Wird der Entrichtungsschuldner von Kapitalertragsteuer im Wege des Nachforderungsbescheids in Anspruch genommen, ist wegen des materiell-rechtlichen Haftungscharakters des Nachforderungsanspruchs der Grundsatz der Akzessorietät der Entrichtungsschuld zur zugrunde liegenden Kapitalertragsteuerschuld des Gläubigers der Kapitalerträge zu beachten. § 174 Abs. 4 Satz 3 AO kann in diesem Fall sowohl zur Unbeachtlichkeit der Festsetzungsverjährung der Entrichtungsschuld als auch zur Unbeachtlichkeit der Festsetzungsverjährung der zugrunde liegenden Kapitalertragsteuerschuld als Primärschuld führen.

Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, den die Finanzbehörde aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen zu dessen Gunsten aufgehoben oder geändert hat, können nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus dem Sachverhalt durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids nachträglich die richtigen steuerlichen Folgen gezogen werden. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor.
Der Anwendungsbereich des (nur) für Steuerbescheide geltenden § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ist grundsätzlich eröffnet. Zwar sind allein die Gläubiger der Kapitalerträge Schuldner der Kapitalertragsteuer (§ 44 Abs. 1 Satz 1 EStG). Der an die GmbH als Schuldnerin der Kapitalerträge und Entrichtungsschuldnerin der Kapitalertragsteuer (§ 44 Abs. 1 Sätze 3 bis 5 EStG) gerichtete Nachforderungsbescheid i.S. des § 167 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 AO ist aber trotzdem formal ein die Entrichtungsschuld betreffender Steuerbescheid i.S. des § 155 Abs. 1 Satz 1 AO und kein Haftungsbescheid i.S. des § 191 AO1.
Das Finanzgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass der ursprüngliche Nachforderungsbescheid vom 01.12 2009 aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ergangen ist. Das Finanzamt hat diesen Bescheid deshalb zu Recht im Rahmen des gegen ihn geführten Rechtsbehelfsverfahrens aufgehoben.
Die irrige Beurteilung eines Sachverhalts i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO liegt vor, wenn sie sich nachträglich als unrichtig erweist. Dabei ist es unerheblich, ob der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen liegt2. Der maßgebliche Sachverhalt, der sowohl dem Ausgangs- als auch dem Folgebescheid zugrunde liegen muss, bezieht sich dabei auf den einzelnen Lebensvorgang, an den das Gesetz die steuerlichen Folgen knüpft; er ist nicht auf einzelne steuererhebliche Tatsachen oder einzelne Merkmale beschränkt, sondern erfasst den einheitlichen, für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex3.
Nach diesen Grundsätzen lag im hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall in der ursprünglichen Annahme des Finanzamtes, für das Jahr 2003 sei als Folge einer im Jahr 2003 in das Handelsregister eingetragenen Abspaltung Kapitalertragsteuer festzusetzen, eine irrige Beurteilung des zugrunde liegenden Sachverhalts. Denn tatsächlich wurde die Abspaltung erst 2004 in das Handelsregister eingetragen. Die festzusetzende Kapitalertragsteuer war deshalb ebenfalls erst im Jahr 2004 entstanden.
Da sowohl das bei der GmbH verbleibende Vermögen als auch das auf die M-GmbH abgespaltene Vermögen nicht die Voraussetzungen eines Teilbetriebs i.S. des § 15 Abs. 1 Sätze 1 und 2 UmwStG a.F. erfüllten, führte die Abspaltung zu einer Sachausschüttung4. Diese Sachausschüttung war ein sonstiger Bezug i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG, für den gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG Kapitalertragsteuer anfiel. Dass die Sachausschüttung ganz oder teilweise eine nicht steuerbare Kapitalrückzahlung darstellen könnte (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 bzw. Nr. 2 Satz 2 EStG)5, war im hier entschiedenen Streitfall weder vorgetragen noch ersichtlich.
Maßgeblicher Stichtag für das Entstehen der Kapitalertragsteuer war der Zeitpunkt der Eintragung der Spaltung in das Handelsregister im Jahr 2004.
Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 2 EStG entsteht die Kapitalertragsteuer in dem Zeitpunkt, in dem die Kapitalerträge dem Gläubiger zufließen. Im Fall der Sachausschüttung als Folge einer Abspaltung, die nicht die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 UmwStG a.F. erfüllt, kommt es zum Zeitpunkt der zivilrechtlichen Wirksamkeit der Abspaltung, d.h. mit Eintragung der Spaltung in das Handelsregister, zu einem tatsächlichen Zufluss beim Gläubiger der Kapitalerträge6. Die Sondervorschrift des § 44 Abs. 2 EStG, der für Dividenden auf den im Ausschüttungsbeschluss genannten Zeitpunkt abstellt, ist im Streitfall nicht anwendbar, da der Spaltungsbeschluss nicht mit einem Ausschüttungsbeschluss gleichgesetzt werden kann. Dies folgt bereits daraus, dass die Annahme einer Sachausschüttung als Folge einer nicht die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 UmwStG a.F. erfüllenden Spaltung nicht von dem Ausweis eines ausschüttbaren Gewinns in der Spaltungsbilanz abhängt.
Darüber hinaus kommt im Streitfall auch keine Rückwirkung des Entstehens der Kapitalertragsteuerschuld auf den steuerlichen Übertragungsstichtag 31.12 2002 gemäß § 2 Abs. 1 UmwStG a.F. in Betracht. Zwar ist diese Vorschrift auch bei Spaltungsvorgängen anwendbar, bei denen -wie im Streitfall- nicht die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 UmwStG a.F. erfüllt sind. Sie regelt nach Wortlaut und Zweck aber nur die Ermittlung des Einkommens und des Vermögens der übertragenden sowie der übernehmenden Körperschaft und nicht die Ebene der Gesellschafter7. Damit hat sie keine Auswirkung auf den Zeitpunkt des Zuflusses beim Gläubiger der Kapitalerträge (§ 44 Abs. 1 Satz 2 EStG).
Das Finanzamt hat seinen Irrtum über den Zeitpunkt der Eintragung der Spaltung in das Handelsregister und den daraus folgenden Irrtum über den Zeitpunkt der Entstehung der Kapitalertragsteuer im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens gegen den ursprünglichen Nachforderungsbescheid vom 01.12.2009 erkannt und diesen zu Recht durch Bescheid vom 01.11.2012 aufgehoben. Der Rechtswidrigkeit des aufgehobenen Bescheids vom 01.12.2009 stand auch nicht entgegen, dass die Kapitalertragsteuer sachverhaltsbezogen und nicht zeitraumbezogen festzusetzen ist8. Denn die sachverhaltsbezogene Festsetzung änderte nichts an der irrigen Beurteilung des Zeitpunkts des Entstehens der Kapitalertragsteuer, die zur Rechtswidrigkeit des Bescheids führte.
Durch Erlass des Nachforderungsbescheids vom 13.11.2012 hat das Finanzamt gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus demselben Sachverhaltskomplex -d.h. der durch den Spaltungsvorgang ausgelösten Sachausschüttung- die zutreffenden kapitalertragsteuerlichen Folgerungen gezogen.
Wie bereits dargelegt, ist zum Zeitpunkt der Eintragung der Spaltung in das Handelsregister am …2004 für die dadurch verursachte Sachausschüttung Kapitalertragsteuer entstanden.
Die GmbH als Schuldnerin der Sachausschüttung und Entrichtungsschuldnerin der Kapitalertragsteuer hatte die Kapitalertragsteuer anzumelden, einzubehalten und abzuführen (§§ 44 Abs. 1 Sätze 3 bis 5, 45a EStG). Diese Verpflichtungen hat sie unstreitig nicht erfüllt. Das Finanzamt konnte die GmbH deshalb für die angefallene Kapitalertragsteuer im Wege des Nachforderungsbescheids in Anspruch nehmen.
§ 167 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 AO begründet nach ständiger Rechtsprechung ein Wahlrecht der Finanzbehörde, den Entrichtungsschuldner der Kapitalertragsteuer entweder durch Haftungsbescheid gemäß § 44 Abs. 5 Satz 1 EStG oder durch Steuerbescheid (Nachforderungsbescheid) in Anspruch zu nehmen, sofern er seine Anmeldepflicht nicht erfüllt hat9. Die Wahl des Verfahrens muss nicht begründet werden10.
Der Rechtmäßigkeit des Nachforderungsbescheids vom 13.11.2012 steht auch keine Exkulpation gemäß § 44 Abs. 5 Satz 1 letzter Halbsatz EStG entgegen. Die Würdigung des Finanzgericht, der GmbH sei eine Exkulpation nicht gelungen, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Um zu vermeiden, dass es durch die Wahl des Verwaltungsverfahrens zu einer „Eingriffsverschärfung“ gegenüber dem Entrichtungsschuldner kommt, ist der materiell-rechtliche Kern der Nachforderung zu beachten: Der Erlass eines Nachforderungsbescheids ändert nichts daran, dass es sich materiell-rechtlich um die Geltendmachung eines Haftungsanspruchs handelt. Die Steuerfestsetzung gemäß § 167 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 AO i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 AO erfasst damit denjenigen, der die Steuer als Entrichtungssteuerschuldner nicht angemeldet hat, gerade in seiner Funktion als Haftungsschuldner. Dies hat zur Folge, dass auch im Fall des Nachforderungsbescheids, d.h. bei Geltendmachung des Anspruchs auf Entrichtung der Kapitalertragsteuer durch Steuerbescheid statt durch Haftungsbescheid, die tatbestandlichen Erfordernisse des § 44 Abs. 5 Satz 1 EStG zu beachten sind11.
Hierzu gehört insbesondere die Exkulpationsmöglichkeit des Steuerpflichtigen gemäß § 44 Abs. 5 Satz 1 letzter Halbsatz EStG12. Besondere Ermessenserwägungen sind dagegen nicht erforderlich13.
Die Exkulpation gemäß § 44 Abs. 5 Satz 1 letzter Halbsatz EStG setzt den Nachweis voraus, dass der Entrichtungsschuldner die ihm auferlegten Pflichten weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt hat. Ein solcher Nachweis ist im Streitfall nicht erbracht worden.
Ob -wie vom Finanzgericht angenommen- die Exkulpation auch dann zu versagen ist, wenn dem Steuerpflichtigen zwar nicht zum Zeitpunkt des Entstehens der Kapitalertragsteuer und der gesetzlichen Anmeldepflicht, sondern später -im Streitfall eventuell aufgrund der Hinweise im Revisionsverfahren gegen den Körperschaftsteuerbescheid 2002- grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann, braucht danach nicht abschließend entschieden zu werden. Ebenso ist der konkrete Maßstab der groben Fahrlässigkeit im Rahmen der Anmeldung, des Einbehalts und der Abführung von Kapitalertragsteuer nicht abschließend zu bestimmen14.
Denn im Streitfall fehlt bereits eine substantiierte Darlegung, weshalb die Vertreter der GmbH bzw. deren steuerliche Berater nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig handelten, als sie verkannten, dass die Abspaltung zu einer kapitalertragsteuerpflichtigen Sachausschüttung führte. Der pauschale Hinweis darauf, auch das Finanzamt habe im Rahmen der Betriebsprüfung und das Finanzgericht im Rahmen des ersten Rechtsgangs im Klageverfahren gegen den Körperschaftsteuerbescheid 2002 keine Sachausschüttung angenommen, reicht für eine Exkulpation nicht aus. Vielmehr hätte zumindest dargelegt werden müssen, dass ausreichende Vorkehrungen getroffen wurden, um sicherzustellen, die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 UmwStG a.F. zu erfüllen und dadurch eine Sachausschüttung zu vermeiden.
Der Rechtmäßigkeit des Nachforderungsbescheids vom 13.11.2012 steht im Ergebnis auch nicht entgegen, dass die der Entrichtungsschuld der GmbH zugrunde liegende Kapitalertragsteuerschuld der Gläubiger der Sachausschüttung im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids festsetzungsverjährt war.
Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs ist der für Haftungsansprüche geltende Grundsatz der Akzessorietät der Haftungsschuld zur zugrunde liegenden Steuerschuld (Primärschuld) auch bei Inanspruchnahme des Entrichtungsschuldners der Kapitalertragsteuer durch Nachforderungsbescheid zu beachten. Zwar gilt § 191 Abs. 5 AO, der Ausdruck dieser Akzessorietät ist15, nur für Haftungs- und nicht für Steuerbescheide. Im Fall eines Nachforderungsbescheids für Kapitalertragsteuer ist der Grundsatz der Akzessorietät aber sinngemäß anzuwenden. Dies folgt -ebenso wie die Möglichkeit der Exkulpation- aus dem materiell-rechtlichen Haftungscharakter des Nachforderungsanspruchs, der zur Berücksichtigung der tatbestandlichen Erfordernisse des § 44 Abs. 5 Satz 1 EStG und damit auch des für diese Haftungsnorm geltenden Grundsatzes der Akzessorietät führt.
Im Übrigen ist auch für den Bereich anderer Abzugssteuern anerkannt, dass bei Erlass eines Nachforderungsbescheids die Steuerschuld, für die (materiell) gehaftet werden soll, entstanden sein muss und noch bestehen muss16. Es sind keine Umstände erkennbar, die es abweichend von dieser Rechtsprechung rechtfertigen könnten, für die Nachforderung von Kapitalertragsteuer das Entstehen oder Erlöschen der Primärschuld im Zeitpunkt des Erlasses eines Nachforderungsbescheids als unbeachtlich anzusehen.
Die zugrunde liegende Steuerschuld (Primärschuld), auf die es im Rahmen der Akzessorietät ankommt, ist vorliegend die Kapitalertragsteuerschuld der Gläubiger der Sachausschüttung. Die Steuer, für die im Wege des Nachforderungsbescheids materiell gehaftet wird, ist nicht die Einkommensteuer des Empfängers der Ausschüttung. Insofern ist die zur Lohnsteuer ergangene Rechtsprechung des BFH17 auf die Kapitalertragsteuer zu übertragen18, und zwar auch für den im Streitfall maßgebenden Zeitraum vor Einführung der Abgeltungsteuer, die durch § 43 Abs. 5 EStG n.F. und § 32d Abs. 4 EStG n.F. zu einer grundsätzlichen Abkopplung der Kapitalertragsteuer von der Einkommensteuerveranlagung geführt hat19.
Die hiergegen geäußerte Kritik, die Kapitalertragsteuer sei nur eine besondere Erhebungsform der Einkommensteuer und die isolierte Betrachtung der Kapitalertragsteuerschuld könne dazu führen, eine bestandskräftige Einkommensteuerfestsetzung durch ein vom Wesen her vorläufiges Verfahren zu unterlaufen20, greift nach Auffassung des Bundesfinanzhofs jedenfalls nicht in denjenigen Fällen durch, in denen es -wie im Streitfall- um die Nachforderung von Kapitalertragsteuer gegenüber dem Entrichtungsschuldner geht. Der Ausschluss der Kapitalertragsteuernachforderung wegen Festsetzungsverjährung der Einkommensteuer würde hier dem Sinn und Zweck des Steuerabzugsverfahrens widersprechen, der -auch im Hinblick auf mögliche Pflichtverletzungen der Gläubiger der Kapitalerträge- in der Gewährleistung einer materiell gesetzmäßigen Besteuerung liegt21.
Die mit der Eintragung der Spaltung entstandene Kapitalertragsteuerschuld war zum Zeitpunkt des Erlasses des Nachforderungsbescheids vom 13.11.2012 festsetzungsverjährt.
Die Verletzung der Anmeldepflicht des § 45a Abs. 1 EStG durch die GmbH führte nicht nur für die Entrichtungsschuld der GmbH (§ 44 Abs. 1 Sätze 3 und 5 EStG), sondern auch für die Kapitalertragsteuerschuld der Gläubiger der Sachausschüttung (§ 44 Abs. 1 Satz 1 EStG) zu einer Anlaufhemmung gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO22. Damit begann die vierjährige Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) im Streitfall mit Ablauf des Jahres 2007 und endete mit Ablauf des Jahres 2011, d.h. vor Erlass des Nachforderungsbescheids vom 13.11.2012.
Eine Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist für die Primärschuld gemäß § 171 Abs. 15 AO bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung der Entrichtungsschuld kommt nicht in Betracht. Diese Regelung ist im Streitfall nicht anwendbar.
§ 171 Abs. 15 AO soll einen Gleichlauf der Festsetzungsfristen beim Entrichtungs- und beim Steuerschuldner gewährleisten23. Nach der Anwendungsvorschrift des Art. 97 § 10 Abs. 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung gilt die Regelung aber nur für alle am 30.06.2013 noch nicht abgelaufenen Festsetzungsfristen. Dies bedeutet, dass sowohl die Festsetzungsfrist für die Entrichtungsschuld als auch die Festsetzungsfrist für die Steuerschuld am 30.06.2013 noch nicht abgelaufen sein durften. Hinsichtlich der Kapitalertragsteuerschuld war im Streitfall jedoch zum Ablauf des Jahres 2011 und damit vor dem Stichtag 30.06.2013 Festsetzungsverjährung eingetreten. Diese bereits abgelaufene Festsetzungsfrist konnte durch Einführung des § 171 Abs. 15 AO nicht wieder aufleben24.
Der Ablauf der Festsetzungsfrist der Primärschuld ist aber im Streitfall gemäß § 174 Abs. 4 Satz 3 AO unbeachtlich. Denn der Nachforderungsbescheid vom 13.11.2012 ist innerhalb eines Jahres nach Aufhebung des ursprünglichen Nachforderungsbescheids vom 01.12 2009 ergangen. Zum Zeitpunkt des Erlasses dieses ursprünglichen Nachforderungsbescheids war noch keine Festsetzungsverjährung der Primärschuld eingetreten (§ 174 Abs. 4 Satz 4 AO).
Nach dem Sinn und Zweck des § 174 Abs. 4 Satz 3 AO, für den einheitlichen Sachverhaltskomplex i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO eine umfassende Korrektur ungeachtet der Festsetzungsverjährung zu ermöglichen, ist in der spezifischen Situation des Nachforderungsbescheids nicht nur die für die Entrichtungsschuld abgelaufene Festsetzungsfrist, sondern auch die Festsetzungsverjährung der zugrunde liegenden Kapitalertragsteuerschuld der Gläubiger der Kapitalerträge (Primärschuld) unbeachtlich. Die für Steuerbescheide geltende Vorschrift des § 174 Abs. 4 AO zielt zwar in erster Linie auf die Adressaten dieses Steuerbescheids und die für deren festgesetzte Steuer geltende „einfache“ Festsetzungsfrist. Wenn aber -wie im Streitfall- aufgrund des materiellen Haftungscharakters des Nachforderungsanspruchs und der daraus folgenden Akzessorietät zusätzlich zur Festsetzungsfrist der Entrichtungsschuld auch die Festsetzungsfrist der zugrunde liegenden Kapitalertragsteuerschuld (Primärschuld) zu beachten ist, erfordert es der Rechtsgedanke des § 174 Abs. 4 Satz 3 AO, dass auch der Eintritt dieser „zweiten“ Festsetzungsverjährung unbeachtlich ist, wenn § 174 Abs. 4 Satz 4 AO nicht entgegensteht. Anderenfalls bliebe unberücksichtigt, dass der Nachforderungsbescheid trotz seines materiellen Haftungscharakters ein Steuerbescheid i.S. des § 155 Abs. 1 Satz 1 AO ist, auf den die Änderungsnormen der §§ 172 ff. AO uneingeschränkt Anwendung finden.
Schließlich war der Nachforderungsbescheid vom 13.11.2012 auch nicht wegen einer zu diesem Zeitpunkt eingetretenen Festsetzungsverjährung der Entrichtungsschuld der GmbH rechtswidrig. Insoweit greift ebenfalls § 174 Abs. 4 Satz 3 AO.
Die Entrichtungsschuld der GmbH war -ebenso wie die Kapitalertragsteuerschuld der Gläubiger der Sachausschüttung- zum Zeitpunkt des Erlasses des Nachforderungsbescheids vom 13.11.2012 festsetzungsverjährt. Die Festsetzungsfrist begann wegen der unterlassenen Anmeldung gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zum Ende des Jahres 2007 und endete regulär nach Ablauf von vier Jahren (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) zum Ende des Jahres 2011. Da das Finanzamt den ursprünglichen Nachforderungsbescheid am 1.12 2009 und damit vor Eintritt der Festsetzungsverjährung erlassen hatte, war es jedoch gemäß § 174 Abs. 4 Satz 3 AO befugt, innerhalb eines Jahres nach Aufhebung des ursprünglichen Nachforderungsbescheids vom 01.12 2009 einen neuen Nachforderungsbescheid zu erlassen. Diese Frist hat es durch Erlass des neuen Nachforderungsbescheids vom 13.11.2012 gewahrt. Die zuvor eingetretene Festsetzungsverjährung der Entrichtungsschuld war daher unbeachtlich.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 21. September 2017 – VIII R 59/14
- BFH, Urteil vom 13.09.2000 – I R 61/99, BFHE 193, 286, BStBl II 2001, 67; vgl. auch BFH, Urteil vom 08.04.2014 – I R 51/12, BFHE 246, 7, BStBl II 2014, 982[↩]
- BFH, Urteil vom 25.10.2016 – X R 31/14, BFHE 255, 399, BStBl II 2017, 287, Rz 15, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 02.05.2001 – VIII R 44/00, BFHE 195, 14, BStBl II 2001, 562; vgl. auch BFH, Urteil in BFHE 246, 7, BStBl II 2014, 982, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFH/NV 2011, 10, m.w.N.[↩]
- vgl. auch BFH, Urteil vom 20.10.2010 – I R 117/08, BFHE 232, 15[↩]
- BFH, Urteil vom 07.04.2010 – I R 96/08, BFHE 229, 179, BStBl II 2011, 467[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 229, 179, BStBl II 2011, 467, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 246, 7, BStBl II 2014, 982, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteile in BFHE 193, 286, BStBl II 2001, 67; vom 20.08.2008 – I R 29/07, BFHE 222, 500, BStBl II 2010, 142; vgl. auch BFH, Urteile vom 19.12 2012 – I R 81/11, BFH/NV 2013, 698; in BFH/NV 2012, 695[↩]
- BFH, Urteil in BFH/NV 2013, 698, m.w.N.[↩]
- grundlegend BFH, Urteil in BFHE 193, 286, BStBl II 2001, 67; vgl. auch BFH, Urteil in BFH/NV 2013, 698[↩]
- BFH, Urteile in BFHE 193, 286, BStBl II 2001, 67, und in BFHE 222, 500, BStBl II 2010, 142[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 193, 286, BStBl II 2001, 67; vgl. auch BFH, Urteil in BFH/NV 2013, 698, und BFH, Beschluss vom 18.03.2009 – I B 210/08, BFH/NV 2009, 1237, jeweils m.w.N.[↩]
- vgl. hierzu BFH, Urteile in BFHE 222, 500, BStBl II 2010, 142; vom 17.02.2010 – I R 85/08, BFHE 229, 114, BStBl II 2011, 758; vom 03.11.2010 – I R 98/09, BFHE 232, 22, BStBl II 2011, 417[↩]
- BFH, Beschluss vom 11.07.2001 – VII R 29/99, HFR 2002, 277[↩]
- vgl. BFH, Urteile in BFH/NV 2012, 695; und vom 13.12 2011 – II R 26/10, BFHE 236, 212, BStBl II 2013, 596, zur Versicherungssteuer[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 06.03.2008 – VI R 5/05, BFHE 220, 307, BStBl II 2008, 597; BFH, Beschluss vom 17.03.2016 – VI R 3/15, BFH/NV 2016, 994[↩]
- im Ergebnis wohl auch Gersch, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 44 Rz F 62[↩]
- differenzierend dagegen Blümich/Lindberg, § 44 EStG Rz 31 f.[↩]
- Blümich/Lindberg, § 44 EStG Rz 32; Geurts in Bordewin/Brandt, § 44 EStG Rz 84a[↩]
- BFH, Urteil vom 15.12 2004 – I R 42/04, BFH/NV 2005, 1073; zum Sinn und Zweck des Steuerabzugsverfahrens gemäß § 50a EStG vgl. auch BFH, Urteil in BFH/NV 2013, 698[↩]
- BFH, Urteil vom 29.01.2003 – I R 10/02, BFHE 202, 1, BStBl II 2003, 687, m.w.N.: Zweifel im BFH, Beschluss vom 14.07.1999 – I B 151/98, BFHE 190, 1, BStBl II 2001, 556 damit überholt; zur parallelen Problematik bei der Lohnsteueranmeldung vgl. BFH, Urteile in BFHE 220, 307, BStBl II 2008, 597, und in BFHE 238, 408, BStBl II 2013, 190[↩]
- vgl. BT-Drs. 17/10604, S. 35[↩]
- vgl. auch BFH, Urteil vom 16.12 2014 – VIII R 30/12, BFHE 248, 325, BStBl II 2015, 858[↩]