Das Volkswagengesetz und das EU-Recht

In dem immer noch beim Gerichtshof der Europäischen Union anhängigen Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland liegen jetzt die Schlussanträge des Generalanwalts vor. Hierin schlägt der Generalanwalt dem Europäischen Gerichtshof vor, die Klage der Kommission gegen Deutschland auf Verhängung finanzieller Sanktionen wegen des Volkswagengesetzes abzuweisen, Deutschland sei dem ursprünglichen Urteil des Gerichtshofs von 2007 vollständig nachgekommen.

Das Volkswagengesetz und das EU-Recht

Diese Rechtssache betrifft eine Klage der EU-Kommission, mit der diese beim Gerichtshof der Europäischen Union beantragt hat, gegen Deutschland finanzielle Sanktionen wegen der ihrer Ansicht nach unterbliebenen Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs vom 23. Oktober 20071 zu verhängen. In diesem Urteil von 2007 hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Deutschland dadurch gegen den freien Kapitalverkehr verstoßen hatte, dass es drei Bestimmungen des Volkswagengesetzes beibehalten hatte, und zwar die Bestimmung über das Recht des Bundes und des Landes Niedersachsen, je zwei Vertreter in den Aufsichtsrat der Volkswagen AG zu entsenden (§ 4 Abs. 1 VW-Gesetz), sowie die Bestimmung über die Beschränkung des Stimmrechts der einzelnen Aktionäre auf höchstens 20 % des Grundkapitals (§ 2 Abs. 1 VW-Gesetz) „in Verbindung mit“ der Bestimmung, die jedem Aktionär, der 20 % des Aktienkapitals hält, eine Sperrminorität bei Beschlüssen der Hauptversammlung von Volkswagen einräumt (§ 4 Abs. 3 VW-Gesetz).

Der Gerichtshof der Europäischen Union hatte entschieden, dass diese vom allgemeinen Gesellschaftsrecht abweichenden Bestimmungen die Möglichkeit für andere Aktionäre beschränkten, sich effektiv an der Verwaltung oder der Kontrolle dieser Gesellschaft zu beteiligen, und daher Direktinvestoren aus anderen Mitgliedstaaten davon abhalten könnten, in das Kapital von Volkswagen zu investieren.

Eine Vertragsverletzungsklage richtet sich gegen einen Mitgliedstaat, der nach Auffassung der Kommission oder eines anderen Mitgliedstaats seine Gemeinschaftsverpflichtungen nicht einhält. Stellt der Gerichtshof der Europäischen Union – wie hier – eine Vertragsverletzung fest, so hat der betreffende Mitgliedstaat dem Urteil unverzüglich nachzukommen. Ist die Kommission der Auffassung, dass der Mitgliedstaat dem Urteil nicht nachgekommen ist, kann sie erneut klagen und finanzielle Sanktionen beantragen.

Im Anschluss an dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofs erließ Deutschland im Dezember 2008 ein neues Gesetz, durch das die ersten beiden in Rede stehenden Bestimmungen des VW-Gesetzes aufgehoben wurden, d. h. die Bestimmungen über die Entsendung in den Aufsichtsrat und die Beschränkung des Stimmrechts2. Die Bestimmung über die Sperrminorität von 20 % wurde hingegen nicht geändert.

Nach Ansicht der EU-Kommission ist dem Urteil von 2007 zu entnehmen, dass jede der beanstandeten Bestimmungen für sich genommen gegen den freien Kapitalverkehr verstoße. Da die Bestimmung über die Sperrminorität unverändert geblieben war, erhob die Kommission am 21. Februar 2012 die vorliegende Klage, mit der sie beantragte, gegen Deutschland finanzielle Sanktionen wegen unvollständiger Umsetzung des Urteils von 2007 zu verhängen.

In ihrer Klage schlägt die Kommission die Zahlung eines Zwangsgeldes in Höhe von 282.725,10 € pro Tag ab dem Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache vor, bis die sich aus dem Urteil von 2007 ergebenden Verpflichtungen erfüllt sind, sowie die Zahlung eines Pauschalbetrags von 31.114,72 Euro pro Tag multipliziert mit der Zahl der Tage zwischen der Verkündung des Urteils von 2007 und dem Tag, an dem Deutschland dem Urteil von 2007 nachkommt, oder, falls dies nicht eintreten sollte, dem Tag der Urteilsverkündung in der vorliegenden Rechtssache.

In seinen jetzt vorgelegten Schlussanträgen schlägt der Generalanwalt Nils Wahl dem Gerichtshof der Europäischen Union vor, die Klage der Kommission abzuweisen.

Er teilt die von der deutschen Regierung vertretene Auslegung des Urteils von 2007, dass der Gerichtshof zwei Vertragsverletzungen festgestellt hatte: die erste hinsichtlich der Bestimmung über die Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern und die zweite hinsichtlich der Bestimmungen über die Stimmrechtsbeschränkung und die Sperrminorität zusammengenommen. Da Deutschland die Bestimmung, die die erste Vertragsverletzung darstellt, und eine der beiden Bestimmungen, die die zweite Vertragsverletzung darstellen, aufgehoben hat, ist es dem Urteil von 2007 vollständig nachgekommen.

Nach Auffassung des Generalanwalts schließt die Verwendung der Formulierung „in Verbindung mit“ im Tenor des Urteils von 2007 für sich genommen die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung aus. Außerdem bestätigt die Begründung des Urteils von 2007 die Ansicht der Kommission ebenfalls nicht. In diesem Zusammenhang betont der Generalanwalt, dass der Gerichtshof der Europäischen Union – insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Land Niedersachsen eine Beteiligung von etwa 20 % am Kapital von Volkswagen behielt – es für angebracht gehalten hatte, die Bestimmungen über die Stimmrechtsbeschränkung und die Sperrminorität gemeinsam zu prüfen, und ausdrücklich auf die nachteiligen kumulativen Auswirkungen der beiden Bestimmungen auf das Interesse von Investoren, Volkswagen-Aktien zu erwerben, verwiesen hatte.

Der Generalanwalt führt außerdem aus, dass der Zweck des vorliegenden Verfahrens nicht darin besteht, festzustellen, ob die Bestimmung über die Sperrminorität für sich genommen gegen das Unionsrecht verstößt, sondern nur, ob Deutschland dem Urteil von 2007 nachgekommen ist.

In Bezug auf zusätzliche Rügen, die von der Kommission im vorliegenden Verfahren vorgebracht worden sind, nämlich dass auch die Satzung von Volkswagen hätte geändert werden müssen, schlägt der Generalanwalt vor, diese Rügen als unzulässig zurückzuweisen, da die VW-Satzung vom Europäischen im Urteil von 2007 nicht geprüft wurde.

Für den Fall, dass der Gerichtshof der Europäischen Union entgegen seinen Schlussanträgen feststellen sollte, dass Deutschland dem Urteil von 2007 nicht vollständig nachgekommen ist, schlägt Generalanwalt Wahl dem EuGH vor, Deutschland die Zahlung eines Zwangsgeldes in Höhe von 81 100,80 € pro Tag ab dem Tag, an dem das Urteil in dem vorliegenden Verfahren verkündet wird, bis zu der vollständigen Umsetzung des Urteils von 2007 sowie eines Pauschalbetrags von 8 870,40 € pro Tag, multipliziert mit der Zahl der Tage zwischen der Verkündung des Urteils von 2007 und dem Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache, aufzuerlegen.

Insoweit ist der Generalanwalt, der seinen Antrag auf den Zweck von Art. 260 AEUV, die wirksame Durchsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten, stützt, der Auffassung, dass weder die behauptete Mehrdeutigkeit des Urteils von 2007 noch die ungewöhnlich lange Zeit von mehr als drei Jahren, die zwischen dem Ende des vorgerichtlichen Verfahrens und der Anrufung des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache verstrichen ist, eine Ermäßigung der gegen Deutschland zu verhängenden finanziellen Sanktionen rechtfertigen.

Diese Schlussanträge seines Generalanwalts sind für den Gerichtshof der Europäischen Union nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Europäischen Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Gerichtshofs der Europäischen treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.

Gerichtshof der Europäischen Union, Schlussanträge des Generalanwalts vom 29. Mai 2013 – C-95/12 [Kommission / Deutschland]

  1. EuGH, Urteil vom 23.10.2007 – C-112/05[]
  2. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in private Hand, BGBl. 2008 I S. 2369[]