Sorgerechtsverfahren – und die verfassungsrechtlichen Anforderungen

Aus der grundrechtlichen Gewährleistung des Elternrechts und aus der Verpflichtung des Staates, über dessen Ausübung im Interesse des Kindeswohls zu wachen, einerseits und aus dem Gebot, möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung zu erkennen, andererseits, ergeben sich Folgerungen für das Prozessrecht und seine Handhabung in Sorgerechtsverfahren1.

Sorgerechtsverfahren – und die verfassungsrechtlichen Anforderungen

Zwar muss in Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz dem Gericht überlassen bleiben, welchen Weg es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für geeignet hält, um zu den für seine Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen2. Das Verfahren muss aber grundsätzlich geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen.

Danach ist die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und die Würdigung des Tatbestandes sowie die Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklicher Regelungen im einzelnen Fall Angelegenheit der zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Ihm obliegt lediglich die Kontrolle, ob die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts oder vom Umfang seines Schutzbereiches beruhen. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben lassen sich die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts aber nicht starr und gleichbleibend ziehen. Sie hängen namentlich von der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung ab3.

Die Fachgerichte sind demnach verfassungsrechtlich nicht stets gehalten, ein Sachverständigengutachten einzuholen1. Wenn sie von der Beiziehung eines Sachverständigen absehen, müssen sie anderweitig über eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen4. Die Verfassung schließt zudem nicht aus, dass das Fachgericht im Einzelfall von den fachkundigen Feststellungen und Wertungen gerichtlich bestellter Sachverständiger abweicht. Insbesondere ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht zu einer abweichenden Einschätzung und Bewertung von Art und Ausmaß einer Kindeswohlgefährdung oder der dem Kindeswohl am besten entsprechenden Entscheidung gelangt. Es muss dann aber eine anderweitige verlässliche Grundlage für eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung haben und diese offenlegen. Ein Abweichen von den gegenläufigen Einschätzungen der Sachverständigen bedarf daher eingehender Begründung5.

Diesen Maßstäben wird der hier angefochtene Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock6 nicht gerecht. Das Oberlandesgericht weicht mit der auf § 64 Abs. 3 FamFG gestützten Aussetzung der Vollziehung der Entscheidung des Familiengerichts von den Empfehlungen der erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachten ab, ohne in der Begründung eine hinreichend zuverlässige Grundlage für diese abweichende Entscheidung darzulegen. Ferner lässt die Entscheidung keine zuverlässige Grundlage für die Annahme einer Kindeswohlgefährdung im Falle der Umsetzung der amtsgerichtlichen Entscheidung erkennen.

Das Oberlandesgericht Rostock weicht von den Empfehlungen der im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten ab, ohne diese Abweichung tragfähig zu begründen und ohne hierfür eine hinreichend zuverlässige anderweitige Entscheidungsgrundlage erkennen zu lassen. Die Kammer hat in der Entscheidung über die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts ausgeführt, dass ein Abweichen von diesen Empfehlungen der Sachverständigen einer eingehenden Begründung bedarf, nachdem das Amtsgericht – gestützt auf die Sachverständigengutachten – festgestellt hat, dass der Vater in Bezug auf die Mutter wahnhafte Vorstellungen hat, die er durch beeinflussende Verhaltensweisen auf das Kind überträgt, und dass dadurch eine Gefährdung des Kindeswohls besteht. Dabei werden die Anknüpfungstatsachen, auf denen die Annahme wahnhafter Vorstellungen des Vaters beruhen, in den Sachverständigengutachten ausführlich und nachvollziehbar dargestellt7.

Auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten des einstweiligen Rechtsschutzes wird das Oberlandesgericht den genannten Begründungsanforderungen nicht gerecht. Die angegriffene Entscheidung enthält keine nachvollziehbare Begründung für dieses Abweichen von den Empfehlungen beider Sachverständiger. Das Oberlandesgericht begründet weder nachvollziehbar, dass die Sachverständigengutachten aufgrund fachlicher Fehler nicht verwertbar sind, noch tragfähig, dass das Kindeswohl die Aufrechterhaltung des Aufenthalts beim Vater trotz der vom Amtsgericht festgestellten Kindeswohlgefährdung gebietet.

Mit der angegriffenen Entscheidung hat das Oberlandesgericht die Vollziehung der Entscheidung des Amtsgerichts im Hinblick auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht außer Vollzug gesetzt, um den Aufenthalt des Kindes beim Vater für die Dauer des Verfahrens nicht zu verändern. Es hält damit die vom Amtsgericht gestützt auf zwei Sachverständigengutachten als kindeswohlgefährdend festgestellte Situation aufrecht. Diesbezüglich hat insbesondere der Sachverständige A. dargestellt, dass der Vater nach seinen eigenen Angaben von einer Tätigkeit der Mutter als Prostituierte ausgeht; er meint, sie habe jede Nacht Geschlechtsverkehr mit anderen Männern, erinnere sich wegen einer „Teildemenz“ hieran aber nicht. Er hätte sie für 20.000 Euro freikaufen können, aber nicht das Geld hierfür gehabt. Außerdem werde sie vom Bundesnachrichtendienst überwacht. Ein dort tätiger Freund würde ihm das Material für 20.000 Euro überlassen8. Diese Annahmen entbehren jeglicher erkennbaren Grundlage9. Der Sachverständige A. legt auch dar, dass der Vater das Kind in diese Vorstellungswelt einbezieht. Indem er in Anwesenheit des Kindes behaupte, die Mutter würde ihm auflauern und es entführen, vermittelt er nach Einschätzung des Sachverständigen dem Kind den Eindruck, es müsse sich vor der Mutter und deren Umfeld hüten10.

Weder mit diesen von der Kammer ausdrücklich benannten Gesichtspunkten noch mit der erstinstanzlichen Entscheidung oder den Sachverständigengutachten im Übrigen setzt sich das Oberlandesgericht in der angegriffenen Entscheidung auseinander. Es führt lediglich aus, die Frage der Kindeswohlgefährdung werde neu zu beurteilen sein und es werde eine Kindeswohlgefährdung durch den Wechsel zur Mutter zu prüfen sein. Diese Ausführungen genügen aber nicht, um von der Empfehlung der Sachverständigen abzuweichen, das Kind aus dem Haushalt des Vaters zu nehmen und einen Wechsel in den Haushalt der Mutter vorzunehmen. Tragfähige Ausführungen zur Verwertbarkeit der Sachverständigengutachten enthält die angegriffene Entscheidung nicht. Soweit das Oberlandesgericht auf den zwischenzeitlichen Zeitablauf Bezug nimmt, ergibt sich daraus nicht, dass die Gutachten als veraltet anzusehen sind. Eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse stellt das Oberlandesgericht nicht fest. Es benennt keine weiteren Erkenntnisquellen, die die Annahme rechtfertigen könnten, dass der weitere Verbleib des Kindes beim Vater dem Kindeswohl besser dient als die Umsetzung der amtsgerichtlichen Entscheidung und damit der Empfehlung der Sachverständigen.

Der Hinweis darauf, dass nicht absehbar sei, ob die amtsgerichtliche Entscheidung auch der abschließenden Entscheidung im Beschwerdeverfahren entspreche, genügt ebenfalls nicht, um eine Abweichung von der Empfehlung der Sachverständigen zu begründen. Die Unabsehbarkeit einer Hauptsacheentscheidung ist der vorläufigen Entscheidung in gerichtlichen Verfahren immanent. Dies rechtfertigt jedoch nicht, die bislang im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse außer Betracht zu lassen. Eine vorläufige Regelung des Sorgerechts bedarf vielmehr der umfassenden Würdigung dieser Erkenntnisse. Hier lag durch die amtsgerichtliche Entscheidung und die Ermittlungen des Amtsgerichts eine umfangreiche Grundlage für die Bewertung des Kindeswohls vor, mit der sich das Oberlandesgericht hätte auseinandersetzen und dadurch hätte konkret darlegen müssen, warum nach dem jetzigen Sachstand von den Feststellungen des Amtsgerichts abzuweichen ist.

Eine mögliche Kindeswohlgefährdung durch die Umsetzung der amtsgerichtlichen Entscheidung legt das Oberlandesgericht nicht nachvollziehbar dar. Es ist nicht erkennbar, worauf das Oberlandesgericht die Annahme einer Kindeswohlgefährdung durch einen – zukünftigen – Wechsel zur Mutter stützt.

Das Amtsgericht hat der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen, gleichzeitig aber der Mutter auferlegt, das Kind nicht unmittelbar in ihren Haushalt aufzunehmen, sondern es zuvor stationär in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie diagnostizieren und behandeln zu lassen. Eine Kindeswohlgefährdung bei Umsetzung dieser Entscheidung ist aufgrund der Begründung des Oberlandesgerichts nicht erkennbar. Das Oberlandesgericht führt insofern lediglich aus, dass eine Kindeswohlgefährdung durch den Wechsel zur Mutter möglich sei und dass diese näher geprüft werden müsse. Es gibt aber in keiner Weise an, welcher Art diese Kindeswohlgefährdung sein kann oder auf welchen Grundlagen diese Annahme beruht. Insbesondere konkretisiert es diese Kindeswohlgefährdung nicht nach ihrer Art, dem Grad der Gefahr und den zu erwartenden Schäden für das Kind. Es benennt keinerlei konkrete Umstände, die auf eine solche Kindeswohlgefährdung hindeuten können. Soweit es darauf abstellt, dass das Kind nunmehr seit drei Jahren seinen Aufenthalt beim Vater hat und zumindest indirekt darauf Bezug nimmt, dass das Kind die Mutter und einen Wechsel zu dieser derzeit ablehnt, nimmt das Oberlandesgericht nicht in den Blick, dass ein solcher unmittelbarer Wechsel vom Amtsgericht gerade ausgeschlossen wurde, indem es auf Anraten der Sachverständigen der Mutter zur Auflage gemacht hat, das Kind kinder- und jugendpsychiatrisch behandeln zu lassen. Diese Behandlung hat notwendigerweise zum Ziel, dass eine Aufnahme in den Haushalt der Mutter ohne Kindeswohlgefährdung möglich ist. Zu einem unmittelbaren Wechsel in den Haushalt der Mutter kommt es somit gerade nicht. Dieser ist erst zu erwarten, wenn die behandelnden Ärzte ihn für mit dem Kindeswohl vereinbar halten. Zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung durch die stationäre Aufnahme in eine Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie verhält sich die angegriffene Entscheidung nicht. Eine solche liegt hier auch fern.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6. September 2021 – 1 BvR 1750/21

  1. vgl. BVerfGE 55, 171 <182>[][]
  2. vgl. BVerfGE 79, 51 <62> siehe auch bereits BVerfGE 55, 171 <182>[]
  3. vgl. BVerfGE 72, 122 <138> stRspr[]
  4. vgl. BVerfGK 9, 274 <279> BVerfG, Beschluss vom 14.04.2021 – 1 BvR 1839/20, Rn.20 m.w.N.[]
  5. vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.04.2021 – 1 BvR 1839/20, Rn.20 m.w.N.[]
  6. OLG Rostock, Beschluss vom 28.06.2021 – 10 UF 68/20[]
  7. vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.04.2021 – 1 BvR 1839/20, Rn. 23 ff.[]
  8. vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.04.2021 – 1 BvR 1839/20, Rn. 24[]
  9. vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.04.2021 – 1 BvR 1839/20, Rn. 29[]
  10. vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.04.2021 – 1 BvR 1839/20, Rn. 26[]

Bildnachweis: