Bemessung des Arbeitslosengeldes nach Gleichwohlgewährung

Ist aufgrund von Arbeitsbescheinigungen offensichtlich, dass der Arbeitslose bei Verlängerung der Kündigungsfrist im laufenden arbeitsgerichtlichen Verfahren nach arbeitsrechtlicher Beendigung einen deutlich höheren Anspruch auf Arbeitslosengeld hätte, hat die Agentur für Arbeit diesen auf die leistungsrechtlichen Folgen einer Gleichwohlgewährung und das Dispositionsrecht nach § 118 Abs. 2 SGB III a.F. (= § 137 Abs. 2 SGB III n.F.) hinzuweisen.

Bemessung des Arbeitslosengeldes nach Gleichwohlgewährung

Das Bemessungsentgelt als Grundlage der Berechnung des Arbeitslosengeld ist das durchschnittliche auf den Tag entfallende beitragspflichtige Arbeitsentgelt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (§ 131 Abs. 1 Satz 1 SGB III in der hier anwendbaren, bis zum 31.03.2012 geltenden Fassung). Der Bemessungszeitraum umfasst die beim Ausscheiden des Arbeitslosen aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigung im Bemessungsrahmen (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F.). Der Bemessungsrahmen umfasst ein Jahr und endet mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor Entstehung des Anspruchs (§ 130 Abs. 1 Satz 2 SGB III a.F.). Im vorliegenden Fall ist der Bemessung des Arbeitslosengeldes für den 01.12.2011 der Zeitraum vom 01.12.2010 bis zum 30.11.2011 als Bemessungszeitraum zugrunde zu legen.

Der Leistungsanspruch wird zwar dann, wenn wie hier nach einer Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld keine neue Anwartschaft auf Arbeitslosengeld erfüllt wird, trotz arbeitsrechtlicher und versicherungsrechtlicher Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses perpetuiert. Zum 01.05.2011, dem damaligen Leistungsbeginn, waren daher – wie die Beklagte zutreffend ausgeführt hat – alle Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt. Der Kläger war arbeitslos und hatte sich bei der Beklagten arbeitslos gemeldet sowie die Anwartschaftszeit erfüllt (§§ 117 Abs. 1 Nr. 1, 118 Abs. 1 SGB III a.F.). Dass zu dieser Zeit noch nicht geklärt war, ob die am 01.04.2011 ausgesprochene Kündigung rechtswirksam war und dem Kläger weitere Entgeltansprüche aus dem gekündigten Arbeitsverhältnis zustanden, führte nur zu einer so genannten Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld gemäß § 143 Abs. 3 SGB III. Trotz der Erstattung und Nachentrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen durch den Arbeitgeber hatte die arbeitsgerichtlich erreichte Verschiebung des Beendigungszeitpunkts demgegenüber nicht etwa zur Folge, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld nachträglich entfallen wäre. Die Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld befriedigt vielmehr einen bestehenden Leistungsanspruch und ist nicht etwa nur vorläufiger Natur. Wegen der damit verbundenen Entstehung des Stammrechts auf Arbeitslosengeld werden Anspruchsbeginn und Rahmenfrist bei einer arbeitsgerichtlich erreichten Verschiebung des Kündigungstermins nachträglich nicht geändert1.

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Der Kläger ist allerdings im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob er von seinem Recht, bis zur Entscheidung über den Anspruch zu bestimmen, dass dieser nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt entstehen soll (§ 118 Abs. 2 SGB III a.F.), Gebrauch gemacht und auf die Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld zunächst verzichtet hätte. Die Beklagte ist gemäß § 14 SGB I rechtlich verpflichtet, bei Vorliegen eines konkreten Anlasses auf klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig ist, dass ein verständiger Versicherter sie mutmaßlich nutzen würde2. Kommt die Beklagte dieser Beratungspflicht nicht nach und erleidet der Versicherte hierdurch einen rechtlichen Nachteil, hat sie durch Vornahme einer zulässigen Amtshandlung den Zustand herzustellen, der bei einer ordnungsgemäßen Beratung eingetreten wäre3.

Die beklagte Arbeitsagentur war im vorliegenden Fall verpflichtet, den Kläger über die Rechtsfolgen der Gleichwohlgewährung und die insoweit bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten aufzuklären. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass eine Kenntnis der juristischen Konstruktion der Gleichwohlgewährung, insbesondere der Unterscheidung zwischen dem leistungsrechtlichen und dem beitrags- und arbeitsrechtlichen Begriff der Arbeitslosigkeit, vom Arbeitslosen nicht ohne Weiteres erwartet werden kann. Bei der Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld besteht daher schon bereits deswegen ein hoher Beratungsbedarf4. Die Beratungspflichten erstrecken sich auch und gerade auf die gesetzlichen Möglichkeiten, die Dauer des Arbeitslosengeldanspruchs durch entsprechende Dispositionen zu beeinflussen5.

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Eine Beratung des Klägers drängte sich hier auf. Denn die Arbeitsagentur konnte aus den Antragsunterlagen, namentlich den Arbeitsbescheinigungen vom 07.04.2011 und vom 21.04.2011, ohne Weiteres ersehen, dass eine Ausübung des Bestimmungsrechts dahingehend, dass das Stammrecht zu einem späteren Zeitpunkt entstehen soll, für ihn vorteilhaft sein könnte6. Der Unterschied zwischen dem in den ersten fünfeinhalb Monaten erzielten Arbeitsentgelt von monatlich 600,00 Euro und dem Verdienst im restlichen Bemessungszeitraum von durchschnittlich rund 2.765,00 Euro ist evident. Es musste der Beklagten daher klar sein, dass der Kläger im Fall einer in arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht unüblichen Verlängerung der Kündigungsfrist bei einem späteren Eintritt der Arbeitslosigkeit auch im leistungsrechtlichen Sinne Anspruch auf deutlich höheres Arbeitslosgengeld gehabt hätte.

Gegen eine entsprechende Beratungspflicht spricht auch nicht etwa, dass das Ergebnis des Kündigungsschutzprozesses zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht abzusehen war. Zum Einen findet vor den Arbeitsgerichten aufgrund des dort geltenden Beschleunigungsgrundsatzes (§ 9 Abs. 1 ArbGG) im Regelfall frühzeitig ein Gütetermin statt (§ 54 ArbGG), der nicht selten bereits zu einer vergleichsweisen Beendigung des Arbeitsrechtsstreits führt und dem Kläger jedenfalls eine Einschätzung hinsichtlich des weiteren Verfahrensgangs erlaubt. Zum anderen entbindet auch ein ggf. längerer ohne Arbeitslosengeld zu überbrückender Zeitraum die Beklagte nicht von ihrer Beratungspflicht, sofern die Ausübung des Gestaltungsrechts im konkreten Fall nicht völlig fernliegend ist. In diesem Fall bestehen im Gegenteil vielmehr gesteigerte Anforderungen an die Beratung, da dem Versicherten die möglichen Nachteile einer Verschiebung des Arbeitslosengeldbezugs z. B. hinsichtlich Krankenversicherungsschutz und Rentenversicherungsbeiträgen, sorgfältig erläutert werden müssen7. Schließlich waren der Beklagten die finanziellen Verhältnisse des Klägers aus dem Antragsverfahren und den dort vorgelegten Antragsunterlagen nicht bekannt, so dass sie nicht davon ausgehen konnte, er sei auf die Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld angewiesen, was eine Ausübung des Bestimmungsrechts im Einzelfall ausschließen könnte.

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Die unterbliebene Beratung war auch kausal für den eingetretenen Rechtsnachteil. Der Kläger hat durch Vorlage von Kontoauszügen nachgewiesen, dass er über ausreichende Ersparnisse verfügte, um den Lebensunterhalt seiner Familie für die Dauer des Kündigungsschutzprozesses aus eigenen finanziellen Mitteln zu bestreiten. Rechtsfolge des Herstellungsanspruchs ist, dass der Kläger so zu stellen ist, als ob er sein Bestimmungsrecht ausgeübt und auf die Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld verzichtet hätte. Es entsprach bereits vor Inkrafttreten des SGB III der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dass eine Korrektur der Antragstellung in Form einer Verschiebung des Antrags und damit der Entstehung des Arbeitslosengeldanspruchs im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erreicht werden kann8. Unter Geltung des SGB III ist seine Rechtsposition insoweit sogar gestärkt worden, als § 118 Abs. 2 SGB III dem Arbeitslosen ausdrücklich ein Dispositionsrecht hinsichtlich der Entstehung des Arbeitslosengeldanspruchs einräumt. Die auf einer fehlerhaften Beratung beruhende Nichtausübung des Dispositionsrecht kann somit im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs korrigiert werden9.

Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 31. Oktober 2012 – S 16 AL 726/12

  1. vgl. BSG, Urteil vom 11.06.1987 – 7 RAr 40/86, Rdnrn. 20 ff.; Düe, in: Niesel/Brand, SGB III, 5. Aufl. 2010, § 143 Rdnr. 50 m.w.N.[]
  2. vgl. BSG, Urteil vom 05.08.1999 – B 7 AL 38/98 R, Rdnrn. 27 f.[]
  3. vgl. BSG, Urteil vom 11.03.2004 – B 13 RJ 16/03 R, Rdnr. 24[]
  4. vgl. hierzu auch Mönch-Kalina, in: jurisPK SGB I, 2. Aufl. 2011, § 14 Rdnr. 37 m.w.N.[]
  5. vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006 – B 7a AL 70/05 R, Rdnr. 18; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.01.2007 – L 1 AL 62/06, Rdnr. 18[]
  6. vgl. hierzu auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2012 – L 13 AL 4098/10[]
  7. vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006 – B 7a AL 70/05 R, Rdnr. 19; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.01.2007 – L 1 AL 62/06, Rdnr. 20[]
  8. vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006 – B 7a AL 70/05 R, Rdnr. 14 m.w.N.[]
  9. vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26.02.2009 – L 1 AL 81/07, Rdnr. 32; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.01.2007 – L 1 AL 62/06, Rdnrn. 17 ff.[]
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