Überlange Verfahrensdauer und zwischenzeitliche Rechtsprechungsänderung

Hat der Kläger im Ausgangsverfahren ausschließlich wegen der überlangen Dauer dieses Verfahrens obsiegt, weil zu einem Zeitpunkt, in dem das Ausgangsverfahren bereits als verzögert anzusehen war, eine zugunsten des Klägers wirkende Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in der für das Ausgangsverfahren maßgebenden Rechtsfrage eingetreten ist, hat der Kläger durch die überlange Dauer des Ausgangsverfahrens keinen „Nachteil“ erlitten, so dass er weder eine Geldentschädigung noch die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer beanspruchen kann.

Überlange Verfahrensdauer und zwischenzeitliche Rechtsprechungsänderung

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

Nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Nach § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG kann Entschädigung hierfür nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Abs. 4 ausreichend ist.

Nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG ist Wiedergutmachung auf andere Weise insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, nach Satz 2 auch ohne Antrag. Nach § 198 Abs. 4 Satz 3 GVG kann sie in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden; ebenso kann sie ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Abs. 3 nicht erfüllt sind.

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Der Bundesfinanzhof hat es im vorliegenden Fall dahinstehen lassen, ob das Verfahren des Finanzgerichts unangemessen lang war. Der Kläger hat hierdurch jedenfalls keinen Nachteil i.S. von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG erlitten. Ein solcher kann auch nicht nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet werden. Die Vermutung ist widerleglich und im vorliegenden Falle widerlegt. Die Wiedergutmachung, gleich, ob durch Feststellung unangemessener Verfahrensdauer oder durch Entschädigung, setzt zwingend einen Nachteil voraus.

Der Anspruch auf Entschädigung und/oder Feststellung unangemessener Verfahrensdauer setzt nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG einen auf der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens beruhenden Nachteil voraus. Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG im Falle unangemessener Dauer vermutet.

Diese Vermutung ist schon nach dem Wortlaut der genannten Vorschriften nicht unwiderleglich1. Von einem wiedergutmachungspflichtigen Nachteil ist demnach nicht auszugehen, wenn (sicher) festgestellt werden kann, dass die (ggf. unangemessene) Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil geführt hat, sei es, dass kein Nachteil vorliegt, sei es, dass kein Kausalzusammenhang zwischen Verfahrensdauer und Nachteil vorliegt.

Die Vermutung des auf der Verfahrensdauer beruhenden Nachteils ist insbesondere dann widerlegt, wenn (sicher) festgestellt werden kann, dass die Verfahrensdauer für den betreffenden Verfahrensbeteiligten -abgesehen von der Dauer selbst- ausschließlich von erheblichem Vorteil war.

Die Prüfung, ob die Verfahrensdauer zu einem Nachteil geführt hat, setzt eine Gesamtbewertung der Folgen voraus, die die Verfahrensdauer mit sich gebracht hat. Die der langen Verfahrensdauer immanente Ungewissheit über den Verfahrensausgang mit der ihr eigenen Belastung für den rechtsschutzsuchenden Bürger kann für sich allein nicht dazu führen, dass ungeachtet sonstiger Folgen der Verfahrensdauer stets von einem Nachteil von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG auszugehen wäre. Da der der überlangen Verfahrensdauer immanente Nachteil der langen Ungewissheit unter der Voraussetzung überlanger Verfahrensdauer naturgemäß ausnahmslos vorliegt, würde mit einer derartigen Schlussfolgerung die widerlegliche Nachteilsvermutung tatsächlich zu einer unwiderleglichen Vermutung, was der Konzeption des Gesetzes nicht entspricht.

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Die lange Verfahrensdauer hat dem Kläger -abgesehen von der langen Ungewissheit über den Verfahrensausgang- ausschließlich gewichtige Vorteile verschafft. Bei dieser Sachlage ist die Nachteilsvermutung als widerlegt anzusehen.

Der im Ergebnis für den Kläger positive Ausgang des gesamten Rechtsstreits -die Anerkennung der Zivilprozesskosten als außergewöhnliche Belastung- ist nur durch die lange Verfahrensdauer bei dem Finanzgericht ermöglicht worden.

Dieser Vorteil hebt zwar für sich genommen den Nachteil der langen Ungewissheit noch nicht auf. Die Ungewissheit ist eine grundsätzlich vom Ausgang des jeweiligen Prozesses unabhängige Belastung. Der Kläger aber hat den Vorteil, den Rechtsstreit gewonnen zu haben, ausschließlich deswegen erreicht und erreichen können, weil das Verfahren so lange gedauert hat. Hätte das Finanzgericht auch nur geringfügig früher entschieden, hätte er den Rechtsstreit verloren. Im konkreten Fall wird der aus der überlangen Verfahrensdauer folgende Nachteil ausnahmsweise durch die dem Kläger zugutekommende -erst während der überlangen Verfahrensdauer eingetretene- Rechtsprechungsänderung ausgeglichen und kompensiert.

Bis zum Jahre 2011 -und damit auch noch zum Zeitpunkt der erstmaligen Entscheidung des Finanzgericht am 9.09.2010- war nach ständiger Rechtsprechung des BFH davon auszugehen, dass die Kosten eines Zivilprozesses grundsätzlich nicht zwangsläufig waren.

Derartige Kosten galten nur dann als zwangsläufig, wenn der Prozess existentiell wichtige Bereiche oder den Kernbereich menschlichen Lebens berühre, der Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr laufe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können2.

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Die jüngste in BFHE 234, 30, BStBl II 2011, 1015 für diese Rechtsgrundsätze zitierte Entscheidung des Bundesfinanzhof datierte aus dem Jahre 20083. Der Bundesfinanzhof hat noch in einem Beschluss über eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision vom 11.01.20114 auf diese Rechtsprechung Bezug genommen, ohne sie in Frage zu stellen.

Nach diesen Grundsätzen hätte die Klage des Klägers im Ausgangsverfahren keinen Erfolg haben können, wenn über sie innerhalb desjenigen Zeitraums entschieden worden wäre, den der Kläger als noch angemessene Verfahrensdauer ansieht.

Erst mit der Entscheidung in BFHE 234, 30, BStBl II 2011, 1015 im Mai 2011 änderte der Bundesfinanzhof seine Rechtsprechung und erkannte Zivilprozesskosten als außergewöhnliche Belastungen i.S. von § 33 EStG über die bisherigen Grundsätze hinaus auch dann an, wenn der Steuerpflichtige den Zivilprozess unter verständiger Würdigung des Für und Wider einschließlich des Kostenrisikos eingegangen war, mithin (nur) dann nicht, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung aus Sicht eines verständigen Dritten keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bot.

Nach diesen geänderten Rechtsprechungsgrundsätzen war dem Begehren des Klägers zu folgen. Die geänderte Rechtsprechung war aber noch nicht einmal zum Zeitpunkt der Entscheidung des Finanzgerichts im zweiten Rechtsgang am 12.04.2011 bekannt. Erst im nachfolgenden Rechtsmittelverfahren konnte das Begehren des Klägers letztlich Erfolg haben.

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Zwar kann theoretisch nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger bei einer früheren Entscheidung des Finanzgericht seinerseits die tatsächlich dann im Mai 2011 eingetretene Rechtsprechungsänderung erwirkt hätte. Dies ist allerdings eine nicht belegbare Hypothese. Eine positive Feststellung zu der Frage, wie sich das Ausgangsverfahren unter anderen Bedingungen entwickelt hätte, ist nicht möglich. Für die Frage, wie sich die lange Verfahrensdauer ausgewirkt hat, ist der tatsächliche und nicht ein auf einer Fiktion beruhender hypothetischer Kausalverlauf maßgebend5.

Ob der Streitfall anders zu beurteilen sein könnte, wenn die Verfahrensdauer in den Bereich der sog. absoluten Überlänge hineinragen würde, ist vorliegend nicht zu entscheiden, da diese Grenze jedenfalls nicht erreicht ist6.

Sonstige Nachteile hat der Kläger durch die lange Verfahrensdauer nicht erlitten.

Wenn er meint, die lange Verfahrensdauer habe ihn auch in den Folgejahren in Rechtsbehelfe getrieben, die ihn belastet hätten, ist dies unschlüssig. Soweit diese Veranlagungen mit Rücksicht auf den anhängigen Rechtsstreit des Jahres 2004 über Jahre hinweg nicht bestandskräftig wurden, war das ebenso wie die lange Verfahrensdauer hinsichtlich des Jahres 2004 für den Kläger nur von Vorteil. Nur so konnte er auch für die Folgejahre den Nutzen aus der Änderung der Rechtsprechung ziehen. Hätte das Finanzgericht im Sinne der damaligen Rechtsprechung zügig entschieden, hätte ihm dies die Rechtsbehelfe in den Folgejahren gerade nicht erspart, sondern er hätte auch dort den Streit in der Sache endgültig verloren.

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Hat der Verfahrensbeteiligte infolge der Dauer eines Gerichtsverfahrens keinen Nachteil erlitten, findet eine Wiedergutmachung weder durch Feststellung unangemessener Verfahrensdauer noch durch Entschädigung statt. Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist ein -ggf. nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermuteter- Nachteil zwingende Voraussetzung der Entschädigung.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 20. November 2013 – X K 2/12

  1. vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drs. 17/3802, S.19[]
  2. vgl. die Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung in dem BFH, Urteil in BFHE 234, 30, BStBl II 2011, 1015, unter II. 1.b[]
  3. BFH, Urteil vom 27.08.2008 – III R 50/06, BFH/NV 2009, 553[]
  4. BFH, Beschluss vom 11.01.2011 – – VI B 60/10, BFH/NV 2011, 876[]
  5. ebenso zur Haftung nach §§ 69 ff. AO: BFH, Urteile vom 05.06.2007 – VII R 65/05, BFHE 217, 233, BStBl II 2008, 273; vom 04.12 2007 – VII R 18/06, BFH/NV 2008, 521; vom 11.11.2008 – VII R 19/08, BFHE 223, 303, BStBl II 2009, 342[]
  6. vgl. hierzu BFH, Urteil vom 07.11.2013 – X K 13/12, unter II. 2.c bb[]