Hat der Mehrheitsgesellschafter die Umsätze der Tochtergesellschaft für das Finanzamt erkennbar in seiner Steueranmeldung erfasst, obwohl die Voraussetzungen für eine Organschaft nicht gegeben sind, beginnt die Festsetzungsfrist bei der Tochtergesellschaft gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Mehrheitsgesellschafter die Steueranmeldung abgegeben hat.

Eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung sind gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Im Bereich der Umsatzsteuer beträgt die Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO vier Jahre. Die Festsetzungsfrist beginnt gemäß § 170 Abs. 1 AO grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist oder eine bedingt entstandene Steuer unbedingt geworden ist, wenn nicht § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO anzuwenden ist.
Sind die Voraussetzungen für eine Organschaft gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG materiell-rechtlich nicht gegeben, ist für die Anwendung von § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO danach zu unterscheiden, ob der Mehrheitsgesellschafter in seiner Steueranmeldung für das Finanzamt erkennbar auch die Umsatzsteuer für die Umsätze seiner Tochtergesellschaft erfasst hat.
Hat weder der Mehrheitsgesellschafter in seiner Steueranmeldung Umsätze der Tochtergesellschaft erfasst und hat auch diese keine Steueranmeldung abgegeben, beginnt die Festsetzungsfrist für einen gegenüber der Tochtergesellschaft zu erlassenden Steuerbescheid gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des dritten Kalenderjahrs, das auf das Kalenderjahr der Steuerentstehung folgt.
Hat demgegenüber wie im Streitfall der Mehrheitsgesellschafter die Umsätze der Tochtergesellschaft für das Finanzamt erkennbar in seiner Steueranmeldung erfasst, liegt für deren Umsätze insoweit eine ‑materiell-rechtlich fehlerhafte- Steueranmeldung vor. In diesem Fall beginnt die Festsetzungsfrist bei der Tochtergesellschaft im Hinblick auf die vom Mehrheitsgesellschafter abgegebene Steueranmeldung gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem diese Steueranmeldung abgegeben wurde.
Der Bundesfinanzhof ist bereits in der Vergangenheit davon ausgegangen, dass die von jemand anderem als dem Steuerschuldner unterschriebene und dem Finanzamt eingereichte Einkommensteuererklärung zumindest dann als Steuererklärung anzusehen ist, wenn das Finanzamt aus der Steuererklärung die richtigen Schlüsse auf den Steuerschuldner und die zu veranlagende Steuer ziehen kann und in Kenntnis des Umstandes, dass die Steuererklärung von einem Dritten stammt, diese Steuererklärung zur Grundlage der Veranlagung macht. Es besteht dann „kein schutzwertes Interesse des Finanzamt an einem weiteren Hinausschieben des Beginns der Verjährung“ [1].
Erklärt der Mehrheitsgesellschafter in unzutreffender Annahme einer Organschaft die Umsätze der Tochtergesellschaft als eigene, ist dem Finanzamt die Annahme der Organschaft durch den Steuerpflichtigen bekannt. Prüft es deren Bestehen bei einer unter Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) stehenden Steuerfestsetzung erst später, gibt es für ein Hinausschieben des Verjährungsbeginns gegenüber der Tochtergesellschaft keine sachliche Rechtfertigung.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 13. November 2019 – V R 30/18
- BFH, Urteil vom 08.03.1979 – IV R 75/76, BFHE 127, 497, BStBl II 1979, 501, unter II. 1.[↩]