Beruht eine Fristversäumung auch auf Fehlern des Gerichts, sind die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung mit besonderer Fairness zu handhaben.

Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Bei der Anwendung und Auslegung dieser Vorschrift ist das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art.19 Abs. 4 GG) zu berücksichtigen. Danach darf der Zugang zu den dem Rechtssuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschwert werden. Insbesondere dürfen die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht überspannt werden.
Beruht eine Fristversäumung auch auf Fehlern des Gerichts, sind die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung mit besonderer Fairness zu handhaben1. Aus Fehlern des Gerichts dürfen keine Verfahrensnachteile für die Beteiligten abgeleitet werden2.
Dementsprechend ist eine Wiedereinsetzung unabhängig vom Verschulden eines Beteiligten zu gewähren, wenn dies wegen einer Verletzung der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts geboten ist; in dem Fall tritt ein in der eigenen Sphäre des Beteiligten liegendes Verschulden hinter das staatliche Verschulden zurück3.
Ein solcher Fall liegt hier vor. Denn ist ein elektronisches Dokument für das Gericht zur Bearbeitung nicht geeignet, hat es dies dem Absender gemäß § 55a Abs. 6 Satz 1 VwGO unter Hinweis auf die Unwirksamkeit des Eingangs unverzüglich mitzuteilen. Das Dokument gilt als zum Zeitpunkt der früheren Einreichung eingegangen, sofern der Absender es unverzüglich in einer für das Gericht zur Bearbeitung geeigneten Form nachreicht und glaubhaft macht, dass es mit dem zuerst eingereichten Dokument inhaltlich übereinstimmt (§ 55a Abs. 6 Satz 2 VwGO). Der Hinweispflicht nach § 55a Abs. 6 Satz 1 VwGO wurde hier im Ergebnis nicht genügt. Denn das richterliche Hinweisschreiben ist aufgrund eines Versehens der Geschäftsstelle dem Prozessbevollmächtigten des Klägers entgegen dem darauf in der Akte angebrachten Abfertigungsvermerk nicht übermittelt worden. Wäre dies geschehen, hätte der Prozessbevollmächtigte des Klägers den Beschwerdeschriftsatz unverzüglich im Dateiformat „PDF“ über das besondere elektronische Anwaltspostfach nachreichen und damit die Fiktion eines fristgerechten Eingangs der Beschwerde bewirken können. In einem solchen Fall soll nach dem Willen des Gesetzgebers eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden4.
Der erfolgreiche Wiedereinsetzungsantrag hat zur Folge, dass der Beschluss des Fachsenats des Bundesverwaltungsgerichts vom 04.10.2022 gegenstandslos und das Beschwerdeverfahren fortzuführen ist5. Einer Aufhebung des Verwerfungsbeschlusses vom 04.10.2022 bedarf es nicht6.
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 29. März 2023 – 20 F 15.22
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2004 – 1 BvR 1892/03, BVerfGE 110, 339 <342> BAG, Urteil vom 16.12.2004 – 2 AZR 611/03 – NJW 2005, 3515 <3516> BVerwG, Beschluss vom 08.03.2019 – 5 PB 15.18 12[↩]
- vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 26.02.2008 – 1 BvR 2327/07 – NJW 2008, 2167 Rn. 22 m. w. N.[↩]
- vgl. BSG, Beschlüsse vom 20.03.2019 – B 1 KR 7/18 B 9; und vom 12.10.2022 – B 1 KR 46/22 BH 5[↩]
- vgl. BT-Drs. 15/4067 S. 37; siehe auch R. P. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO 28. Aufl.2022, § 55a Rn. 16[↩]
- vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.10.1989 – 2 B 75.89 – NJW 1990, 1806[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 22.11.1957 – IV ZB 236/57[↩]
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