rückgaberechts einem Schadensersatzanspruch gemäß §§ 826, 31 BGB unter dem Gesichtspunkt der Erwerbskausalität entgegenstehen könne.
Diese bisher offene Frage ist dahin zu beantworten, dass die Nichtausübung eines verbrieften Rückgaberechts die Geltung des Erfahrungssatzes unangetastet lässt, der Geschädigte hätte das Fahrzeug in Kenntnis der Manipulation nicht erworben.
Die Erwerbskausalität betrifft die dem Kauf des bemakelten Fahrzeugs zugrundeliegenden Erwägungen und Vorstellungen des geschädigten Käufers, also innere Tatsachen. Solche Tatsachen können in der Regel nicht unmittelbar bewiesen werden. Allerdings kann der Tatrichter seine Überzeugung vom Bestehen der Erwerbskausalität auf den bereits angeführten Erfahrungssatz stützen, dass ein Käufer in Kenntnis sämtlicher Umstände und mit Rücksicht auf das damit einhergehende Stilllegungsrisiko das Fahrzeug nicht erworben hätte5.
Dieser Erfahrungssatz gilt, was im Revisionsverfahren geklärt werden kann, weil die Existenz und der Inhalt eines Erfahrungssatzes sowie seine Anwendung durch den Tatrichter der vollen revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegen6, auch in den Fällen der Nichtausübung eines verbrieften Rückgaberechts.
Die Anwendung eines Erfahrungssatzes kann unter zwei Gesichtspunkten in Frage gestellt werden: Zum einen kann der dem Erfahrungssatz zugrundeliegende Lebenssachverhalt und damit die Anwendbarkeit des Erfahrungssatzes in Abrede gestellt werden7. Denn der zu entscheidende Sachverhalt muss, damit der Erfahrungssatz Anwendung finden kann, in seinen wesentlichen Merkmalen mit den das Kollektiv des Erfahrungssatzes bildenden Fällen übereinstimmen8. Zum anderen können Umstände dargetan und bewiesen werden, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs ergibt, so dass der regelmäßig gerechtfertigte Schluss nicht mehr hinreichend sicher erscheint9. (2) Beides trifft hier nicht zu. Die Nichtausübung eines verbrieften Rückgaberechts betrifft weder den der Anwendung des Erfahrungssatzes zugrundeliegenden Sachverhalt noch begründet sie die Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs. Denn ihr können ganz verschiedene, mit dem Kauf des Fahrzeugs nicht in einem Zusammenhang stehende Erwägungen des Käufers zugrunde liegen. So kann der Käufer etwa aufgrund eines Vergleichs der mit der Verfolgung eines Schadensersatzanspruchs verbundenen wirtschaftlichen Vorteile einerseits und der finanziellen Folgen der Ausübung des verbrieften Rückgaberechts andererseits zu dem Schluss gelangen, dass ein Gebrauch des Rückgaberechts für ihn nicht in Betracht kommt. Dabei kann auch von Bedeutung sein, dass der Käufer das Risiko einer noch möglichen Fahrzeugstilllegung mit Rücksicht auf die seit dem Bekanntwerden des sogenannten „Diesel-Skandals“ vergangene Zeit, die bisher vom KBA getroffenen Maßnahmen und die Durchführung eines Software-Updates für vernachlässigbar erachtet. Schließlich sind auch veränderte Umstände bezogen auf den Stellenwert der Nutzung des betroffenen Fahrzeugs denkbar. Da der Nichtausübung eines verbrieften Rückgaberechts demnach eine kaum bestimmbare Zahl von Erwägungen zugrunde liegen kann, die in keinem Zusammenhang mit den Vorstellungen des Käufers beim Abschluss des schadensbegründenden Kaufvertrags stehen, handelt es sich dabei um einen nicht spezifischen Umstand, der als solcher für die Anwendung des Erfahrungssatzes nicht von Bedeutung ist.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 7. November 2022 – VIa ZR 325/21
- Fortführung von BGH, Urteil vom 16.12.2021 – VII ZR 389/21, VersR 2022, 391 Rn. 12 ff. und Urteil vom 11.04.2022 – VIa ZR 135/21 6[↩]
- BGH, Urteil vom 16.12.2021 – VII ZR 389/21, NJW 2022, 1674 Rn. 16 ff.; Urteil vom 11.04.2022 VIa ZR 135/21 8[↩]
- VII ZR 389/21, NJW 2022, 1674 Rn. 12 mwN[↩]
- BGH, Urteil vom 16.12.2021, aaO, Rn. 13[↩]
- BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 51; vgl. Heese, JZ 2020, 178, 182[↩]
- BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 50 mwN; vgl. Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, 1975, S. 169; Konzen, FS Gaul 1997, S. 335, 351 f.; Lames, Rechtsfortbildung als Prozesszweck, 1993, S. 71 f.; Oestmann, JZ 2003, 285, 289 f.; auch schon Stein, Das private Wissen des Richters, 1893, S. 106[↩]
- vgl. Balzer/Walther, Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess, 4. Aufl., Rn. 39[↩]
- Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 1975, S. 94; zur Gründung von Erfahrungssätzen auf „Beobachtungsfällen“ bereits Stein, Das private Wissen des Richters, 1893, S.19; daran anknüpfend etwa Konzen, FS Gaul 1997, S. 335[↩]
- vgl. Musielak, aaO, S. 97; Walter, ZZP 90 [1977], 270, 282[↩]