Eine gegen die Zwischenentscheidung des Sozialgerichts über die Ablehnung des Kammervorsitzenden gerichtete Verfassungsbeschwerde ist bereits deshalb unzulässig, weil ihr der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde entgegensteht.
Nach dem in Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG angelegten und in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität hat ein Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden und zumutbaren prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern1. Das Subsidiaritätsprinzip enthält zugleich eine grundsätzliche Aussage über das Verhältnis der Fachgerichte zum Bundesverfassungsgericht. Nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung obliegt zunächst den Fachgerichten die Aufgabe, die Grundrechte zu wahren und durchzusetzen. Nur unter den engen Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG kann der Grundsatz der Subsidiarität durchbrochen werden. In dieser Konkretisierung des Verhältnisses von Grundsatz und Ausnahme spiegelt sich die Bedeutung wider, die das Grundgesetz der fachgerichtlichen Rechtsprechung auch für die Einhaltung verfassungsrechtlicher Grundentscheidungen beimisst2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann die Erschöpfung des Rechtswegs ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn im Hinblick auf eine gefestigte jüngere und einheitliche Rechtsprechung auch im konkreten Einzelfall keine von dieser Rechtsprechung abweichende Erkenntnis zu erwarten ist. Erscheint es hingegen in diesem Sinne nicht offensichtlich ausgeschlossen, Grundrechtsschutz bereits durch die Fachgerichte zu erlangen, ist es dem Beschwerdeführer regelmäßig zuzumuten, den nach einfachem Recht vorgesehenen Rechtsweg zu beschreiten und auszuschöpfen3.
Gerichtliche Entscheidungen, die der Entscheidung in der Sache vorausgehen, können daher grundsätzlich nicht selbständig mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden. Ihre verfassungsrechtliche Beschwer ist vielmehr im Wege einer Verfassungsbeschwerde gegen die Endentscheidung geltend zu machen. Dies gilt allerdings nicht, wenn bereits die Zwischenentscheidung zu einem bleibenden rechtlichen Nachteil für den Betroffenen führt, der später nicht oder jedenfalls nicht vollständig behoben werden kann4. Entscheidungen von Fachgerichten über Ablehnungsgesuche können zu solchen bleibenden Nachteilen führen und daher als Zwischenentscheidungen selbständig angreifbar sein5. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie Bindungswirkung für das weitere Verfahren entfalten, über eine wesentliche Rechtsfrage abschließend befinden und in weiteren Instanzen nicht mehr nachgeprüft werden können6.
Ausgehend hiervon kann ein Beschwerdeführer, der eine selbständige Entscheidung eines Sozialgerichts über ein Ablehnungsgesuch mit der Verfassungsbeschwerde angreift, auf das fachgerichtliche Verfahren verwiesen werden, weil in diesem ein Wegfall der Beschwer durch den geltend gemachten Verfassungsverstoß möglich erscheint. Zwar ist die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch gemäß § 172 Abs. 2 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar und gemäß § 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 512 ZPO daher für die Berufungsinstanz bindend. Es ist aber durchaus möglich, dass die Zwischenentscheidung des Sozialgerichts in den Fällen, in denen die Berufung der Zulassung bedarf, in einem eingeschränkten Umfang im Rahmen der Verfahrensrüge gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG überprüft wird. Ist die Berufung – wie im vorliegenden Fall aller Wahrscheinlichkeit nach – statthaft, führt deren Durchführung zwar nicht notwendig zu einer Nachprüfung der Entscheidung der ersten Instanz über das Ablehnungsgesuch, aber zu einer verfahrensmäßig korrekten Sachentscheidung, die zur prozessualen Überholung der gegebenenfalls unzutreffenden Zwischenentscheidung führt, was aus der Sicht der Subsidiarität einer Nachprüfung gleichsteht.
Der Beschwerdeführer kann zumutbar auf den Rechtsweg im fachgerichtlichen Verfahren verwiesen werden, auch wenn sich ein (unterstellter) Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bei der Zwischenentscheidung auch in einer Endentscheidung durch den abgelehnten Richter fortsetzen würde7. Sollte die Klage des Beschwerdeführers abgewiesen werden, dürfte eine Berufung des Beschwerdeführers im Hinblick auf den Beschwerdegegenstand im fachgerichtlichen Verfahren bereits kraft Gesetzes statthaft sein (§ 144 Abs. 1 SGG). Das Landessozialgericht prüft den Streitfall in der Berufung im gleichen Umfang wie das Sozialgericht; es hat auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen (§ 157 SGG). Es entscheidet in den Grenzen des Berufungsantrags ebenso wie das Sozialgericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG). Im Hinblick auf die damit gegebene Möglichkeit einer erneuten Sachentscheidung im Berufungsverfahren über das Klagebegehren würde sich auch ein (unterstellter) Verstoß des Sozialgerichts gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bei der Zwischenentscheidung und bei der noch zu treffenden Endentscheidung grundsätzlich nicht mehr auswirken. Soweit ersichtlich, geht die Fachgerichtsbarkeit nicht davon aus, dass die Bindungswirkung des § 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 512 ZPO die Berufungsinstanz daran hindern würde, einem Fortwirken eines Verstoßes des Sozialgerichts gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in der Berufungsinstanz durch entsprechende Gestaltung des Berufungsverfahrens in geeigneter Weise zu begegnen.
Für das Bundesverfassungsgericht erscheint es auch nicht ausgeschlossen, dass sich das Landessozialgericht selbst im Falle einer für den betroffenen Beteiligten nicht statthaften Berufung auf eine Verfahrensrüge gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG hin an der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu den Ausnahmen von der Bindungswirkung unanfechtbarer Zwischenentscheidungen der Vorinstanz (für das Revisionsverfahren § 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 557 Abs. 2 ZPO) orientiert. Nach dem Bundessozialgericht kommt eine solche Ausnahme gerade dann in Betracht, wenn die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs darauf hindeutet, dass das Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt hat8. Mit der gleichen Begründung kann es zu einer Überprüfung der Zwischenentscheidung der Vorinstanz auch im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde zum Landessozialgericht kommen.
Der Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21.11.20189 steht dem Verweis auf das Rechtsmittelverfahren gegen die Endentscheidung über den Grundsatz der Subsidiarität nicht entgegen. Die Kammer war dort davon ausgegangen, dass die Landessozialgerichte Zwischenentscheidungen von Sozialgerichten über Ablehnungsgesuche im Berufungsverfahren bislang nicht inzident überprüfen würden. Dieser Befund lässt sich jetzt jedoch nicht mehr bestätigen. So wurde in den von dem Bundesverfassungsgericht eingeholten Stellungnahmen der Präsidentinnen und Präsidenten der Landessozialgerichte und des Präsidenten des Bundessozialgerichts eine Prüfung in dem genannten Sinne in der Berufung und – bei Geltendmachung eines Verfahrensmangels – auch in einer Nichtzulassungsbeschwerde ganz überwiegend für geboten gehalten. Auch wenn diese Stellungnahmen die Rechtsprechung der dortigen Bundesverfassungsgerichte erklärtermaßen nicht binden können, steht dies der bisherigen Annahme entgegen. Zu dem hier maßgeblichen Fall einer statthaften Berufung hat sich die Kammerentscheidung ohnehin nicht explizit verhalten.
Dass dem Beschwerdeführer bei einem Verweis auf das fachgerichtliche Verfahren ein schwerer und unabwendbarer Nachteil im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG entstünde, hat er nicht substantiiert dargelegt. Ein Zeitverlust allein begründet noch keinen erheblichen Nachteil10.
Die hier entschiedene Verfassungsbeschwerde genügte daneben auch nicht den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen, weil der Beschwerdeführer die Möglichkeit eines Verstoßes der angegriffenen Entscheidung gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht hinreichend darlegt.
Die Begründung der Verfassungsbeschwerde muss sich mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint. Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, bedarf es in der Regel einer ins Einzelne gehenden argumentativen Auseinandersetzung mit ihr und ihrer Begründung. Dabei ist auch darzulegen, inwieweit das jeweils bezeichnete Grundrecht verletzt sein und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidieren soll. Soweit das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe dargelegt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffenen Maßnahmen verletzt werden11.
101 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet12. Daher kann in einer fehlerhaften Entscheidung über die Zurückweisung eines zulässigen und begründeten Ablehnungsgesuchs ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegen. Eine „Entziehung“ des gesetzlichen Richters im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Rechtsprechung liegt aber erst dann vor, wenn die Auslegung des einfachen Rechts oder seine Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sind oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt13.
Ausgehend hiervon legt der Beschwerdeführer nicht substantiiert dar, dass die angegriffene Entscheidung des Sozialgerichts auf einer groben Missachtung des Gesetzesrechts beruht oder dass die Entscheidung die Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt. Der Beschwerdeführer rügt unter Hinweis auf die zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21.11.2018, dass das Sozialgericht die Erheblichkeit von Vorbereitungshandlungen und hier die Wirkung der richterlichen Verfügung nicht beachtet habe. Das Sozialgericht hat sich jedoch mit der Frage befasst, ob sich aus der richterlichen Verfügung Anhaltspunkte für eine unsachliche oder willkürliche Einstellung des abgelehnten Richters ergeben. Weshalb diese Verfügung bei vernünftiger Würdigung Zweifel an der persönlichen Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters begründen sollte, legt der Beschwerdeführer nicht substantiiert dar. Er wiederholt vielmehr im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Ablehnungsgesuch, ohne sich in der gebotenen Weise mit der Begründung des angegriffenen Beschlusses auseinanderzusetzen, in dem das Sozialgericht bereits ausführlich auf sein Vorbringen eingegangen ist.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 5. Dezember 2023 – 1 BvR 2221/22
- vgl. BVerfGE 112, 50 <60> vgl. auch BVerfGE 145, 20 <54 Rn. 85> 150, 309 <326 Rn. 42>[↩]
- vgl. die Plenarentscheidung BVerfGE 107, 395 <414>[↩]
- vgl. BVerfGE 68, 376 <380 f.>[↩]
- vgl. BVerfGE 101, 106 <120> BVerfGK 15, 180 <183 f.>[↩]
- vgl. BVerfGE 119, 292 <294>[↩]
- vgl. BVerfGE 24, 56 <60 f.> 119, 292 <294>[↩]
- vgl. BVerfGK 11, 434 <444 f.>[↩]
- vgl. BSG, Beschluss vom 23.02.2022 – B 9 SB 74/21 B 16 m.w.N.[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 21.11.2018 – 1 BvR 436/17[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.08.2019 – 1 BvR 1784/19, Rn. 7[↩]
- vgl. BVerfGE 140, 229 <232 Rn. 9> m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 325 <336> m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfGE 82, 286 <299>[↩]
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