Leistungsvoraussetzungen nach dem Opferentschädigungsgesetz

Für einen Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz ist das Vorliegen eines „tätlichen Angriffs“ unabdingbare Voraussetzung. Dabei ist ein tätlicher Angriff i.S.v. § 1 Abs. 1 OEG grundsätzlich nur bei einer gegen die körperliche Unversehrtheit einer anderen Person gerichteten Kraftentfaltung anzunehmen. Erpressungsversuche stellen keinen solchen „tätlichen Angriff“ dar.

Leistungsvoraussetzungen nach dem Opferentschädigungsgesetz

Mit dieser Begründung hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in dem hier vorliegenden Fall einer Apothekerin keine Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zugestanden. Der in der Nachbarschaft der 1968 geborenen Apothekerin wohnhafte J. hat sich in der Zeit zwischen dem 25. Februar und 18. März 2010 nacheinander mit fünf Erpresserschreiben an die Klägerin gewandt und darin Forderungen in Höhe von zunächst 8.500,00 €, später 9.000,00 € erhoben. Für den Fall der Nichtzahlung wurden in den Schreiben mit drastischen Worten die Tötung der Kinder der Klägerin sowie die Tötung der Klägerin angekündigt. Darüber hinaus wurde angedroht, ihr Haus in Brand zu stecken, Gift in Lebensmittelgeschäften auszubringen sowie Attentate auf fahrende Autos zu verüben. Die Klägerin wandte sich von Anfang an an die Polizei. Unter deren Mitwirkung hinterlegte sie mehrfach Geldpakete an den von dem Täter bestimmten Orten, die dieser jedoch aus Angst vor Entdeckung jeweils nicht abholte. Die Erpressungen endeten mit einer am 18. März 2010 bei dem Täter durchgeführten polizeilichen Durchsuchung.

Im November 2010 beantragte die Klägerin Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz und gab zur Begründung an, sie leide unter massiven psychischen Schäden. Bei ihr bestünden Angstzustände, Schlafstörungen und eine posttraumatische Belastungsstörung. Nachdem der Antrag von der Beklagten abgelehnt worden war, hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Braunschweig erhoben. Die Klage ist dann mit Urteil vom 10. Juli 2012 vom Sozialgericht1 als unbegründet abgewiesen worden. Danach seien solche Taten nicht entschädigungspflichtig, die allein durch eine intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung geschähen. Ihren Anspruch auf Leistung verfolgt die Klägerin mit der Berufung weiter. Nach ihrer Auffassung hat das Sozialgericht verkannt, dass die Handlungen des Täters massive seelische Gewalthandlungen gewesen seien, welche sie erheblich psychisch geschädigt hätten. Über einen längeren Zeitraum hin seien mehrere massive Bedrohungen und Erpressungsversuche durchgeführt worden. Es habe Tötungsdrohungen gegenüber den Kindern und der Klägerin gegeben. Der Täter habe sich auch mehrfach auf das Grundstück der Familie der Klägerin begeben und damit erheblich in ihre Privatsphäre eingegriffen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts genüge für die Annahme einer Gewalttat bereits eine Drohung, wenn damit eine objektiv hohe Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Integrität des Opfers verbunden sei. Eine solche habe durch die ständige Präsenz des Täters auf dem Grundstück und am Arbeitsplatz der Klägerin bestanden.

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Nach Auffassung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen ist das Sozialgericht zutreffend davon ausgegangen, dass diese Taten nicht einen „tätlichen Angriff“ darstellen. Ein solcher ist aber unabdingbare Voraussetzung aller nach dem Opferentschädigungsgesetz etwa in Betracht kommenden Ansprüche. Das Sozialgericht hat hierbei richtig erkannt, dass auch nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts2 ein tätlicher Angriff i.S.v. § 1 Abs. 1 OEG grundsätzlich nur bei einer gegen die körperliche Unversehrtheit einer anderen Person gerichteten Kraftentfaltung anzunehmen ist. An einer solchen hat es im vorliegenden Fall zweifelsfrei gefehlt. Die Klägerin hat nicht einmal behauptet, dass sie dem Täter im Zusammenhang mit den Erpressungsversuchen jemals unmittelbar begegnet wäre. Jedenfalls im vorliegenden Fall ist ein tätlicher Angriff auch nicht im Hinblick auf die Bedrohung der Klägerin mit Gewalt anzunehmen. Hierbei lässt das Landessozialgericht ausdrücklich dahingestellt, ob eine Bedrohung in Fällen wie dem vorliegenden überhaupt zu der Annahme eines tätlichen Angriffs führen kann. Die Vorschrift des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG knüpft hinsichtlich der unmittelbaren Ursache der gesundheitlichen Schädigungen an zwei alternative Umstände an: einmal an den tätlichen Angriff als solchen, andererseits an die rechtmäßige Abwehr eines solchen Angriffs. Als rechtmäßige Abwehr kommt einerseits ein Ausweichen vor dem Angriff, möglicherweise auch in der Form einer Flucht, in Betracht oder eine Gegenwehr. Sind die rechtmäßige Gegenwehr oder das Ausweichen erfolgreich, so kommt es gar nicht mehr zu dem beabsichtigten Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Ein tätlicher Angriff liegt damit an sich nicht vor. Um eine Entschädigung für etwa im Zusammenhang mit dem Ausweichen oder der Gegenwehr erlittenen gesundheitlichen Schädigungen zu gewährleisten, besteht deshalb ein durchaus nachvollziehbares Bedürfnis, bereits eine akute Drohung mit einer Gewalttat als Anknüpfungspunkt eines Versorgungsanspruchs ausreichen zu lassen.

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Das Bundessozialgericht hat die Frage des Ausreichens einer Bedrohung als tätlichen Angriffs i.S. des Opferentschädigungsgesetzes bisher nur im Zusammenhang mit durch Flucht oder Abwehr erlittenen körperlichen Gesundheitsschäden diskutiert3. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 2. Oktober 20084 setzt sich nur scheinbar mit der Fragestellung auseinander, ob eine durch Drohung auf psychischem Wege verursachte Gesundheitsstörung im Wege des Opferentschädigungsgesetzes entschädigungsfähig sein kann. Wie sich aber aus der Begründung der Entscheidung ergibt, hatte das Landessozialgericht in der vorangegangenen Instanz ausdrücklich ausgeführt, dass eine den Maßstäben des Urteils des Bundessozialgerichts vom 24. Juli 2002 entsprechende Drohung nicht vorgelegen hatte. Eine etwa durch eine Drohung verursachte psychische Gesundheitsstörung war deshalb weder von dem Landessozialgericht noch von dem Bundessozialgericht zu diskutieren.

Nach Auffassung des Landessozialgerichts bestehen erhebliche Bedenken, ob die für die Annahme eines entschädigungsrechtlichen Haftungsgrundes bereits vor dem eigentlichen rechtsfeindlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit im Fall der zweiten Alternative des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sprechenden Gesichtspunkte auch im Fall der ersten Alternative des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG Anwendung finden sollten. Auch in der Entscheidung vom 7. April 20115 hat das Bundessozialgericht sich dazu nicht eindeutig erklärt.

Diesen Bedenken muss das Landessozialgericht jedoch nicht weiter nachgehen. Denn wie in dem mit dem Urteil vom 2. Oktober 20084 entschiedenen Sachverhalt haben auch im vorliegenden Fall die sich aus dem Urteil vom 24. Juli 20026 ergebenden strengen Voraussetzungen für die Annahme einer haftungsauslösenden Bedrohung nicht vorgelegen. Hierbei lässt das Landessozialgericht ausdrücklich dahingestellt, ob überhaupt ausreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Drohungen des Täters ernstgemeint gewesen sind und er überhaupt über die Mittel zu deren Umsetzung verfügt hat. Dagegen spricht immerhin der Umstand, dass er den fehlgeschlagenen Übergaben des Geldes in vier Fällen keinerlei Gewalttat, sondern nur erneute Erpressungsschreiben folgen ließ. Unabhängig davon ist das Risiko der Klägerin auf Beeinträchtigung ihrer körperlichen Unversehrtheit durch den Täter zu keinem Zeitpunkt so akut gewesen, wie dies bei einer Bedrohung mit einer scharf geladenen, entsicherten Schusswaffe unter Anwesenden gewesen wäre. Den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts folgend hat das Landessozialgericht bereits mit Beschluss vom 8. Juni 20127 das bloße Vorzeigen eines Messers aus einer Entfernung von 1,5 m nicht als tätlichen Angriff qualifiziert. Das Risiko der Klägerin, einen körperlichen Schaden zu erleiden, hat nach Auffassung des Landessozialgerichts auch bei – insoweit weder behaupteter noch bewiesener – gleichzeitiger Anwesenheit der Klägerin und des Täters auf dem Hausgrundstück der Klägerin nicht einmal dasjenige Maß erreicht, das bei einem derart vorgezeigten Messer bestanden haben würde. Erst recht war das Risiko nicht annähernd so akut, wie dies in dem gedachten Fall gewesen wäre, dass der Täter eine geladene und entsicherte scharfe Schusswaffe unmittelbar auf die Klägerin gerichtet hätte.

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Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Handlungen des Täters womöglich geeignet sein könnten, psychische Folgen bei der Klägerin zu hinterlassen. Das alleine genügt für die Annahme eines tätlichen Angriffs nicht8. In der genannten Entscheidung hat das Bundessozialgericht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nicht jedes gesellschaftlich missbilligte Verhalten Grundlage eines Anspruchs nach § 1 OEG sein muss.

Ein für die Klägerin günstigeres Ergebnis ergibt sich schließlich auch nicht unter Berücksichtigung der Grundsätze über den sogenannten Schockschaden9. Das Bundessozialgericht hat in der Entscheidung vom 7. April 20115 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch bei den Fällen des sogenannten Schockschadens von dem Erfordernis eines tätlichen Angriffs gegen eine Person keine Ausnahme gemacht wird. Ausreichend ist insoweit lediglich, dass der tätliche Angriff gegenüber einer anderen als der letztlich geschädigten Person ausgeführt worden ist. Sind aber die Handlungen des Täters auch gegenüber den Familienangehörigen der Klägerin nicht von grundsätzlich anderer Qualität gewesen, so fehlt es auch ihnen gegenüber an einem tätlichen Angriff, so dass das Landessozialgericht der auch von der Klägerin bisher nicht thematisierten Frage nicht nachgehen muss, ob sie etwa durch die gegen ihre Angehörigen gerichteten Drohungen einen Gesundheitsschaden erlitten hat.

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14. November 2013 – L 10 VE 46/12

  1. SG Braunschweig, Urteil vom 10.07.2012 – S 12 VE 34/11[]
  2. vgl. nur BSG, Urteil vom 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18[]
  3. vgl. BSG, Urteil vom 28.03.1984 – 9 a RVG 1/83, SozR 3800 § 1 Nr. 4; Urteil vom 10.09.1997 – 9 RVG 1/96, SozR 3-3800 § 1 Nr. 11; Urteil vom 24.07.2002 – B 9 VG 4/01 R, SozR 3-3800 § 1 Nr. 22[]
  4. BSG, Urteil vom 02.10.2008 – B 9 VG 2/07 R[][]
  5. BSG, Urteil vom 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R[][]
  6. BSG, Urteil vom 24.07.2002 – B 9 VG 4/01 R[]
  7. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.06.2012 – L 10 VE 20/12 B[]
  8. vgl. BSG, Urteil vom 14.02.2001 – B 9 VG 4/00 R, SozR 3-3800 § 1 Nr. 18[]
  9. vgl. dazu grundlegend BSG, Urteil vom 07.11.1979 – 9 RV 1/78, SozR 3800 § 1 Nr. 1[]
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