Untätigkeitsklage – und die Kostenentscheidung des Sozialgerichts

Ein Sozialgericht, das nach einer erledigten Untätigkeitsklage eine Kostenerstattung für die Klägerin mit der Begründung ablehnt, diese hätte die Sozialbehörde zunächst auf die zu lange Untätigkeit hinweisen -sie quasi vorwarnen- müssen, wendet § 193 SGG in nicht mehr nachvollziehbarer Weise an und handelt damit willkürlich.

Untätigkeitsklage – und die Kostenentscheidung des Sozialgerichts

So gab jetzt das Bundesverfassungsgericht einer im Bezug von Arbeitslosengeld II stehenden Beschwerdeführerin Recht, die – nachdem das Jobcenter einen Kostenerstattungsantrag nicht beschieden hatte – nach Ablauf der gesetzlichen Wartefrist des § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG Untätigkeitsklage zum Sozialgericht Darmstadt erhob. Nach Erledigung des Rechtsstreits lehnte das Sozialgericht Darmstadt ihren auf Erstattung außergerichtlicher Kosten gerichteten Antrag, ohne dass ein zureichender Grund für die verspätete Bescheidung bestanden hätte, ab und begründete dies im Wesentlichen damit, die Beschwerdeführerin habe es pflichtwidrig versäumt, sich vor Einreichung der Klage nochmals an das Jobcenter zu wenden1.

Der Ausgangssachverhalt

Mit Bescheid vom 02.10.2020 wurden der Beschwerdeführerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) bewilligt. Gegen diesen Bescheid legte sie erfolgreich Widerspruch ein, weil bei der Leistungsberechnung ein zu hohes Einkommen berücksichtigt worden war. Im Abhilfebescheid vom 29.10.2020 traf das Jobcenter eine Kostenentscheidung, wonach der Beschwerdeführerin auf Antrag die Kosten für das Widerspruchsverfahren zu erstatten waren. Am 5.11.2020 stellte der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin beim Jobcenter einen Kostenfestsetzungsantrag.

Als das Jobcenter nach sechs Monaten noch keine Kostenfestsetzungsentscheidung getroffen hatte, erhob die Beschwerdeführerin am 7.05.2021 durch ihren Bevollmächtigten Untätigkeitsklage beim Sozialgericht mit dem Antrag, das Jobcenter zu verurteilen, über ihren Kostenfestsetzungsantrag zu entscheiden. Nachdem das Jobcenter dem nachgekommen war, erklärten die Beschwerdeführerin und das Jobcenter den Rechtsstreit für erledigt. Die Beschwerdeführerin beantragte die Erstattung ihrer außergerichtlichen Kosten.

Die Entscheidung des Sozialgerichts Darmstadt

Mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 29.12.2021 lehnte das Sozialgericht den Antrag ab:

Das Gericht habe nach billigem Ermessen durch Beschluss über die Kosten zu entscheiden. Da hierbei alle Umstände des Einzelfalls in die Entscheidungsfindung einbezogen werden könnten, sei nicht vornehmlich auf den Erfolg der Klage abzustellen.

Eine Kostenerstattung entspreche hiernach nicht der Billigkeit. Weil die formalen Voraussetzungen der Zulässigkeit und Begründetheit der Untätigkeitsklage bei deren Erhebung regelmäßig vorlägen, führe eine Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Regel zu einer nicht ohne Weiteres hinzunehmenden Benachteiligung der Beklagtenseite, was dem Grundsatz des fairen Verfahrens evident widerspreche. Deshalb sei es von überwiegender Bedeutung, ob die Beklagtenseite durch ihr Verhalten unter Beachtung der die Klägerseite treffenden Schadensminderungsobliegenheit sowie einer eventuellen Mutwilligkeit, Veranlassung zur Klage gegeben habe.

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Vorliegend habe das Jobcenter zwar nicht innerhalb der Frist des § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG über den Antrag entschieden. Dies sei aber nicht allein ausschlaggebend. Der „insoweit ergangenen Rechtsprechung des früheren 7. Sents des Hessischen Landessozialgerichts“2, welche „gleichsam einen Freibrief zu Erhebung der Untätigkeitsklage“ postuliere, schließe sich das Sozialgericht Darmstadt ausdrücklich nicht an. Die Klägerseite treffe eine Obliegenheit, die Beklagtenseite vor vermeidbaren Schäden zu bewahren. Es bestünden aufgrund des auf gewisse Dauer angelegten Sozialrechtsverhältnisses gegenseitige Pflichten der Rücksichtnahme und Schadensvermeidung, die auf den Grundsatz von Treu und Glauben zurückgingen. Auch wenn die diesbezügliche Rechtsprechung zum Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ergangen sei, könne für das hiesige Verhältnis von Kläger- und Beklagtenseite nichts anderes gelten, da auch dieses auf eine gewisse Dauer und gedeihliches Zusammenwirken ausgerichtet sei. Dies gelte auch für die Frage der Kostenfestsetzung. Ein Leistungsempfänger sei daher bei Untätigkeit eines Leistungsträgers grundsätzlich verpflichtet, sich vor Erhebung einer Untätigkeitsklage nochmals an diesen zu wenden und deutlich zu machen, dass eine Entscheidung über einen Antrag oder Rechtsbehelf noch ausstehe und bei weiterem Ausbleiben einer Entscheidung mit einer Untätigkeitsklage zu rechnen sei. Dies gelte jedenfalls dann, wenn im Fall anwaltlicher Vertretung in nicht unerheblichem Umfang Kosten entstünden. Dabei verkenne die Kammer nicht, dass § 88 SGG dies nicht verlange. Die hier zu treffende Entscheidung beruhe jedoch nicht auf § 88 SGG, sondern auf § 193 SGG und sei das Ergebnis einer Ermessensentscheidung des Gerichts. Die Entscheidung nach § 193 SGG könne für den Kläger nicht allein deshalb positiv ausfallen, weil ihm aus § 88 SGG eine formale Rechtsposition zustehe. Deren Ausnutzung könne gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen.

Die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin sei ihrer Obliegenheit zur Schadensminderung nicht nachgekommen. Sie habe sich vor Erhebung der Untätigkeitsklage nicht mehr an die Beklagte gewandt. Wie schon die Widerspruchserhebung sei auch dies durch ein einfaches Anwaltsschreiben unter Setzung einer angemessenen Frist und Hinweis auf die dann ins Auge gefasste Rechtsfolge problemlos möglich gewesen. Die Außerachtlassung eines kostengünstigeren, ebenso erfolgversprechenden Weges stelle einen eklatanten Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht dar. Dies lasse die fehlende Einhaltung der Frist des § 88 SGG durch die Beklagte deutlich in den Hintergrund treten. Aus denselben Gründen erscheine die Untätigkeitsklage mutwillig, was eine Veranlassung durch die Beklagte ausschließe. Mutwillig handele derjenige, der von vornherein den kostspieligeren Weg wähle und sich nicht so verhalte, wie dies eine bemittelte Partei getan hätte. Weil mit der Untätigkeitsklage allein die Bescheidung des Antrags oder Rechtsbehelfs erreicht werden könne, erhebe ein verständiger Beteiligter eine Anwaltskosten auslösende Untätigkeitsklage nur aus besonderen Gründen. Ein verständiger Beteiligter wähle zudem den kostengünstigeren und im Regelfall schnelleren Weg der Nachfrage bei der Beklagten. Auch stehe das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zur Verfügung.

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Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Hiergegen wendet sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Verfassungsbeschwerde und rügt  die Verletzung des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) und ihres Anspruches auf effektiven Rechtsschutz (Art.19 Abs. 4 GG).

Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt sei (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG):

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot. Ein Richterspruch verstößt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere dann gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG), wenn der Inhalt einer Norm in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird3. Danach verstößt der angegriffene Beschluss gegen das Willkürverbot, weil das Sozialgericht § 193 SGG in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet hat.

Die im Ausgangsverfahren in Streit stehende Frage, wer die Kosten einer zulässigen und begründeten Untätigkeitsklage trägt, die sich nach Klageerhebung erledigt hat, richtet sich nach § 193 SGG. Handelt die Behörde nach Erhebung der Untätigkeitsklage, ist das Verfahren für erledigt zu erklären (§ 88 Abs. 1 Satz 3 SGG; vgl. dazu Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl.2020, § 88 Rn. 11). Das Gericht entscheidet dann auf Antrag nach § 193 SGG über die Kosten. § 193 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGG enthält keine Vorgaben für den Inhalt der Kostenentscheidung. Das Sozialgericht entscheidet daher nach billigem Ermessen aufgrund allgemeiner Grundsätze. Bei der Entscheidung über die Kosten nach Erledigung der Hauptsache ist grundsätzlich der Ausgang des Verfahrens auf Grundlage des Sach- und Streitstands zum Zeitpunkt der Erledigung maßgeblich4. Dies beruht auf einer Anwendung der Rechtsgedanken der § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO, § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO, § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO, § 154 Abs. 1, 2 und 4 VwGO, § 155 Abs. 1 und 2 VwGO. Wird die Klage vor Ablauf der gesetzlichen Wartefrist erhoben und erlässt die Behörde den begehrten Bescheid noch innerhalb der Frist, erfolgt keine Kostenerstattung, weil die Klage unzulässig ist. Dagegen ist die Untätigkeitsklage zulässig und begründet und kommt also eine Kostenerstattung grundsätzlich in Betracht, wenn die Behörde nicht innerhalb der gesetzlichen Sperr- beziehungsweise Wartefrist über den Antrag entscheidet und kein zureichender Grund für die Verspätung vorlag (vgl. § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG). Im hier zu entscheidenden Fall war die gesetzliche Sperr- beziehungsweise Wartefrist bei Erhebung der Untätigkeitsklage abgelaufen, das beklagte Jobcenter hat den beantragten Verwaltungsakt erst nach Ablauf der Frist erlassen und ein zureichender Grund für die Verspätung ist nicht ersichtlich. Auch das Sozialgericht geht offenbar davon aus, dass kein zureichender Grund für die Verspätung bestand.

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Ist die Untätigkeitsklage zulässig und begründet, ist zwar nicht ausgeschlossen, dass das Gericht in pflichtgemäßer Ausübung seines Ermessens aus Gründen der Billigkeit nach § 193 SGG gleichwohl eine Kostenerstattung ablehnt. Hier hat das Sozialgericht das ihm durch § 193 SGG eingeräumte Ermessen mit der Ablehnung der Kostenerstattung jedoch in nicht mehr nachvollziehbarer Weise gehandhabt. Es hat den seine Ermessensausübung leitenden Grundsatz, ein Leistungsempfänger sei – jedenfalls im Fall anwaltlicher Vertretung – bei Untätigkeit eines Leistungsträgers grundsätzlich verpflichtet, sich vor Erhebung einer Untätigkeitsklage nochmals an diesen zu wenden und deutlich zu machen, dass eine Entscheidung über einen Antrag oder Rechtsbehelf noch ausstehe und die Behörde bei weiterem Ausbleiben einer Entscheidung mit einer Untätigkeitsklage rechnen müsse, nicht nachvollziehbar aus dem geltenden Recht abgeleitet. Eine Notwendigkeit, ohne Anlass vor Erhebung jeder Untätigkeitsklage den Sachstand zu erfragen, ist nicht als generelle Pflicht ersichtlich, sondern kann nur unter besonderen Umständen des Einzelfalls bestehen. Das Sozialgericht hat aber nicht zu erkennen gegeben, dass hier die Umstände des Einzelfalls die Mutwilligkeit der Klageerhebung begründen könnten.

Eine allgemeine Pflicht, die Behörde nach Ablauf der Wartefrist auch ohne Anlass vor Erhebung einer Untätigkeitsklage zunächst auf die ausstehende Entscheidung über den Antrag oder Widerspruch aufmerksam zu machen, die Klageerhebung anzukündigen und nachzufragen, ob sie bald entscheide, findet keine Stütze im Gesetz und kann im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung auch auf keinen der Begründungsansätze des Sozialgerichts gestützt werden. Eine Pflicht, vor der Erhebung einer Untätigkeitsklage den Sachstand zu erfragen, besteht nicht generell, sondern nur unter besonderen Umständen des Einzelfalls5.

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Weder dem Wortlaut des § 88 SGG noch dem des § 193 SGG ist eine generelle Pflicht zur Sachstandsanfrage vor Erhebung der Untätigkeitsklage oder die Pflicht zur Ankündigung einer solchen Klage zu entnehmen. Es sind auch keine systematischen oder entstehungsgeschichtlichen Anhaltspunkte für eine solche Auslegung ersichtlich.

Indem Bürgerinnen und Bürger nach Ablauf der Wartefrist mit der Erhebung einer zulässigen Untätigkeitsklage eine formale Rechtsposition ausnutzen, verstoßen sie grundsätzlich nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Die Untätigkeitsklage kann erst nach Ablauf einer sechs- beziehungsweise dreimonatigen Frist zulässig erhoben werden. Hiermit hat der Gesetzgeber selbst geregelt, wie lange die Betroffenen zuwarten müssen. Wer der Behörde die vom Gesetzgeber exakt geregelte Zeit lässt und erst klagt, wenn diese abgelaufen ist, handelt grundsätzlich nicht treuwidrig. So wie sich Bürgerinnen und Bürger die Versäumung einer Frist regelmäßig strikt entgegenhalten lassen müssen, darf auch der Staat grundsätzlich nicht darauf vertrauen, von Bürgerinnen und Bürgern auf den Ablauf einer gesetzlichen Frist erneut hingewiesen zu werden und eine außergesetzliche Nachfrist zu erhalten. Nicht nachvollziehbar ist insbesondere die Annahme des Sozialgerichts, es sei der Behörde zunächst durch ein einfaches Anwaltsschreiben eine angemessene Frist mit „Hinweis auf die dann ins Auge gefasste Rechtsfolge“ zu setzen. Bürgerinnen und Bürger können dem Staat hier nicht Fristen setzen, die das Gesetz nicht vorsieht. Sie können auch nicht eigenmächtig über Rechtsfolgen disponieren; auch die Rechtsfolge des Fristablaufs ergibt sich vielmehr aus dem Gesetz. Der Staat muss die gesetzlichen Fristen und etwaige Rechtsfolgen ebenso kennen und beachten wie Bürgerinnen und Bürger. Hat der Ablauf der Wartefrist im Fall der Untätigkeitsklage eine Kostenfolge zu Lasten der beklagten Behörde, ist auch dies eine prozessrechtlich vorgesehene Konsequenz des Fristablaufs und die Herbeiführung dieser Rechtsfolge grundsätzlich nicht treuwidrig.

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Die Erhebung der Untätigkeitsklage ohne erneute Fristsetzung durch die Bürgerin oder den Bürger ist auch nicht deshalb generell mutwillig, weil eine bemittelte Partei anders gehandelt hätte. Es ist schon nicht nachvollziehbar, inwiefern der von dem Sozialgericht angestellte Vergleich mit einer bemittelten Partei im vorliegenden Verfahren Bedeutung haben könnte, denn es geht hier nicht um Prozesskostenhilfe.

Auch aus dem angeführten Gebot der Rücksichtnahme mag sich zwar unter besonderen Umständen eine Pflicht ergeben, die Behörde vor Erhebung einer zulässigen und begründeten Untätigkeitsklage an den Fristablauf zu erinnern; hieraus wird jedoch keine generelle Nachfragepflicht abgeleitet6. Eine solche hat das Sozialgericht nicht nachvollziehbar begründet. Insbesondere liegt die Annahme des Sozialgerichts, der Umstand, dass die formalen Voraussetzungen einer Untätigkeitsklage bei deren Erhebung regelmäßig vorlägen und dies bei Berücksichtigung der Erfolgsaussichten regelmäßig zu einer Kostentragungspflicht der Beklagten führe, stelle einen „evidenten Widerspruch zum Grundsatz des fairen Verfahrens“ aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG dar, fern. Der Rechtsstaat darf Bürgerinnen und Bürgern im Verwaltungsprozess die Kostenerstattung grundsätzlich nicht mit der Begründung verweigern, dass ihre Klage gegen rechtswidriges Verhalten des Staates offensichtlich zulässig und begründet gewesen sei.

Die Mutwilligkeit kann auch nicht mit dem Sozialgericht daraus abgeleitet werden, dass mit dem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86b SGG ein „besseres Mittel“ zur Verfügung stehe. Dagegen spricht bereits, dass § 86b Abs. 2 SGG weitergehende Voraussetzungen statuiert. Insbesondere muss Eilbedürftigkeit bestehen. Die Untätigkeitsklage setzt hingegen keine Eilbedürftigkeit voraus, weil Bürgerinnen und Bürger so auch unabhängig von konkreter Eilbedürftigkeit zu ihrem Recht kommen können sollen.

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Das Sozialgericht hat nicht dargelegt, dass die Beschwerdeführerin hier aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls missbräuchlich gehandelt habe, indem sie nach Ablauf der in § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG geregelten Frist ohne eine Nachfrage oder Nachfristsetzung Untätigkeitsklage erhoben hat. Das Gericht hat keine Besonderheiten des Falles angeführt, die das Verhalten der Beschwerdeführerin als einen Missbrauch von Rechten oder ein in sonstiger Weise unredliches oder gar sittenwidriges Verhalten erscheinen lassen könnten. Allerdings formuliert das Gericht in einem Nebensatz, das Verhalten der Beschwerdeführerin sei „nichts anderes als die Ausnutzung einer formal bestehenden Rechtsposition“ zur „Erzielung eines anders nicht erreichbaren Gebührenvorteils“. Es mag Konstellationen geben, in denen eine Fristversäumnis auf Behördenseite treuwidrig zur Erhebung einer erfolgreichen Untätigkeitsklage ausgenutzt wird, vor allem um einen Kostenvorteil zu erlangen. Dies mag sich im Einzelfall aus dem konkreten Geschehen vor Klageerhebung ergeben. Indessen kann nicht von der anwaltlichen Vertretung an sich auf die Mutwilligkeit der Erhebung der Untätigkeitsklage geschlossen werden. Dafür müssten weitere Anhaltspunkte vorliegen.

Der angegriffene Beschluss war daher gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht Darmstadt zurückzuverweisen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. Februar 2023 – 1 BvR 311/22

  1. SG Darmstadt, Beschluss vom 29.12.2021 – S 16 AS 333/21[]
  2. Hess. LSG, Beschluss vom 15.02.2008 – L 7 B 184/07 AS, Rn. 21[]
  3. vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.09.2021 – 1 BvR 1029/20, Rn. 22; stRspr[]
  4. vgl. BSG, Beschluss vom 13.12.2016 – B 4 AS 14/15 R 7; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl.2020, § 193 Rn. 12[]
  5. vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 15.02.2008 – L 7 B 184/07 AS 21; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.09.2005 – L 10 LW 4563/04 AK-B 28 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.03.2012 – L 19 AS 265/12 B 18; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16.04.1998 – L 3 Sb 84/97 29; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 16.08.2011 – L 8 B 296/09 13; SG Reutlingen, Beschluss vom 09.02.2018 – S 4 AS 2528/17 21 ff.[]
  6. vgl. SG Reutlingen, Beschluss vom 09.02.2018 – S 4 AS 2528/1719 ff.[]

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