Werden in einer Einspruchsentscheidung erstmalig weitere Haftungs-Lebenssachverhalte erfasst, bedarf es insoweit keiner (erneuten) Durchführung eines Einspruchsverfahrens.

Die einzelnen Steuerarten und -abschnitte, die in einem zusammengefassten Haftungsbescheid ausgewiesen sind, stellen nicht lediglich „Schadenspositionen“ zur Begründung eines Gesamthaftungsbetrags dar, sondern wesensbestimmende Bezugspunkte des Haftungsbescheids1. So handelt es sich bei Haftungsbescheiden für unterschiedliche Kalendermonate (Kapitalertragsteuer-Anmeldungszeiträume) desselben Kalenderjahres um jeweils eigenständige Verwaltungsakte2.
Nach allgemeiner Auffassung ist eine Einspruchsentscheidung rechtswidrig, wenn sie insoweit über den Gegenstand des Einspruchsverfahrens hinausgeht, als darin erstmals ein Verwaltungsakt erlassen wird3. Denn die Entscheidungsbefugnis des Finanzamt im Einspruchsverfahren wird durch den angefochtenen Verwaltungsakt begrenzt4; die Einspruchsentscheidung darf nicht auf Personen, Steuergegenstände oder Zeiträume ausgedehnt werden, die von dem angefochtenen Verwaltungsakt nicht erfasst waren5. Aus § 367 Abs. 2 Satz 2 AO folgt nichts anderes, weil dem Finanzamt auch die Verböserungsmöglichkeit nur im Rahmen der ihm eingeräumten Überprüfungsmöglichkeit und damit nur in den Grenzen des von dem ursprünglichen Verwaltungsakt erfassten Lebenssachverhalts zusteht6.
Auch wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung mitunter entscheidend auf den Lebenssachverhalt abstellt7, verschmelzen im Streitfall die Haftungsinanspruchnahmen für unterschiedliche Steuerschuldner, Steuerarten und Steuerabschnitte nicht deshalb zu einer Einheit, weil das Finanzamt sie jeweils auf die Verletzung von Aufzeichnungspflichten durch den Kläger gestützt hat.
Zwar sollen diese nämlichen Pflichtverletzungen des Klägers nach der Begründung der Einspruchsentscheidung sowohl dem Finanzamt eine Schätzungsbefugnis bei der GmbH als auch den Prostituierten die Möglichkeit der Hinterziehung eigener Steuern –mangels Identifikationsmöglichkeit durch das Finanzamt– ermöglicht haben. Indes wird der maßgebende Lebenssachverhalt bei Haftungsbescheiden ergänzend auch durch den Steuerschuldner, die Steuerart und den Steuerabschnitt gekennzeichnet und separiert. Zumindest Steuerschuldner und Steuerart waren aber in Bezug auf die Haftung für Körperschaft- und Umsatzsteuerschulden der GmbH einerseits und die Haftung für Einkommensteuer einer nur griffweise zu schätzenden Zahl unbekannt gebliebener Prostituierter andererseits grundverschieden. Danach kommt es nicht mehr darauf an, dass das Finanzgericht zu Unrecht den Veranlagungszeitraum 1996 als nicht vom ursprünglichen Haftungsbescheid erfasst angesehen hat.
Es gibt jedoch keine rechtliche Grundlage dafür, eine Einspruchsentscheidung, in der das Finanzamt über den Gegenstand des Einspruchsverfahrens hinausgeht, als erstmaligen Verwaltungsakt anzusehen und entgegen dem Tenor, der Begründung und der Rechtsmittelbelehrung der Einspruchsentscheidung die Durchführung eines weiteren Einspruchsverfahrens zu verlangen. Auch in einem solchen Fall ist eine Ein-spruchsentscheidung ergangen und kann von dem dadurch Beschwerten in zulässiger Weise angefochten werden; die Klage ist mithin nicht –wie in § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO für die Abgabe als Einspruch an die Finanzbehörde vorausgesetzt– „ohne Vorverfahren“ erhoben worden.
Dementsprechend hat der Bundesfinanzhof in denjenigen Entscheidungen, in denen er die Grenze der Entscheidungsbefugnis des Finanzamt im Einspruchsverfahren als überschritten angesehen hat, nicht etwa eine Pflicht zur Abgabe einer gegen den „neuen“ Verwaltungsakt erhobenen Klage als Einspruch an das Finanzamt angenommen, sondern eine solche Einspruchsentscheidung aufgehoben8. Dies gilt ebenso in Fällen, in denen die Einspruchsentscheidung –auch– gegen eine Person ergangen war, die gar keinen Einspruch eingelegt hatte9, sowie bei Unwirksamkeit des ursprünglichen Verwaltungsakts, wenn erstmals die Einspruchsentscheidung als wirksamer Verwaltungsakt anzusehen war10.
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem BFH-Urteil vom 4. Juli 198611. Auch dort wird lediglich der Grundsatz bestätigt, dass in einem Sammel-Haftungsbescheid zusammengefasste Haftungsinanspruchnahmen jeweils voneinander unabhängige Haftungsschulden darstellen. Mit der vorliegend zu beurteilenden Fallgestaltung, dass erstmals in der Einspruchsentscheidung Haftungsinanspruchnahmen für bisher nicht vom Verfahren erfasste Steuerschuldner, Steuerarten und Steuerabschnitte ausgesprochen werden, befasst sich die genannte Entscheidung indes nicht.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 4. Juli 2013 – X B 91/13
- BFH, Urteil vom 16.12.2003 – VII R 77/00, BFHE 204, 391, BStBl II 2005, 249, unter II.F.[↩]
- BFH, Beschluss vom 07.04.2005 – I B 140/04, BFHE 209, 473, BStBl II 2006, 530[↩]
- HHSp/Birkenfeld, § 367 AO Rz 230; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 367 AO Rz 16[↩]
- BFH, Urteil vom 28.11.1989 – VIII R 40/84, BFHE 159, 410, BStBl II 1990, 561, unter III.2.b[↩]
- BFH, Urteil vom 08.11.1994 – VII R 1/93, BFH/NV 1995, 657, unter 1.c[↩]
- BFH, Urteil vom 19.01.1994 – II R 32/90, BFH/NV 1994, 758, unter II.1.[↩]
- vgl. die angeführten BFH-Entscheidungen in BFH/NV 1994, 758, und BFHE 209, 473, BStBl II 2006, 530[↩]
- vgl. BFH, Urteile in BFHE 159, 410, BStBl II 1990, 561, und in BFH/NV 1994, 758[↩]
- BFH, Urteile vom 07.09.1995 – III R 111/89, BFH/NV 1996, 521, und vom 08.04.1998 – VIII R 14/95, BFH/NV 1999, 145[↩]
- BFH, Urteil vom 25.01.1994 – VIII R 45/92, BFHE 173, 213, BStBl II 1994, 603, unter II.3.a, m.w.N.; Steinhauff in HHSp, § 44 FGO Rz 140[↩]
- BFH, Urteil vom 04.07.1986 – VI R 182/80, BFHE 147, 323, BStBl II 1986, 921[↩]