Zahlt die Familienkasse Kindergeld rechtsgrundlos an das Kind auf Anweisung des Kindergeldberechtigten aus, ist nur der Kindergeldberechtigte Rückforderungsschuldner.
Die Erfüllungszuständigkeit für erhaltenes Kindergeld ändert sich von der Person des Kindergeldberechtigten auf einen Dritten erst nach einer Entscheidung über eine Auszahlung nach § 74 Abs. 1 EStG. Der Abzweigungsbescheid stellt einen für den Empfänger begünstigenden und einen für den Kindergeldberechtigten belastenden Verwaltungsakt mit Doppelwirkung dar.
Das bloße Bestehen einer Abzweigungslage ohne Vorliegen eines Abzweigungsbescheids lässt die Empfangsberechtigung des Kindergeldberechtigten unberührt.
Ist eine Steuervergütung wie das Kindergeld (§ 31 Satz 3 EStG) ohne rechtlichen Grund gezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, nach § 37 Abs. 2 AO gegenüber dem Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrags. Diese Rechtsfolge tritt auch ein, wenn der rechtliche Grund für die Zahlung später wegfällt (§ 37 Abs. 2 Satz 2 AO).
Im hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall ist das Kindergeld für den Streitzeitraum ohne Rechtsgrund gezahlt worden. Zwar hatte die Klägerin für den Streitzeitraum unstreitig einen Anspruch auf Kindergeld für ihre Tochter gemäß § 62 Abs. 1, § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Der Anspruch war jedoch im Zeitpunkt der Zahlung bereits durch die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die das Jobcenter nach dem SGB II an die Tochter der Klägerin erbracht hatte, erfüllt worden und damit erloschen (§ 47 AO). Dies ergibt sich aus § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. den § 104 Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 107 Abs. 1 SGB X.
Der Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Jobcenters gegenüber der Familienkasse war auch nicht nach § 104 Abs. 1 SGB X ausgeschlossen. Die Familienkasse ist dem Jobcenter aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X zur Erstattung verpflichtet. Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Im vorliegenden Fall hatte die Familienkasse zum Zeitpunkt der Zahlung des Kindergeldes ausreichende Kenntnis davon, dass der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld bereits in Höhe der SGB II-Leistungen an T für den Streitzeitraum erloschen war. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und den Bundesfinanzhof deshalb bindenden Feststellungen des Finanzgericht (§ 118 Abs. 2 FGO) hatte das Jobcenter der Familienkasse mit E-Mail vom 19.12.2016 die für den Streitzeitraum maßgeblichen Berechnungsbögen für die an T geleisteten Sozialleistungen übermittelt. Im Klageverfahren hatte die Familienkasse zudem mit Schreiben vom 07.01.2019 auf Nachfrage des Gerichts zur Kenntnis gleichartiger Leistungen durch das Jobcenter mitgeteilt, dass durch die übersandten Berechnungsbögen über Arbeitslosengeld – II (ALG II) der Zeitraum und die Höhe der monatlichen Leistungen des ALG II-Trägers ohne Anrechnung des Kindergeldes bekannt waren. Die Schlussfolgerung des Finanzgericht, die Familienkasse habe im Zeitpunkt ihrer Kindergeldzahlung ausreichende Kenntnis über die Erbringung nachrangiger Sozialleistungen gehabt, ist daher nachvollziehbar. Für die erforderliche Kenntnis von Leistungen des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers reicht es aus, wenn Umstände, die im Einzelfall für die Entscheidung über den Erstattungsanspruch maßgeblich sind, und der Zeitraum, für den die Sozialleistung erbracht wurde, hinreichend konkret mitgeteilt werden1. Mit der Übersendung der ALG II-Berechnungsbögen wusste die Familienkasse, welche Leistungen des Jobcenters für welche Zeiträume und in welcher Höhe erbracht wurden und dass eine Anrechnung von Kindergeld nicht erfolgt ist. Soweit die Familienkasse auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 19.03.19922 hinweist, ergibt sich hieraus nichts anderes. In dieser Entscheidung hat das BSG ausgeführt, dass die Tatsache allein, dass es sich beim Leistungsempfänger um einen „Sozialhilfefall“ handelt, für die Kenntnis nicht ausreichend sei. Wenn hingegen die einzelnen Sozialleistungen für jeden Monat des maßgeblichen Zeitraums mitgeteilt werden, ist der erstattungsverpflichtete Leistungsträger ohne weitere Nachforschungen in der Lage zu entscheiden, welche Teile zur Erfüllung des Erstattungsanspruchs einzubehalten und welche an den Kindergeldberechtigten auszuzahlen sind.
Entgegen der Ansicht des Niedersächsischen Finanzgerichts3 ist die Klägerin auch Leistungsempfängerin des ohne Rechtsgrund gezahlten Kindergeldes.
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 AO derjenige, demgegenüber die Finanzbehörde oder Familienkasse ihre -vermeintlich oder tatsächlich bestehende- abgabenrechtliche Verpflichtung erfüllen will4. Demnach ist ein Dritter als tatsächlicher Empfänger einer Zahlung dann nicht Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 AO, wenn die Behörde u.a. aufgrund einer Zahlungsanweisung des Erstattungs- bzw. Vergütungsberechtigten an einen Dritten zahlt5. Denn auch in einem derartigen Fall erbringt die Finanzbehörde ihre Leistung mit dem Willen, eine Forderung gegenüber dem tatsächlichen Rechtsinhaber zu erfüllen. Da der durch die Anweisung begünstigte Zahlungsempfänger den Zahlungsanspruch nicht aus eigenem Recht geltend machen kann und die Leistung mit dem Willen erbracht wird, eine Forderung gegenüber dem tatsächlichen Rechtsinhaber mit befreiender Wirkung zu erfüllen, ist nicht der Empfänger der Zahlung, sondern der nach materiellem Steuerrecht Erstattungs- bzw. Vergütungsberechtigte als Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 AO anzusehen6.
Diese Grundsätze gelten auch für das Kindergeld, da es nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt wird7. Demnach ist nicht das Kind, sondern der Kindergeldberechtigte Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO, wenn die Familienkasse das Kindergeld aufgrund einer Zahlungsanweisung des Kindergeldberechtigten dem Kind zahlt8.
Mit der Angabe des Kontos der T im Kindergeldantrag hat die Klägerin der Familienkasse die Anweisung erteilt, das Kindergeld auf dieses Konto zu überweisen. Damit hat sie den Zahlungsweg veranlasst. Zudem erbrachte die Familienkasse mit der Befolgung der Anweisung ihre Leistung mit dem Willen, den Zahlungsanspruch der Klägerin als Kindergeldberechtigte zu erfüllen.
Entgegen der Ansicht des Niedersächsischen Finanzgerichts steht diesem Ergebnis auch nicht entgegen, dass die Voraussetzungen einer Abzweigung i.S. des § 74 Abs. 1 EStG vorlagen. Ohne eine entsprechende Feststellung der Familienkasse durch einen Verwaltungsakt wird der Zahlungsempfänger nicht zum Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO.
Es ist zwar richtig, dass in Abzweigungsfällen der Dritte (Abzweigungsempfänger) und nicht der Kindergeldberechtigte gemäß § 37 Abs. 2 AO zur Erstattung verpflichtet ist9. Bei einer Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG zahlt die Familienkasse willentlich an den Abzweigungsempfänger, und zwar zur Erfüllung des diesem zustehenden Auszahlungsanspruchs. Die Entscheidung über eine Auszahlung nach § 74 Abs. 1 EStG erfolgt durch einen Verwaltungsakt nach § 118 AO10. Mit der Entscheidung über die Abzweigung stellt die Familienkasse fest, dass sich der Kindergeldberechtigte die abgezweigte Leistung als Erfüllung seines weiter bestehenden Kindergeldanspruchs zurechnen lassen muss und dass der Abzweigungsempfänger die Leistung gleichzeitig mit Erfüllungswirkung des ihm aufgrund der Abzweigung zustehenden Anspruchs auf Auszahlung in Empfang nehmen darf. Die Erfüllungszuständigkeit für erhaltenes Kindergeld ändert sich von der Person des Kindergeldberechtigten auf einen Dritten aber erst dann und soweit, wie ein (bestandskräftiger) Abzweigungsbescheid der Familienkasse ergangen ist, bei dem es sich für den Empfänger um einen begünstigenden und für den bisher Kindergeldberechtigten um einen belastenden Verwaltungsakt mit Doppelwirkung handelt11.
Hingegen lässt das bloße Bestehen einer Abzweigungslage ohne Vorliegen eines Abzweigungsbescheids die Empfangsberechtigung des Kindergeldberechtigten im Auszahlungsverfahren (Erhebungsverfahren) unberührt12.
Einer Rückforderung steht auch nicht der Gesichtspunkt von Treu und Glauben oder der Verwirkungsgedanke als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben entgegen13.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs steht der Grundsatz von Treu und Glauben der Rückforderung gezahlten Kindergeldes selbst dann nicht entgegen, wenn die Behörde trotz Kenntnis von Umständen, die zum Wegfall des Kindergeldanspruchs führen, zunächst weiterhin Leistungen erbringt14. Erforderlich sind vielmehr besondere Umstände, die die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen15. Hinzukommen muss ein Verhalten des Berechtigten, aus dem der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung den Schluss ziehen darf, dass er nicht mehr in Anspruch genommen werden soll (Umstandsmoment oder Vertrauenstatbestand)16. Bei einem Massenverfahren wie dem Kindergeldrecht ist ein besonders eindeutiges Verhalten der Familienkasse zu fordern, dem entnommen werden kann, dass sie auch unter Berücksichtigung veränderter Umstände von einem Fortbestehen des Kindergeldanspruchs ausgeht und ein anderer Eindruck bei dem Kindergeldempfänger ausgeschlossen ist17.
Hiernach liegen im Streitfall die Voraussetzungen einer Verwirkung nicht vor. Es fehlt an einem Verhalten der Familienkasse, aus dem die Klägerin bei objektiver Betrachtung den Schluss ziehen durfte, das zu Unrecht ausgezahlte Kindergeld werde ihr bzw. ihrer Tochter belassen. Selbst wenn die Familienkasse bereits wusste, dass Sozialleistungen ohne Anrechnung von Kindergeld gezahlt wurden, reicht die Auszahlung des Kindergeldes trotz Wegfalls der Anspruchsvoraussetzungen nicht aus18. Es fehlen besondere zusätzliche Umstände, die die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen.
Da es sich bei dem Rückforderungsanspruch auch nicht um einen Schadensersatzanspruch handelt, kommt unter diesem Gesichtspunkt auch der Gedanke des mitwirkenden Verschuldens der Familienkasse nicht zum Tragen. Das Verhalten der Behörde kann ggf. lediglich bei der Frage einer Billigkeitsentscheidung gemäß § 227 AO19 berücksichtigt werden. Auch etwaige persönliche Billigkeitsgründe sind für die Beurteilung des Abrechnungsbescheids (§ 218 Abs. 2 i.V.m. § 37 Abs. 2 AO) unerheblich und können dementsprechend in dem die Rechtmäßigkeit der Rückforderung betreffenden Revisionsverfahren nicht geklärt werden.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 14. April 2021 – III R 1/20
- BFH, Beschluss vom 05.06.2014 – VI R 15/12, BFHE 246, 298, BStBl II 2015, 145, Rz 22, m.w.N.[↩]
- BSG, Urteil vom 19.03.1992 – 7 RAr 26/91, BSGE 70, 186[↩]
- Nds. FG, Urteil vom 15.03.2019 – 2 K 65/18[↩]
- BFH, Urteile vom 23.10.2012 – VII R 63/11, BFH/NV 2013, 689; vom 18.09.2012 – VII R 53/11, BFHE 239, 292, BStBl II 2013, 270, Rz 13, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 28.01.2010 – III B 112/08, BFH/NV 2010, 836; BFH, Urteile vom 29.01.2003 – VIII R 64/01, BFH/NV 2003, 905; und vom 25.03.2003 – VIII R 84/98, BFH/NV 2003, 1404[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFH/NV 2003, 905[↩]
- BFH, Urteile in BFH/NV 2003, 905; und vom 16.03.2004 – VIII R 48/03, BFH/NV 2004, 1218[↩]
- BFH, Beschluss in BFH/NV 2010, 836, Rz 3, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 24.08.2001 – VI R 83/99, BFHE 196, 278, BStBl II 2002, 47; BFH, Urteil vom 10.03.2016 – III R 29/15, BFH/NV 2016, 1278, Rz 26[↩]
- Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 74 EStG Rz 14; BFH, Urteil in BFHE 196, 278, BStBl II 2002, 47[↩]
- BFH, Urteil vom 17.12.2015 – V R 18/15, BFHE 252, 155, BStBl II 2016, 960, Rz 11, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 27.10.2011 – III R 16/09, BFH/NV 2012, 720, unter II. 2.c; BFH, Beschluss vom 19.06.2013 – III B 79/12, BFH/NV 2013, 1422, Rz 11[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 27.02.2007 – III B 1/06, BFH/NV 2007, 1120[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 13.03.2013 – V B 133/11, BFH/NV 2013, 933[↩]
- BFH, Urteil vom 14.10.2003 – VIII R 56/01, BFHE 203, 472, BStBl II 2004, 123, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 21.07.1988 – V R 97/83, BFH/NV 1989, 356, 359; und vom 15.06.2004 – VIII R 93/03, BFH/NV 2005, 153[↩]
- vgl. BFH, Beschluss in BFH/NV 2007, 1120[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 26.07.2001 – VI R 163/00, BFHE 196, 274, BStBl II 2002, 174, und in BFH/NV 2005, 153[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 27.05.2020 – III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283[↩]