„Massenentlassungen“ müssen vor ihrer Aussprache vom Arbeitgeber der Agentur für Arbeit angezeigt werden, § 17 KSchG. Bis zum Ablauf von einem Monat nach Eingang dieser Anzeige bei der Agentur für Arbeit kann eine Kündigung nur dann wirksam erklärt werden, wenn die Agentur für Arbeit dem zugestimmt hat, § 18 Abs. 1 KSchG. Soweit die Entlassungen nicht innerhalb von 90 Tagen nach Ablauf dieser Monatsfrist durchgeführt werden, bedarf es unter den Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 einer erneuten Anzeige, § 18 Abs. 4 KSchG.

Eine solche „erneute Anzeige“ im Sinne von § 18 Abs. 4 KSchG ist nach einem aktuellen Urteil des Bundesarbeitsgerichts aber nicht erforderlich, wenn Kündigungen nach einer ersten Anzeige vor Ablauf der Freifrist ausgesprochen werden, die Arbeitsverhältnisse wegen langer Kündigungsfristen aber erst nach Ablauf der Freifrist enden.
Nach § 18 Abs. 4 KSchG bedarf es „unter den Voraussetzungen des § 17 Abs. 1“ einer erneuten Anzeige, soweit die Entlassungen nicht innerhalb von 90 Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem sie nach den Absätzen 1 und 2 zulässig sind, durchgeführt werden. Gemäß der in Bezug genommenen Vorschrift des § 17 Abs. 1 KSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer, in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer und in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt.
Der Begriff „Entlassung“ in § 17 Abs. 1 KSchG bedeutet „Kündigung“ oder „Ausspruch der Kündigung“ [1]. Die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führende einseitige Willenserklärung – nämlich die Kündigung – darf demnach erst ausgesprochen werden, nachdem der Arbeitgeber die Anzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG bei der Agentur für Arbeit erstattet hat. Welchen rechtlichen Gehalt § 18 Abs. 4 KSchG vor diesem Hintergrund hat, ist umstritten:
Teilweise wird angenommen, § 18 Abs. 4 KSchG sei obsolet geworden. Die Vorschrift sei mit ihrem Verweis auf § 17 Abs. 1 KSchG nur verständlich, wenn man, wie vor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 [2], unter „Entlassung“ im Sinne des § 17 Abs. 1 KSchG nicht die Kündigung, sondern die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses verstehe. Ansonsten schreibe sie – ohne erkennbaren Sinn – die erneute Anzeige einer bereits angezeigten Kündigung vor. Die frühere Lesart wiederum sei ausgeschlossen [3].
Einige Stimmen meinen, die Vorschrift müsse wie bisher angewandt werden; „Entlassung“ im Sinne des § 18 Abs. 4 KSchG bedeute nach wie vor die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses [4]. Das Gesetz wolle im Interesse der besseren Unterrichtung der Bundesagentur den Arbeitgeber bei Kündigungen, die erst zu einem außerhalb der Freifrist liegenden Zeitpunkt wirksam werden, zu einer erneuten Anzeige verpflichten [5]. Das sei durchaus sinnvoll, weil es bei langfristig geplanten und frühzeitig angezeigten Massenentlassungen neue Entwicklungen geben könne, die für die Arbeitsagentur von Interesse sein könnten [6].
Das zuvor mit dem Rechtsstreit befasste Landesarbeitsgericht hat die Auffassung vertreten, der sich nach dem Wortlaut des § 18 Abs. 4 KSchG ergebende Anwendungsbereich müsse teleologisch reduziert werden. Eine erneute Anzeige sei deshalb immer dann überflüssig, wenn der Bundesagentur lediglich die ihr schon bekannten Tatsachen mitgeteilt werden könnten. Im Streitfall hätten sich zwar nach Erstattung der ersten Anzeige zwei Teilbetriebsübergänge ergeben. Dadurch habe sich aber die Zahl der Entlassungen nicht erhöht.
Indes führt bereits der Wortlaut von § 18 Abs. 4 KSchG zu dem Ergebnis, dass im Streitfall keine erneute Anzeige zu erfolgen hatte. Dabei kann offenbleiben, ob die dort gebrauchten Ausdrücke „Entlassung“ und „Durchführung der Entlassung“ die Kündigungserklärungen meint oder – wie früher selbstverständlich – die tatsächliche Beendigung. Freilich weist die Wendung „Durchführung der Entlassung“ eher darauf hin, es müsse die Kündigungserklärung gemeint sein [7]. Einer erneuten Anzeige bedarf es nach § 18 Abs. 4 KSchG schon deshalb nicht, weil die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm nicht gegeben sind. Die erneute Anzeige ist nach dem Gesetz nur „unter den Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 KSchG“ notwendig. Die „Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 KSchG“ wiederum liegen hier offensichtlich nicht vor. Zu diesen gehört, dass der Arbeitgeber den Ausspruch einer Massenkündigung beabsichtigt. Nur wenn er entsprechende Willenserklärungen abgeben will, bedarf es der Anzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG. Daran fehlt es hier. Die Beklagte beabsichtigte nach Ablauf der Freifrist nicht mehr den Ausspruch von Kündigungen. Dafür bestand kein Anlass, da sie bereits gekündigt hatte. Ein anderes Verständnis der gesetzlichen Anordnung in § 18 Abs. 4 KSchG würde den Arbeitgeber zum erneuten Ausspruch einer Kündigung zwingen, was die Bestimmung erkennbar nicht beabsichtigt. Es käme ansonsten bei Kündigungsfristen, die länger als die Freifrist sind, zu einer unendlichen Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses.
Bei diesem Normverständnis bleibt für § 18 Abs. 4 KSchG ein zum System der §§ 17 ff. KSchG gut passender Anwendungsbereich. Der Arbeitgeber muss nämlich – nach Ablauf der Freifrist – dann eine erneute Anzeige erstatten, wenn er von der Möglichkeit des Ausspruchs der Kündigung – bis dahin – keinen Gebrauch gemacht hat [8]. Auf diese Weise werden „Vorratsanzeigen“ verhindert, die dem Zweck des Gesetzes zuwiderliefen, die Agentur für Arbeit über das tatsächliche Ausmaß der Beendigungen von Arbeitsverhältnissen ins Bild zu setzen.
Nicht beizutreten vermag das Bundesarbeitsgericht der Auffassung, das Wort „Entlassung“ in § 17 Abs. 1 KSchG müsse, soweit die Vorschrift unmittelbar Anwendung finde, als „Kündigungserklärung“ verstanden werden, soweit § 17 Abs. 1 KSchG jedoch aufgrund der Verweisung in § 18 Abs. 4 KSchG anwendbar sei, bedeute es die „tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses“. Dies hieße dasselbe Wort in derselben Vorschrift mit zwei einander widersprechenden Inhalten auszustatten, was mit einer willkürfreien Gesetzesauslegung umso weniger in Einklang zu bringen wäre, als es zu kaum noch als sinnbehaftet bewertbaren Ergebnissen führen müsste.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23. Februar 2010 – 2 AZR 268/08
- BAG 23.03.2006 – 2 AZR 343/05, BAGE 117, 281[↩]
- EuGH, Urteil vom 27.01.2005 – C‑188/03 – [Junk], EuGHE I 2005, 885[↩]
- vgl. ErfK/Kiel 10. Aufl. § 18 KSchG Rn. 12; KR/Weigand 9. Aufl. § 18 KSchG Rn. 34; Kittner/Däubler/Zwanziger-Kittner/Deinert KSchR 7. Aufl. § 18 KSchG Rn. 17; MünchKommBGB/Hergenröder 5. Aufl. § 18 KSchG Rn. 17; Bauer/Krieger/Powietzka DB 2005, 445; Dornbusch/Wolff BB 2005, 887; ebenso: Bundesagentur für Arbeit Merkblatt 5 Anzeigepflichtige Entlassungen für Arbeitgeber Stand Juli 2005 unter 6.4[↩]
- HWK/Molkenbur § 18 KSchG Rn. 13[↩]
- Boeddinghaus ArbuR 2007, 374[↩]
- ähnlich v. Hoyningen-Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 18 KSchG Rn. 23, 24[↩]
- vgl. BAG 06.11.2008 – 2 AZR 935/07, AP KSchG 1969 § 18 Nr. 4 = EzA KSchG § 18 Nr. 1[↩]
- im Ergebnis ebenso: APS/Moll 3. Aufl. § 18 KSchG Rn. 38; HaKo/Pfeiffer 3. Aufl. § 18 KSchG Rn. 19; wohl auch BeckOK/Volkening Stand September 2009 KSchG § 18 Rn. 16; ähnlich schon BAG 06.11.2008 – 2 AZR 935/07, AP KSchG 1969 § 18 Nr. 4 = EzA KSchG § 18 Nr. 1[↩]