Ein einzelvertraglicher Verzicht auf einen bereits entstandenen tarifvertraglichen Anspruch ist auch dann wegen eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nichtig, wenn dieser erst nach einem Betriebsübergang gegenüber dem Betriebsveräußerer oder dem Betriebserwerber erklärt wird. Der Betriebsübergang ist für die Unverzichtbarkeit tariflich begründeter Ansprüche ohne Bedeutung.

Ein einzelvertraglicher Verzicht auf entstandene tarifliche Ansprüche ist wegen eines Verstoßes gegen das gesetzliche Verbot des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nichtig [1]. Die Klägerin kann ihren tariflichen Anspruch trotz des Verzichts in Form von zwei Erlassverträgen nach § 397 BGB uneingeschränkt geltend machen.
Bei den Verzichtserklärungen handelt es sich nicht um einen sog. Tatsachenvergleich, für den § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nicht heranzuziehen wäre. Um einen Tatsachenvergleich handelt es sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nur, wenn eine bestehende Unsicherheit über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anspruchs durch gegenseitiges Nachgeben ausgeräumt werden soll [2]. Bei Abschluss der Erlassverträge bestand jedoch kein Streit über die tatsächlichen Anspruchsvoraussetzungen auf die Jahressonderzahlung für das Jahr 2009. Vielmehr sollte nach dem Inhalt der Verzichtserklärungen von der Klägerin auf eine unstreitig entstandene Forderung „verzichtet“ werden.
Ohne Bedeutung für die Nichtigkeit des Verzichts ist es, ob ein sachlicher Grund für ihn vorgelegen hat. Die von dem Beklagten herangezogene Rechtsprechung des Fünften Bundesarbeitsgerichts, nach der ein „Verzicht auf rückständigen Lohn aus Anlaß eines Betriebsüberganges … grundsätzlich als wirksam angesehen [wird, wenn] … hierfür sachliche Gründe vorliegen“, enthält ausdrücklich den Vorbehalt, „soweit es sich nicht um Tariflohn handelt (§ 4 Abs. 4 TVG)“ [3]. Dann verbleibt es bei dem Verzichtsverbot nach § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG.
Auch der Betriebsübergang ist für die Nichtigkeit der „Verzichtserklärungen“ ohne Bedeutung. Der bereits entstandene tarifliche Anspruch der Klägerin hat sich nicht nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in einen einzelvertraglichen, schuldrechtlichen Anspruch [gewandelt], auf den der Arbeitnehmer individualarbeitsrechtlich wirksam verzichten kann.
Die Rechtsnatur des bereits vor dem Betriebsübergang entstandenen tarifvertraglichen Anspruchs auf Zahlung einer Jahressonderzahlung, für den der Betriebserwerber nach § 613a Abs. 2 BGB haftet, hat sich nicht infolge des Betriebsübergangs geändert. Die Unverzichtbarkeit eines bereits entstandenen, tariflich begründeten Anspruchs bleibt unberührt [4]. Der Schutz des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG bleibt der Klägerin erhalten [5].
Die Regelung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ist vorliegend ohne Bedeutung. Der Beklagte verkennt die Reichweite der in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB vorgesehenen Transformation kollektiv-rechtlicher Regelungen. Nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gehen – vorbehaltlich der Regelung in § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB – die in Kollektivverträgen „durch Rechtsnormen“ geregelten Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer als sog. transformierte Normen in das Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber unter Beibehaltung ihres kollektiv-rechtlichen Charakters ein [6]. Es kommt zu einem Übergang kollektiv-rechtlicher Regelungen [7].
Die Klage der Arbeitnehmerin erweist sich nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) unter dem Gesichtspunkt widersprüchlichen Verhaltens als unbegründet.
Es verstößt grundsätzlich nicht gegen Treu und Glauben, wenn eine Partei sich nachträglich auf die Unwirksamkeit einer von ihr abgegebenen Willenserklärung beruft [8] oder ein unter ihrer Beteiligung zustande gekommenes Rechtsgeschäft angreift [9]. Widersprüchliches Verhalten ist erst dann rechtsmissbräuchlich, wenn dadurch für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen [10].
Im Entscheidungsfall fehlt es bereits an einem von der Klägerin geschaffenen Vertrauenstatbestand.
Allein durch die Abgabe von „Verzichtserklärungen“, die gegen die zwingende gesetzliche Regelung des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG verstoßen, kann für den anderen Teil grundsätzlich noch kein Vertrauenstatbestand entstehen, der Arbeitnehmer werde später die Unwirksamkeit seiner Erklärungen nicht mehr geltend machen. Es ist vorliegend auch weder ersichtlich noch legt der Beklagte dar, die Klägerin habe ihm gegenüber erkennen lassen, sie wolle den Verzicht trotz seiner Rechtsunwirksamkeit gegen sich gelten lassen. Aus der widerspruchslosen Entgegennahme einer Vergütung mit der von dem Beklagten vorgenommenen Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 3 TVöD/VKA in der Zeit vom 01.12 2009 bis zur schriftlichen Geltendmachung am 29.03.2010 allein erwächst kein Vertrauenstatbestand für den Beklagten [11].
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 12. Februar 2014 – 4 AZR 317/12
- vgl. nur BAG 12.12 2007 – 4 AZR 998/06, Rn. 44 mwN, BAGE 125, 179[↩]
- ausf. BAG 5.11.1997 – 4 AZR 682/95, zu I 2.02.1 der Gründe mwN sowie 9.12 2009 – 10 AZR 850/08, Rn. 41; 20.01.1998 – 9 AZR 812/96, zu II 1 der Gründe[↩]
- BAG 27.04.1988 – 5 AZR 358/87, zu III der Gründe mwN, BAGE 58, 176[↩]
- s. nur Löwisch/Rieble TVG 3. Aufl. § 4 Rn. 607: „Unverzichtbarkeit ist dingliche Eigenschaft der Forderung“[↩]
- ebenso Dzida/Wagner NZA 2008, 571, 573[↩]
- ausf. BAG 22.04.2009 – 4 AZR 100/08, Rn. 61, 83, BAGE 130, 237[↩]
- s. nur ErfK/Preis 14. Aufl. § 613a BGB Rn. 112; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni 5. Aufl. § 613a Rn. 263[↩]
- BAG 18.06.2008 – 7 AZR 214/07, Rn. 32; BGH 7.04.1983 – IX ZR 24/82 – BGHZ 87, 169[↩]
- BGH 5.12 1991 – IX ZR 271/90[↩]
- BGH 5.06.1997 – X ZR 73/95, zu II 4 b der Gründe mwN[↩]
- vgl. BAG 22.02.2012 – 4 AZR 580/10, Rn. 48[↩]