Das Barcodelesegerät als Hilfsmittel für sehbehinderte Gefangenen

Auch im Strafvollzug kann ein elektronisches Produkterkennungssystem mit Sprachausgabe (Barcodelesegerät) ein Hilfsmittel im Sinne von § 57 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 NJVollzG sein, wenn die Versorgung eines sehbehinderten Gefangenen mit dem Gerät im Einzelfall erforderlich und wirtschaftlich ist. Dies ist aber bei einem Gefangenen im geschlossenen Vollzug der Sicherheitsstufe 2 zu verneinen, weil dort unabhängig von der Sehbehinderung wesentliche Entfaltungsmöglichkeiten von vornherein nicht bestehen, zu deren Erschließung das Barcodelesegerät einem sehbehinderten Menschen eigentlich dienen soll.

Das Barcodelesegerät als Hilfsmittel für sehbehinderte Gefangenen

Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG hat der Gefangene Anspruch auf Krankenbehandlung, die nach Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 der Vorschrift auch die Versorgung mit Hilfsmitteln umfasst, soweit dies nicht mit Rücksicht auf die Kürze des Freiheitsentzugs unverhältnismäßig ist und soweit Belange des Vollzuges nicht entgegenstehen (Abs. 2 Satz 2). Für Art und Umfang der Krankenbehandlung gelten gemäß § 59 Satz 1 NJVollzG die Vorschriften des SGB V und die aufgrund dieser Vorschriften getroffenen Regelungen entsprechend, soweit im NJVollzG nichts anderes bestimmt ist. Eine nähere Bestimmung zur Versorgung der Gefangenen mit Hilfsmitteln, wie sie in § 59 StVollzG enthalten ist, hat der Niedersächsische Landesgesetzgeber bewusst nicht vorgenommen, weil nach seinem Willen mit der vorgenannten Verweisung die Regelung des § 33 SGB V über die Hilfsmittel entsprechende Anwendung findet1.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind.

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Das Bundesozialgericht hat bereits entschieden, dass das hier streitgegenständliche Barcodelesegerät ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V sein kann, weil es grundsätzlich geeignet ist, die Auswirkungen einer Sehbehinderung im Bereich der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens auszugleichen bzw. zu mildern; es muss aber jeweils festgestellt werden, ob die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V) und wirtschaftlich (§ 12 Abs. 1 SGB V) ist2.

Auch das Erfordernis der Wirtschaftlichkeit nach § 12 Abs. 1 SGB V gilt nach dem Willen des Niedersächsischen Landesgesetzgebers über den Verweis in § 59 Satz 1 NJVollzG im Strafvollzug entsprechend3. Dementsprechend besteht ein Anspruch des Gefangenen auf Versorgung mit Blick auf die Erforderlichkeit im Einzelfall nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen dürfen gemäß § 12 Abs. 1 SGB V nicht bewilligt werden4.

Das Oberlandesgericht Celle hat im vorliegenden Fall sowohl die Erforderlichkeit als auch die Wirtschaftlichkeit verneint:

Des Einholens einer ärztlichen Stellungnahme bedurfte es dazu nicht. Der Versorgungsanspruch nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V besteht weder allein aufgrund einer ärztlichen Verordnung noch aufgrund der Auflistung dieses Gerätes im Hilfsmittelverzeichnis. Wie den Krankenkassen steht der Vollzugsbehörde vielmehr ein eigenes Entscheidungsrecht zu, ob ein Hilfsmittel nach Maßgabe des § 33 SGB V zum Ausgleich einer bestehenden Behinderung im Einzelfall erforderlich ist4. Im vorliegenden Fall beruht die Ablehnung der Bewilligung nicht auf medizinischen Fragen, die der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedurft hätten, sondern auf den Besonderheiten der Lebensgestaltung im geschlossenen Vollzug der Sicherheitsstufe 2. Diese ermöglichen dem Antragsteller nämlich wesentliche Entfaltungsmöglichkeiten nicht, zu deren Erschließung das Barcodelesegerät einem sehbehinderten Menschen nach der Rechtsprechung des Bundesozialgerichts dienen soll.

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Da das Barcodelesegerät ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich darstellt, ist es nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft, wozu u.a. das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums gehören5. Das allgemeine Grundbedürfnis des selbständigen Wohnens umfasst die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die notwendig sind, um ohne fremde Hilfe im häuslichen Umfeld verbleiben zu können. Die mit dem Barcodelesegerät abrufbaren Informationen ermöglichen einem sehbehinderten Menschen einen weitgehend selbständigen Einkauf von Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs und damit eine überwiegend selbständige Haushaltsführung; allerdings müssen nicht entschlüsselbare Informationen über den Preis und die Mindesthaltbarkeit von Lebensmitteln weiterhin im Geschäft erfragt werden. Daneben dient das Gerät im persönlichen Umfeld der Orientierung in der Wohnung sowie der selbständigen Organisation und Führung des Haushaltes durch Verwendung der mitgelieferten Strichcode-Etiketten. Auf diese Weise kann nahezu jeder Gegenstand im persönlichen Umfeld eines sehbehinderten Menschen gekennzeichnet und die individuell vergebene Information jederzeit abgerufen werden5.

Ob ein Barcodelesegerät im Einzelfall erforderlich ist, ist aber abhängig von der persönlichen Lebensführung und den Lebensverhältnissen des jeweiligen Betroffenen5. Sowohl der Umfang der konkreten Nutzung des Barcodelesegerätes unter Berücksichtigung seiner Einsatzmöglichkeiten als auch die im Rahmen der Wirtschaftlichkeit vorzunehmende Kosten-Nutzen-Analyse bedingen deshalb, dass es trotz der Bedeutung der durch ein Barcodelesegerät vermittelten Information für sehbehinderte Menschen in Anbetracht des hohen Anschaffungspreises von ca.03.000 € einer relativ häufigen Nutzung des Gerätes pro Tag bedarf, um dessen Wirtschaftlichkeit bejahen zu können5. Diese hat die Strafvollstreckungskammer hier zutreffend verneint.

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Der gesamte Bereich des selbständigen Einkaufens entfällt nämlich im vorliegenden Fall. Denn in der Anstalt, in der der Antragsteller einsitzt, findet ein sog. Zettel-Einkauf statt; d.h. die Gefangenen müssen auf einem vorgefertigten Blatt die Produkte eintragen, die sie erwerben möchten. Die daneben als Grundbedürfnis verbleibende selbständige Organisation und Führung eines Haushaltes kann allenfalls mit erheblichen Einschränkungen angenommen werden. Der Antragsteller hat lediglich einen Haftraum zur Verfügung und erhält eine vollständige Grundversorgung mit Nahrungsmitteln. Ein Besitz gefährlicher Stoffe, die er verwechseln könnte (z.B. Reinigungsmittel mit ätzenden Flüssigkeiten), ist ihm schon aus Gründen der Sicherheit der Anstalt untersagt. Der Haftraum darf gemäß § 21 NJVollzG nur in angemessenem Umfang mit eigenen Sachen ausgestattet werden und auch nur, soweit dadurch die Übersichtlichkeit nicht beeinträchtigt wird. Der Antragsteller ist – wie übrigens auch die nichtsehbehinderten Gefangenen – bereits aus Gründen des Vollzugs in vielerlei Hinsicht auf die Hilfe Dritter, insbesondere der Vollzugsbediensteten, angewiesen. Das wesentliche Ziel der Hilfsmittelversorgung, den behinderten Menschen von der Hilfe anderer weitgehend bzw. deutlich unabhängiger zu machen5, kann in seinem Fall also nicht in gleicher Weise verwirklicht werden wie bei einem behinderten Menschen in Freiheit.

Aus den vorgenannten Gründen liegt in der Ablehnung der Bewilligung auch keine Verletzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Denn der Antragsteller ist nicht der Gruppe sehbehinderter Menschen gleichzusetzen, denen das Barcodelesegerät in einem seinem hohen Anschaffungspreis entsprechenden Umfang ein selbständiges Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums ermöglicht.

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Oberlandesgericht Celle – Beschluss vom 30. September 2013 – 1 Ws 372/13 (StrVollz)

  1. vgl. LT-Drs. 15/3565 S. 138[]
  2. BSG, Urteil vom 10.03.2011 – B 3 KR 9/10 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 33[]
  3. vgl. LT-Drs. aaO S. 140[]
  4. vgl. BSG aaO[][]
  5. BSG aaO[][][][][]