Das Bundesarbeitsgericht hat ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshofs der Europäischen Union zu Rechtsfragen der Arbeitnehmerbeteiligung in einer „arbeitnehmerlosen SE“ als Konzernobergesellschaft gerichtet.

Der Erste Xenat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshofs der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV darum, die Fragen zu beantworten:
- Ist Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 in Verbindung mit Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG dahin auszulegen, dass bei der Gründung einer Holding-SE durch beteiligte Gesellschaften, die keine Arbeitnehmer beschäftigen und nicht über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften verfügen, sowie ihrer Eintragung in das Register eines Mitgliedstaats (sog. „arbeitnehmerlose SE“) ohne vorherige Durchführung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE nach dieser Richtlinie dieses Verhandlungsverfahren nachzuholen ist, wenn die SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird?
- Sollte der Unionsgerichtshof die erste Frage bejahen:
Ist die nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens in einem solchen Fall ohne zeitliche Begrenzung möglich und geboten?- Sollte der Unionsgerichtshof die zweite Frage bejahen:
Steht Art. 6 der Richtlinie 2001/86/EG einer Anwendung des Rechts desjenigen Mitgliedstaats, in dem die SE jetzt ihren Sitz hat, für eine nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens entgegen, wenn die „arbeitnehmerlose SE“ in einem anderen Mitgliedstaat ohne vorherige Durchführung eines solchen Verfahrens in das Register eingetragen und noch vor der Verlegung ihres Sitzes herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union wurde?- Sollte der Unionsgerichtshof die dritte Frage bejahen:
Gilt dies auch, wenn der Staat, in dem diese „arbeitnehmerlose SE“ erstmals eingetragen wurde, nach deren Sitzverlegung aus der Europäischen Union ausgetreten ist und sein Recht keine Vorschriften über die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE mehr enthält?
Dem zugrunde liegt ein Beschlussverfahren, in dem die Beteiligten darüber streiten, ob ein Verhandlungsverfahren über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der Societas Europaea (SE) einzuleiten ist und damit im Zusammenhang stehende Informationen zu erteilen sind. Antragsteller ist der bei der O SE & Co. Kommanditgesellschaft (O KG) gebildete Konzernbetriebsrat. Beteiligte zu 2. ist die Leitung (hier Vorstand) der O Holding SE (Holding SE). Die Holding SE wurde Anfang 2013 nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 (SE-VO) durch die O Limited (Ltd.) und die O Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) gegründet und am 28.03.2013 in das Register für England und Wales eingetragen. Die an der Gründung beteiligten Gesellschaften beschäftigten keine Arbeitnehmer und hatten keine Tochtergesellschaften im Sinn von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/86/EG, bei denen Arbeitnehmer beschäftigt waren. Deshalb fanden vor der Eintragung der Holding SE in das Register keine Verhandlungen über eine Arbeitnehmerbeteiligung nach Art. 3 bis 7 der genannten Richtlinie statt. Die Holding SE war ab dem 29.03.2013 alleinige Gesellschafterin der O Holding GmbH. Diese hatte ihren Sitz in Hamburg und verfügte über einen Aufsichtsrat, der zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern bestand. Am 14.06.2013 beschloss die Holding SE, die O Holding GmbH in eine Kommanditgesellschaft – die O KG – umzuwandeln. Der Formwechsel wurde am 2.09.2013 in das Register eingetragen. Infolge der Umwandlung entfiel die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Die Holding SE war und ist Kommanditistin der O KG im Sinn von § 161 Abs. 1 Handelsgesetzbuch (HGB). Persönlich haftende Gesellschafterin der O KG im Sinn von § 161 Abs. 1 HGB war und ist die O Management SE (Management SE), deren alleinige Anteilseignerin die Holding SE ist. Die Management SE, die ihren Sitz in Hamburg hat, verfügt über einen Verwaltungsrat (monistisches System). Weder die Holding SE noch die Management SE beschäftigen eigene Arbeitnehmer. Bei der O KG sind etwa 816 Arbeitnehmer tätig. Sie hat Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union, bei denen insgesamt ca.02.200 Arbeitnehmer beschäftigt sind.
Mit Wirkung zum 4.10.2017 verlegte die Holding SE ihren Sitz nach Hamburg. Der antragstellende Konzernbetriebsrat der O KG hat in dem von ihm eingeleiteten Beschlussverfahren gemeint, die Leitung der Holding SE sei verpflichtet, ein Verfahren zur Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums einzuleiten. Da die Holding SE in mehreren Mitgliedstaaten über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften im Sinn von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/86/EG verfüge, seien die – grundsätzlich vor der Eintragung einer SE durchzuführenden – Verhandlungen über die Arbeitnehmerbeteiligung nachzuholen. Die Leitung der Holding SE hat die Auffassung vertreten, es bestehe keine Pflicht, solche Verhandlungen nachträglich durchzuführen. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Anträge abgewiesen.
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in diesem Beschlussverfahren hängt im Ausgangspunkt von der Frage ab, ob Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 in Verbindung mit Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG dahin auszulegen ist, dass bei der Gründung einer Holding-SE durch beteiligte Gesellschaften, die keine Arbeitnehmer beschäftigen und nicht über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften verfügen, sowie ihrer Eintragung in das Register eines Mitgliedstaats (sog. „arbeitnehmerlose SE“) ohne vorherige Durchführung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE nach dieser Richtlinie dieses Verhandlungsverfahren nachzuholen ist, wenn die SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird.
Mit seinen – als einheitliches Begehren zu verstehenden – Anträgen erstrebt der Konzernbetriebsrat die nachträgliche Einleitung eines Verhandlungsverfahrens nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/86/EG. Die Leitung soll die Arbeitnehmervertretungen oder – wenn eine Arbeitnehmervertretung im Einzelfall nicht besteht – die Arbeitnehmer ihrer Tochtergesellschaften in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union auffordern, ein besonderes Verhandlungsgremium zu bilden. Sie soll zudem die für die Durchführung des Verhandlungsverfahrens notwendigen Informationen erteilen.
Der Prüfung, ob dieses Begehren erfolgreich ist, ist nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts das SE-Beteiligungsgesetz und damit das Recht des Mitgliedstaats zugrunde zu legen, in dem die Holding SE aktuell ihren Sitz hat.
Der Geltungsbereich des SE-Beteiligungsgesetzes ist nach dessen § 3 Abs. 1 Satz 1 eröffnet. Die Vorschriften dieses Gesetzes gelten sowohl für eine SE, die mit Sitz in Deutschland gegründet wird, als auch für eine SE, die ihren Sitz zunächst in einem anderen (ehemaligen) Mitgliedstaat der Europäischen Union hatte, den Sitz in der Folgezeit aber nach Deutschland verlegt1. Letzteres ist im Ausgangsverfahren der Fall. Die Holding SE hatte ihren Sitz nach der Gründung zwar zunächst in England. Der Sitz wurde jedoch nach Hamburg verlegt. Die Sitzverlegung wurde zu dem Zeitpunkt wirksam, zu dem sie nach Art. 12 im Register des neuen Sitzes eingetragen wurde (vgl. Art. 8 Abs. 10 SE-VO). Die Eintragung in das Handelsregister erfolgte am 4.10.2017. Seit diesem Zeitpunkt ist das SE-Beteiligungsgesetz auf die Holding SE anwendbar.
Aus Art. 6 der Richtlinie 2001/86/EG folgt nach Auffassung des vorlegenden Gerichts nichts Gegenteiliges. Zwar bestimmt die Vorschrift, dass, sofern in der Richtlinie nichts anderes vorgesehen ist, für das Verhandlungsverfahren gemäß den Art. 3 bis 5 der Richtlinie das Recht des Mitgliedstaats maßgeblich ist, in dem die SE „ihren Sitz haben wird“. Der Regelung liegt nach dem Verständnis des Bundesarbeitsgerichts aber die Vorstellung zugrunde, dass das Verhandlungsverfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE stets im Rahmen ihrer Gründung und vor ihrer Eintragung durchzuführen ist. Dies zeigt schon Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie. Danach müssen die Leitungs- oder Verwaltungsorgane der beteiligten Gesellschaften, die die Gründung einer SE planen, unter anderem nach der Offenlegung des Gründungsplans für eine Holdinggesellschaft so rasch wie möglich die erforderlichen Schritte für die Aufnahme von Verhandlungen über eine Vereinbarung über die Arbeitnehmerbeteiligung in der SE einleiten. Zu diesem Zweck ist ein besonderes Verhandlungsgremium als Vertretung der Arbeitnehmer der beteiligten Gesellschaften sowie der betroffenen Tochtergesellschaften oder betroffenen Betriebe einzusetzen. Auch Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Richtlinie verdeutlicht dies. Danach hängt die Anwendung der Auffangregelung, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats festgelegt ist, in dem die SE ihren Sitz haben soll, unter anderem davon ab, dass das zuständige Organ jeder der beteiligten Gesellschaften dem „und damit der Fortsetzung des Verfahrens zur Eintragung der SE zugestimmt hat“. Bestätigt wird dieses Verständnis von Art. 6 der Richtlinie durch die Regelungen der SE-VO. Der Erwägungsgrund 19 und Art. 1 Abs. 4 SE-VO lassen erkennen, dass die Richtlinie 2001/86/EG eine untrennbare Ergänzung der Verordnung darstellt. Nach Art. 16 Abs. 1 SE-VO erwirbt eine SE erst mit ihrer Eintragung in das Register die Rechtspersönlichkeit. Die Eintragung kann nach Art. 12 Abs. 2 SE-VO jedoch erst dann erfolgen, wenn eine Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer gemäß Art. 4 der Richtlinie 2001/86/EG geschlossen wurde, das besondere Verhandlungsgremium einen Beschluss nach Art. 3 Abs. 6 der Richtlinie gefasst hat oder die Verhandlungsfrist nach Art. 5 der Richtlinie erfolglos abgelaufen ist.
Auch aus Art. 8 Abs. 16 SE-VO, der eine Fiktion des Sitzes im Wegzugstaat vorsieht, ergibt sich nichts anderes. Die Regelung zielt darauf ab, Gläubiger der SE vor den Folgen einer Sitzverlegung zu schützen, indem sie einen inländischen Gerichtsstand für Altforderungen begründet2. Sie erfasst nicht die Durchführung des Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE. Das Verhandlungsverfahren wird nach Art. 1 Abs. 4 SE-VO durch die Richtlinie 2001/86/EG geregelt.
Die Regelungen des SE-Beteiligungsgesetzes enthalten keine ausdrückliche rechtliche Grundlage für das Begehren des Konzernbetriebsrats auf Einleitung eines Verhandlungsverfahrens über die Beteiligung der Arbeitnehmer nach Gründung und Eintragung einer Holding-SE.
§ 4 SEBG erfasst nicht den Fall der Nachholung eines solchen Verfahrens. Die Vorschriften in §§ 4 bis 17 sowie §§ 19 und 20 SEBG regeln lediglich die Bildung, Zusammensetzung und Wahl des besonderen Verhandlungsgremiums sowie das Verhandlungsverfahren bei der geplanten Gründung einer SE, nicht auch nach deren Gründung und Eintragung.
Auch § 18 SEBG findet auf Fälle wie diesen nicht unmittelbar Anwendung.
Nach § 18 Abs. 1 und 2 SEBG können die Arbeitnehmer oder ihre Vertreter nach Gründung einer SE unter bestimmten Voraussetzungen die erneute Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums und die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit der Leitung der SE beschließen. Die Vorschrift setzt voraus, dass bereits bei Gründung der SE ein besonderes Verhandlungsgremium gebildet worden war, das nach § 16 Abs. 1 SEBG die Nichtaufnahme oder den Abbruch der Verhandlungen beschlossen hat. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Bei Gründung der Holding SE wurde kein Verhandlungsverfahren eingeleitet.
§ 18 Abs. 3 SEBG ist ebenfalls nicht anwendbar. Danach finden auf Veranlassung der Leitung der SE oder des SE-Betriebsrats Verhandlungen über die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer statt, wenn strukturelle Änderungen der SE geplant sind, die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer mindern können. Dieses Erfordernis ist im Ausgangsfall nicht erfüllt. Bei der Holding SE waren – seit Geltung des deutschen Rechts ab dem 4.10.2017 – keine strukturellen Änderungen geplant, durch die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer hätten gemindert werden können. Zudem regelt auch diese Vorschrift nur eine „Wiederaufnahme“ von Verhandlungen. Sie setzt damit – unabhängig von den übrigen tatbestandlichen Anforderungen – voraus, dass bereits bei Gründung der SE Verhandlungen über eine Arbeitnehmerbeteiligung stattgefunden haben.
Das Bundesarbeitsgericht geht allerdings davon aus, dass die Regelungen über die Bildung, Zusammensetzung und Wahl des besonderen Verhandlungsgremiums und über das Verhandlungsverfahren in den §§ 4 bis 17 sowie §§ 19 und 20 SEBG auf die Holding SE entsprechend („analog“) angewandt werden könnten. Ausschlaggebend hierfür ist, dass sie als „arbeitnehmerlose“ Holding SE ohne vorherige Durchführung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE in das Register eingetragen und im Anschluss herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union wurde.
Die Holding SE war bei ihrer Eintragung in das Register für England und Wales am 28.03.2013 „arbeitnehmerlos“. Weder beschäftigten die beiden an der Gründung beteiligten Gesellschaften – die O Ltd. und die O GmbH – Arbeitnehmer noch hatten sie Tochtergesellschaften, die Arbeitnehmer beschäftigten. Damit gab es zu diesem Zeitpunkt keine Arbeitnehmer oder Arbeitnehmervertreter, die ein besonderes Verhandlungsgremium hätten bilden können.
Aus diesem Grund erfolgte die Eintragung der Holding SE in das Register, obwohl die Eintragungsvoraussetzungen nach Art. 12 Abs. 2 SE-VO nicht gegeben waren. Die dortigen Anforderungen sollen das in der Richtlinie 2001/86/EG vorgesehene Verhandlungsverfahren bei der Arbeitnehmerbeteiligung absichern3. Da dieses Verfahren bei Gründung einer „arbeitnehmerlosen“ SE nicht durchgeführt werden kann, kann der Zweck der Eintragungsvoraussetzungen in einem solchen Fall nicht erreicht werden. Deshalb wird in Rechtsprechung und Schrifttum davon ausgegangen, dass Art. 12 Abs. 2 SE-VO insoweit einschränkend zu verstehen und trotz Fehlens der dort genannten Anforderungen eine Eintragung vorzunehmen ist4. Die Eintragung einer solchen „arbeitnehmerlosen“ SE ist unionsweit üblich5.
Die Holding SE beschäftigt zwar auch weiterhin selbst keine Arbeitnehmer. Seit dem 29.03.2013 hat sie aber Tochtergesellschaften, die Arbeitnehmer beschäftigen.
Durch den Erwerb aller Gesellschaftsanteile an der O Holding GmbH erlangte die Holding SE einen beherrschenden Einfluss über dieses Unternehmen und seine in Mitgliedstaaten der Europäischen Union ansässigen Tochtergesellschaften im Sinn der vor ihrer Sitzverlegung nach Deutschland anwendbaren European Public Limited-Liability Company (Employee Involvement) (Great Britain) Regulations 2009 (Regulations 2009 No. 2401). Als alleinige Anteilsinhaberin konnte die Holding SE die Geschäftsführung der O Holding GmbH und damit deren Leitungsorgan bestellen (vgl. reg. 3 para. 2 Regulations 2009 No. 2401; Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/86/EG; Art. 17 Abs. 2 iVm. Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2009/38/EG iVm. Anhang III zu dieser Richtlinie; § 35 Abs. 1 Satz 1 iVm. § 46 Nr. 5 GmbHG). Zudem hatte die Holding SE damit mittelbar beherrschenden Einfluss auf deren in Mitgliedstaaten der Europäischen Union ansässige Tochtergesellschaften.
Die formwechselnde Umwandlung der O Holding GmbH in eine Kommanditgesellschaft und die Verlegung des Sitzes der Holding SE nach Deutschland änderten hieran nichts. Zwar wurde und wird die O KG durch ihre Komplementärin – die in Deutschland ansässige Management SE – und nicht durch die Holding SE vertreten. Als alleinige Aktionärin der Management SE konnte und kann die Holding SE aber deren Leitungsorgan – den Verwaltungsrat – bestimmen. Der Verwaltungsrat bestellt die geschäftsführenden Direktoren (vgl. § 164 Satz 1 HGB; Art. 38 Buchst. b iVm. Art. 43 Abs. 3 SE-VO; § 22 Abs. 1, § 40 Abs. 1 Satz 1 SE-Ausführungsgesetz; § 2 Abs. 3, § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Europäische Betriebsräte-Gesetz). Dadurch hat die Holding SE beherrschenden Einfluss auch auf die O KG und deren in Mitgliedstaaten der Europäischen Union ansässige Tochtergesellschaften.
Bei einer solchen Fallgestaltung wäre es nach dem nationalen Recht möglich, die Regelungen in den §§ 4 ff. SEBG über die Bildung, Zusammensetzung und die Wahl des besonderen Verhandlungsgremiums sowie über das Verhandlungsverfahren auf die Holding SE entsprechend („analog“) anzuwenden6.
Im deutschen Recht kann eine Vorschrift „analog“ angewandt werden, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält, deren Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden kann. Die Lücke muss sich daraus ergeben, dass der Gesetzgeber unbeabsichtigt von dem Regelungsplan abweicht, der dem Gesetz zugrunde liegt. Darüber hinaus muss der gesetzlich ungeregelte Fall nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und um Wertungswidersprüche zu vermeiden dieselbe Rechtsfolge erfordern wie die gesetzessprachlich erfassten Fälle7.
Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, hängt von der Auslegung des Unionsrechts ab.
Zur ersten Vorlagefrage
Sollte Art. 12 Abs. 2 der SE-VO in Verbindung mit Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG dahin auszulegen sein, dass das Verhandlungsverfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE im Fall der Gründung und Eintragung einer „arbeitnehmerlosen“ Holding-SE in das Register ohne dessen vorherige Durchführung nachzuholen ist, wenn die SE danach herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird, enthielte das SE-Beteiligungsgesetz nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts eine planwidrige Regelungslücke.
Das SE-Beteiligungsgesetz sieht – wie dargelegt – keine Nachholungspflicht vor. Auch die Auffangregelung in den §§ 22 ff. SEBG ist in einem solchen Fall nicht anwendbar. Die dort geregelte Beteiligung der Arbeitnehmer kraft Gesetzes setzt nach § 22 Abs. 1 SEBG – der Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2001/86/EG inhaltlich entspricht – voraus, dass die Parteien dies vereinbaren oder dass bis zum Ende des in § 20 angegebenen Zeitraums keine Vereinbarung zustande gekommen ist und das besondere Verhandlungsgremium keinen Beschluss nach § 16 gefasst hat. Die Auffangregelung in den §§ 22 ff. SEBG kommt also nur dann zur Anwendung, wenn – wie in §§ 4 ff. SEBG vorgesehen – ein besonderes Verhandlungsgremium gebildet wurde. Hierin kommt die Konzeption der Richtlinie 2001/86/EG zum Ausdruck, nach der die Arbeitnehmerbeteiligung primär auf dem Verhandlungsweg zu vereinbaren ist8.
Diese Regelungslücke wäre nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts allerdings nur dann planwidrig, wenn das Unionsrecht eine Pflicht zur Nachholung der Verhandlungen in einem Fall wie dem Ausgangsfall geböte. Der deutsche Gesetzgeber wollte mit dem SE-Beteiligungsgesetz lediglich die Vorgaben der Richtlinie 2001/86/EG umsetzen9. Sollte sich aus dem Unionsrecht eine Pflicht zur Nachholung der Verhandlungen ergeben, wäre der Gesetzgeber von diesem Regelungsplan unbeabsichtigt abgewichen. Das nationale Recht wäre dann unionsrechtskonform fortbildungsfähig.
Zwar regeln auch Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG nicht ausdrücklich, dass das Verhandlungsverfahren über eine Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Holding-SE nach deren Gründung nachzuholen ist, wenn die bei Eintragung „arbeitnehmerlose“ SE danach herrschendes Unternehmen von Gesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird, die Arbeitnehmer beschäftigen. Nach dem Verständnis des vorlegenden Gerichts beruht dies jedoch lediglich auf dem Umstand, dass sowohl die Richtlinie als auch die SE-VO nach ihrer Konzeption davon ausgehen, bereits bei Gründung und vor Eintragung einer SE sei die Einleitung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE möglich. Dabei ist der Unionsrechtsgeber aus Sicht des Bundesarbeitsgerichts davon ausgegangen, dass die an der Gründung beteiligten Gesellschaften im Sinn von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie oder zumindest die betroffenen Tochtergesellschaften im Sinn von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie wirtschaftlich aktiv sind und damit Arbeitnehmer beschäftigen. Das zeigen die Erwägungsgründe 1 und 2 der SE-VO. Danach soll die SE-VO die Neuordnung von Unternehmen ermöglichen, deren „Tätigkeit“ sich nicht auf die Befriedigung rein örtlicher Bedürfnisse beschränkt. Sie soll die Möglichkeit schaffen, das „Wirtschaftspotential bereits bestehender Unternehmen“ zusammenzufassen. Auch Erwägungsgrund 10 der SE-VO spricht von Gesellschaften, „die eine Wirtschaftstätigkeit betreiben“. Entsprechend diesem Verständnis sieht Art. 12 Abs. 2 SE-VO ausdrücklich vor, dass eine SE erst dann eingetragen und damit rechtswirksam gegründet werden kann, wenn entweder eine Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE geschlossen wurde, das besondere Verhandlungsgremium einen Beschluss gefasst hat, keine Verhandlungen aufzunehmen bzw. bereits aufgenommene abzubrechen, oder die mit der Einsetzung des besonderen Verhandlungsgremiums beginnende Verhandlungsfrist erfolglos abgelaufen ist. Wird entgegen diesen Vorgaben eine „arbeitnehmerlose“ Holding-SE eingetragen, könnte der Zweck der Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG es erfordern, dass die Verhandlungen über eine Arbeitnehmerbeteiligung nachgeholt werden müssen, wenn die Holding-SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird.
Eine solche Pflicht zur Nachholung von Verhandlungen könnte in einem Fall wie dem Ausgangsfall zumindest mit Blick auf Art. 11 der Richtlinie 2001/86/EG geboten sein. Dies setzte voraus, dass bei einem solch engen zeitlichen Zusammenhang von Eintragung der Holding SE und Erwerb von Tochtergesellschaften eine missbräuchliche Gestaltung angenommen werden kann, die dazu dient, Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten.
Zur zweiten Vorlagefrage
Sollte der Unionsgerichtshof die erste Frage bejahen, würde sich die weitere Frage stellen, ob die nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens in einem solchen Fall ohne zeitliche Begrenzung möglich und geboten ist. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts wäre eine solche Verpflichtung der SE – bestünde sie – nicht fristgebunden. Sie ginge nicht durch bloßen Zeitablauf unter. Der Umstand, dass sich im Lauf der Zeit die Zahl der in einer Holding-SE und ihren Tochtergesellschaften tätigen Arbeitnehmer ändern kann, dürfte nicht zur Folge haben, dass damit eine (etwaige) Pflicht zur nachträglichen Durchführung eines Verhandlungsverfahrens entfällt.
Zur dritten Vorlagefrage
Sollte der Unionsgerichtshof die zweite Frage bejahen, wäre zu klären, ob sich – wie vom Bundesarbeitsgericht angenommen – die nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens nach dem Recht desjenigen Mitgliedstaats richtet, in dem die Holding-SE jetzt ihren Sitz hat, wenn sie – wie im Ausgangsfall – in einem anderen Mitgliedstaat ohne vorherige Durchführung eines solchen Verfahrens in das dortige Register eingetragen und noch vor der Verlegung ihres Sitzes herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union geworden ist. Deshalb kommt es darauf an, wie Art. 6 der Richtlinie 2001/86/EG auszulegen ist.
Zur vierten Vorlagefrage
Sollte der Unionsgerichtshof zu dem Ergebnis gelangen, dass sich die nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens in einem Fall wie dem Ausgangsfall nicht nach dem Recht desjenigen Mitgliedstaats richtet, in dem die SE aktuell ihren Sitz hat, sondern nach dem des Staats, in dem diese „arbeitnehmerlose“ SE erstmals eingetragen wurde, stellte sich die Frage, ob das auch dann der Fall ist, wenn dieser Staat nach der Verlegung des Sitzes der SE aus der Europäischen Union ausgetreten ist und sein Recht keine Vorschriften über die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE mehr enthält. Die Richtlinie 2001/86/EG wurde in Großbritannien zwar durch die Regulations 2009 No. 2401 umgesetzt. Mit Ablauf des 31.12.2020 wurden jedoch alle im Vereinigten Königreich eingetragenen SE in „UK Societas“ umgewandelt und die Regelungen zum Verhandlungsverfahren über eine Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE gestrichen.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 17. Mai 2022 – 1 ABR 37/20 (A)
- vgl. auch BT-Drs. 15/3405 S. 45[↩]
- vgl. BeckOGK/Casper Stand 1.02.2022 SE-VO Art. 8 Rn. 25[↩]
- vgl. BeckOGK/Casper Stand 1.02.2022 SE-VO Art. 12 Rn. 6[↩]
- vgl. etwa OLG Düsseldorf 30.03.2009 – I-3 Wx 248/08, zu II 2 b bb (b) der Gründe; Bayer in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar 2. Aufl. Art. 2 SE-VO Rn. 34; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar 2. Aufl. Art. 12 SE-VO Rn. 28; KK-AktG/Kiem 3. Aufl. Art. 12 SE-VO Rn. 42, 44; Kienast in Gaul/Ludwig/Forst Europäisches Mitbestimmungsrecht § 2 Rn. 59; MünchKomm-AktG/Schäfer 5. Aufl. SE-VO Art. 12 Rn. 8; Schröder in Manz/Mayer/Schröder Europäische Aktiengesellschaft SE 3. Aufl. Art. 12 SE-VO Rn. 17; Habersack/Drinhausen/Schürnbrand/Habersack SE-Recht 3. Aufl. SE-VO Art. 12 Rn. 25[↩]
- vgl. OLG Düsseldorf 30.03.2009 – I-3 Wx 248/08, zu II 2 b bb (b) (bb) der Gründe; High Court of Justice 12.06.2018 – [2018] EWHC 1445 (Ch) – [Re Liberty Mutual Insurance Europe PLC]; vgl. auch Fußnote 9 der Mitteilung der Kommission zur Überprüfung der Richtlinie 2001/86/EG vom 30.09.2008, wonach über die Hälfte der SE, für die Daten vorlagen, zum Zeitpunkt der Eintragung keine Arbeitnehmer beschäftigten[↩]
- ebenso KK-AktG/Maul 3. Aufl. Art. 3 SE-VO Rn. 29; Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar 2. Aufl. § 1 SEBG Rn.19; für eine analoge Anwendung von § 18 Abs. 3 SEBG [unter bestimmten Voraussetzungen] im Ergebnis auch: OLG Düsseldorf 30.03.2009 – I-3 Wx 248/08, zu II 2 b cc (d) der Gründe; Habersack/Drinhausen/Habersack SE-Recht 3. Aufl. SE-VO Art. 2 Rn. 30; Habersack/Drinhausen/Schürnbrand/Habersack SE-Recht 3. Aufl. SE-VO Art. 12 Rn. 26; Habersack/Drinhausen/Hohenstatt/Müller-Bonanni SE-Recht 3. Aufl. SEBG § 3 Rn. 11; MünchKomm-AktG/Jacobs 5. Aufl. SEBG § 3 Rn. 6; Kienast in Gaul/Ludwig/Forst Europäisches Mitbestimmungsrecht § 2 Rn. 63; Schubert RdA 2012, 146, 154; Forst RdA 2010, 55, 58; ders. NZG 2009, 687, 690 f.; Casper/Schäfer ZIP 2007, 653, 658 f.; gegen eine Analogie zu § 18 Abs. 3 SEBG KK-AktG/Kiem 3. Aufl. Art. 12 SE-VO Rn. 52[↩]
- vgl. BAG 10.11.2021 – 10 AZR 696/19, Rn. 50; 23.10.2019 – 7 ABR 7/18, Rn.20 mwN, BAGE 168, 204[↩]
- vgl. auch BT-Drs. 15/3405 S. 41[↩]
- vgl. BT-Drs. 15/3405 S. 1[↩]