Art. 13 ff. der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern entfaltet keine unionsrechtlich begründete Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats, so dass sich die Anspruchsberechtigung auch bei Personen und bei Leistungen, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterliegen, allein nach den Bestimmungen des deutschen Rechts richtet.

Die gegenteilige Auffassung, die auch der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung vertreten hatte, ist aufgrund des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Sache „Hudzinski und Wawrzyniak„1 vom BFH aufgegeben worden2. Dies gilt unabhängig davon, ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV) oder die Ausübung der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) in Rede steht3. Es bedarf auch keines zusätzlichen Anwendungsbefehls, um trotz der sich aus der VO Nr. 1408/71 ergebenden Zuständigkeit eines ausländischen Mitgliedstaats die Anwendung deutschen Rechts zu ermöglichen4.
Kindergeld wird nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht gezahlt, wenn für das Kind im Ausland dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gezahlt werden oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären. Das Finanzgericht ist daher verpflichtet, eine eigene Entscheidung darüber zu treffen, ob für ein Kind ein Anspruch auf Gewährung dem Kindergeld vergleichbarer Leistungen nach ausländischem Recht besteht5.
Bei dieser Prüfung hat die Familienkasse – bzw. das Finanzgericht das maßgebende ausländische Recht gemäß § 155 FGO i.V.m. § 293 ZPO – von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen. Der Kindergeldberechtigte braucht weder die einschlägigen Regelungen des ausländischen Rechts im Einzelnen darzulegen noch ist er verpflichtet, im Ausland einen Antrag auf Familienleistungen zu stellen, um eine Entscheidung der dortigen Behörde herbeizuführen. An die Ermittlungspflicht des Finanzgerichts sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je komplexer das ausländische Recht im Vergleich zum eigenen ist; eine Entscheidung nach den Grundsätzen über die Feststellungslast ist in diesem Bereich ausgeschlossen.
Den für die Subsumtion unter das maßgebliche ausländische Recht entscheidungserheblichen Sachverhalt hatte das Finanzgericht unter Beachtung der erweiterten Mitwirkungspflichten der Klägerin nach § 76 Abs. 1 Satz 4 FGO i.V.m. § 90 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen5.
Dies ist im vorliegenden Streitfall jedoch nicht geschehen. Das Formular E 411, welches bescheinigte, dass in Polen keine Familienleistungen beantragt wurden und offen ließ, ob ein entsprechender Anspruch bestand, konnte das Finanzgericht von seiner Prüfungspflicht nicht entbinden. Die Prüfung eines materiell-rechtlichen Anspruchs nach polnischem Recht hätte nur unterbleiben können, wenn eine dortige Behörde für den Streitzeitraum bereits entschieden hätte und dieser Entscheidung Bindungswirkung für die deutschen Behörden und Gerichte zukäme6.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 25. September 2014 – III R 54/11
- EuGH, Urteil „Hudzinski und Wawrzyniak“ vom – C‑611/10, EU: C: 2012: 339; und – C‑612/10, EU: C: 2011: 72[↩]
- BFH, Urteile vom 16.05.2013 – III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040; vom 05.09.2013 – XI R 52/10, BFH/NV 2014, 33; vom 30.01.2014 – V R 38/11, BFH/NV 2014, 837[↩]
- BFH, Urteil vom 13.06.2013 – III R 63/11, BFHE 242, 34, BStBl II 2014, 711[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 242, 34, BStBl II 2014, 711[↩][↩]
- vgl. dazu BFH, Urteil in BFHE 242, 34, BStBl II 2014, 711, Rz 30[↩]