Der Anerkennung einer außerhalb des Bundesgebiets in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union erworbenen Berufsqualifikation nach § 2 Abs. 3 Masseur- und Physiotherapeutengesetz (und den zugrunde liegenden Bestimmungen in Titel III Kapitel I Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen) steht nicht entgegen, dass die anzuerkennende Berufsqualifikation schon vor dem Beitritt des Mitgliedstaates zur Europäischen Union abgeschlossen worden ist.

Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie – Masseur- und Physiotherapeutengesetz (MPhG [1]), bedarf derjenige, der, wie hier die Klägerin, die Berufsbezeichnung „Physiotherapeutin“ führen will, der Erlaubnis. Diese Erlaubnis ist nach § 2 Abs. 1 MPhG auf Antrag zu erteilen, wenn der Antragsteller die vorgeschriebene Ausbildung abgeleistet und die staatliche Prüfung bestanden hat (Nr. 1), sich nicht eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich die Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs ergibt (Nr. 2), nicht in gesundheitlicher Hinsicht zur Ausübung des Berufs ungeeignet ist (Nr. 3) und über die für die Ausübung der Berufstätigkeit erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt (4.).
Die hier zwischen den Beteiligten allein streitige Voraussetzung der Nr. 1 des § 2 Abs. 1 MPhG kann auch durch eine außerhalb des Bundesgebiets abgeschlossene Ausbildung erfüllt werden, und zwar nach Anerkennung des Ausbildungsstandes als gleichwertig gemäß § 2 Abs. 2 MPhG oder durch Vorlage eines der in § 2 Abs. 3 MPhG genannten Ausbildungsnachweise.
Nach § 2 Abs. 3 MPhG gilt für Antragsteller, die eine Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 MPhG zur Führung der Berufsbezeichnung „Physiotherapeutin“ anstreben, die hier streitige Voraussetzung des § 2 Abs. 1 Nr. 1 MPhG ohne Weiteres als erfüllt, wenn aus einem in einem anderen Vertragsstaat des Europäischen Wirtschaftsraumes erworbenen Diplom hervorgeht, dass der Inhaber eine Ausbildung erworben hat, die in diesem Staat für den unmittelbaren Zugang zu einem dem Beruf des Physiotherapeuten entsprechenden Beruf erforderlich ist.
Ein Diplom im Sinne dieser Bestimmung kann in den drei in den Sätzen 2 bis 4 des § 2 Abs. 3 MPhG genannten Fällen vorliegen: Erstens nach § 2 Abs. 3 Satz 2 MPhG als ein Ausbildungsnachweis gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. c Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen [2] der dem in Art. 11 Buchst. c oder d Richtlinie genannten Niveau entspricht. Zweitens nach § 2 Abs. 3 Satz 3 MPhG als ein Ausbildungsnachweis oder eine Gesamtheit von Ausbildungsnachweisen, die von einer zuständigen Behörde in einem Mitgliedstaat ausgestellt wurden, sofern sie eine in der Gemeinschaft erworbene abgeschlossene Ausbildung bescheinigen, von diesem Mitgliedstaat als gleichwertig anerkannt wurden und in Bezug auf die Aufnahme oder Ausübung des Berufs des Physiotherapeuten dieselben Rechte verleihen oder auf die Ausübung des Berufs des Physiotherapeuten vorbereiten. Oder drittens nach § 2 Abs. 3 Satz 4 MPhG als eine Berufsqualifikation, die zwar nicht den Erfordernissen der Rechts- oder Verwaltungsvorschriften des Herkunftsmitgliedstaats für die Aufnahme oder Ausübung des Berufs des Physiotherapeuten entspricht, ihrem Inhaber jedoch nach dem Recht des Herkunftsmitgliedstaats erworbene Rechte nach den dort maßgeblichen Vorschriften verleiht.
Ein Diplom im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 2 MPhG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. c Richtlinie 2005/36/EG ist nur ein Ausbildungsnachweis, der – im Falle eines reglementierten Berufs, wie dem des Physiotherapeuten in Deutschland bzw. dem des Fizioterapeits in Lettland [3]) – den Abschluss eines dem Ausbildungsniveau gemäß Art. 11 Buchst. c. i. Richtlinie 2005/36/EG entsprechenden, besonders strukturierten, in Anhang II Richtlinie 2005/36/EG enthaltenen Ausbildungsgangs, der eine vergleichbare Berufsbefähigung vermittelt und auf eine vergleichbare berufliche Funktion und Verantwortung vorbereitet, bescheinigt. Über ein solches Diplom verfügt die Klägerin nicht.
Ob die Klägerin über einen von einer zuständigen Behörde in einem Mitgliedstaat ausgestellten Ausbildungsnachweis nach § 2 Abs. 3 Satz 3 MPhG verfügt, der eine in der Gemeinschaft erworbene abgeschlossene Ausbildung bescheinigt, von diesem Mitgliedstaat als gleichwertig anerkannt wurde und in Bezug auf die Aufnahme oder Ausübung des Berufs des Physiotherapeuten dieselben Rechte verleiht oder auf die Ausübung des Berufs des Physiotherapeuten vorbereitet, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Klägerin selbst für den Fall, dass ihr Ausbildungsnachweis nicht den Erfordernissen der Rechts- oder Verwaltungsvorschriften des Herkunftsmitgliedstaats für die Aufnahme oder Ausübung des Berufs des Physiotherapeuten entspricht, nach § 2 Abs. 3 Satz 4 MPhG über eine Berufsqualifikation verfügt, die ihr nach dem Recht des Herkunftsmitgliedstaats erworbene Rechte nach den dort maßgeblichen Vorschriften verleiht.
Die Klägerin hat nachgewiesen, seit 1997 als zertifizierte Physiotherapeutin in der Abteilung für Physiotherapie und Rehabilitation des Zentralklinikums der Stadt Liepaja gearbeitet zu haben. Sie hat ein Zertifikat vorgelegt, in dem die Berufsgenossenschaft der Heil- und Gesundheitsberufe in Lettland bestätigt hat, dass die Klägerin zuletzt am 11. Februar 2005 die in Fünf-Jahres-Abständen zu wiederholende Zertifizierungsprüfung des Physiotherapeutenverbandes bestanden hat und berechtigt ist, in Lettland als Physiotherapeutin zu praktizieren. Darüber hinaus wird in der Urkunde des Ministeriums für Gesundheit der Republik Lettland – Staatliche Agentur für Gesundheitsstatistik und medizinische Technologien – vom 10. Juli 2007 bestätigt, dass die Klägerin berechtigt ist, im Beruf als Physiotherapeutin zu praktizieren. Hiermit hat die Klägerin hinreichend nachgewiesen, dass sie über eine Berufsqualifikation verfügt, die ihr nach dem Recht des Herkunftsmitgliedstaats erworbene Rechte nach den dort maßgeblichen Vorschriften verleiht und damit die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 Satz 4 MPhG vorliegen.
Der hiergegen erhobene Einwand, die Klägerin habe eine erforderliche Gleichwertigkeits- und Konformitätsbescheinigung der lettischen Behörden nicht beigebracht, greift nicht durch. Denn eine solche Bescheinigung ist in den Fällen der Anerkennung nach § 2 Abs. 3 Satz 4 MPhG gesetzlich nicht vorgesehen. Ein solches Erfordernis ergibt sich auch nicht aus den zugrunde liegenden Bestimmungen in Art. 12 Abs. 2 und 3 Abs. 3 Richtlinie 2005/36 EG [4]. In diesen Fällen wird vielmehr die funktionale Gleichwertigkeit der erworbenen Berufsqualifikationen unterstellt. Etwaigen im Einzelfall festgestellten wesentlichen Unterschieden in Ausbildungsqualität und ‑inhalten kann dann nur noch durch die in § 2 Abs. 3 Satz 5 MPhG bzw. Art. 14 Richtlinie 2005/36/EG vorgesehenen Ausgleichsmaßnahmen begegnet werden [5]. Liegt damit schon ein Fall des § 2 Abs. 3 Satz 4 MPhG vor, kommt es auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs. 3 Satz 3 MPhG und insbesondere die dort genannte Gleichwertigkeitsbescheinigung entscheidungserheblich nicht mehr an.
Die vom Verwaltungsgericht darüber hinaus verneinte Erforderlichkeit von Ausgleichsmaßnahmen nach § 2 Abs. 3 Satz 5 MPhG hat der Beklagte mit seinem Zulassungsvorbringen nicht angegriffen und sich insbesondere mit der detaillierten und überzeugenden Begründung des Verwaltungsgerichts zum Nichtvorliegen der Voraussetzungen nach § 2 Abs. 3 Satz 5 Nrn. 1 bis 3 MPhG in keiner Weise auseinandergesetzt.
Unerheblich ist für das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht insoweit auch, dass die Klägerin ihre Ausbildung bereits vor dem Beitritt Lettlands zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 abgeschlossen hat und aus diesem Grund eine Anwendung des § 2 Abs. 3 MPhG bzw. der zugrunde liegenden Bestimmungen der Richtlinie 2005/36/EG ausgeschlossen ist.
Dem Wortlaut des Masseur- und Physiotherapeutengesetzes und der Richtlinie 2005/36/EG kann nicht entnommen werden, dass stets nur solche im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen anerkannt werden sollen, die erst nach dem Beitritt des Mitgliedstaats, in dem die Ausbildung absolviert wurde, zur Europäischen Union abgeschlossen worden sind. Vielmehr unterscheidet das durch die Richtlinie 2005/36/EG geschaffene System der Anerkennung von Berufsqualifikationen zwischen den durch frühere sektorale Richtlinien einerseits [6] und allgemeine Richtlinien andererseits [7] geregelten Bereichen. Für die sektoralen Berufe finden sich durchaus stichtagsbezogene Regelungen. So setzt beispielsweise die automatische Anerkennung von Ausbildungen für die Aufnahme der beruflichen Tätigkeiten des Arztes mit Grundausbildung und des Facharztes, der Krankenschwester und des Krankenpflegers für allgemeine Pflege, des Zahnarztes und Fachzahnarztes nach Art. 21 Abs. 1 Richtlinie 2005/36/EG voraus, dass die Ausbildung nach den in Anhang V genannten, bei „neueren“ Mitgliedstaaten an den Beitritt des Landes zur Europäischen Union anknüpfenden Stichtagen abgeschlossen worden ist. Ist die Ausbildung vor diesen Stichtagen abgeschlossen, formuliert beispielsweise Art. 23 Richtlinie 2005/36/EG besondere Erfordernisse für die Anerkennung einer Ausbildung, die die Aufnahme des Berufes des Arztes mit Grundausbildung und des Facharztes, der Krankenschwester und des Krankenpflegers, die für die allgemeine Pflege verantwortlich sind, des Zahnarztes und des Fachzahnarztes, des Tierarztes, der Hebamme und des Apothekers gestatten [8]. Für andere als diese sektoralen Berufe fehlen aber Stichtagsregelungen. Die nur für die sektoralen Berufe getroffenen speziellen Bestimmungen zeigen, dass der europäische Richtliniengeber und daran anknüpfend der deutsche Gesetzgeber nicht allgemein davon ausgegangen sind, dass stets nur solche Berufsqualifikationen, die nach dem Beitritt des jeweiligen Mitgliedstaates erworben wurden, nach dem durch die Richtlinie 2005/36/EG und dem deutschen Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2005/36/EG geschaffenen System anzuerkennen sind.
Dieses Auslegungsergebnis wird auch vom Sinn und Zweck der Regelungen zur Anerkennung von Berufsqualifikationen in der Richtlinie 2005/36/EG und deren Umsetzung im Masseur- und Physiotherapeutengesetz getragen, insbesondere wenn man den dort bestimmten Schutz erworbener Rechte berücksichtigt (vgl. § 2 Abs. 3 Satz 4 MPhG und Art. 12 Abs. 2 Richtlinie 2005/36/EG). Denn dieser ist offensichtlich auf berufliche Qualifikationen bezogen, die allein nach dem Recht des Mitgliedstaates und ohne Bezug zum Recht der Europäischen Union erworben worden sind. Dem entsprechend steht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs [9] und anderer Gerichte [10] außerhalb des Bereichs der genannten sektoralen Berufe der Anwendbarkeit der Richtlinie 2005/36/EG und der diese umsetzenden nationalen Gesetze regelmäßig nicht entgegen, dass die anzuerkennende berufliche Qualifikation bereits vor dem Beitritt des Mitgliedstaats zur Europäischen Union erworben worden ist.
Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 1. April 2011 – 8 LA 104/10
- vom 26.05.1994, BGBl. I S. 1084, zuletzt geändert durch Gesetz vom 25.09.2009, BGBl. I S. 3158[↩]
- ABl. EU Nr. L 255 S. 22, in der jeweils geltenden, hier zuletzt durch Verordnung (EG) Nr. 279/2009 der Kommission vom 06.04.2009, ABl EU Nr. L 93 S. 11, geänderten Fassung[↩]
- vgl. Europäische Kommission, Database of regulated professions in the EU Member States, EEA countries and Switzerland, Stand: 31.3.2011, dort ID Nrn. 954 (Deutschland) und 12365 (Lettland[↩]
- vgl. den von der Koordinatorengruppe gebilligten Verhaltenskodex zu nationalen Verwaltungspraktiken, die unter die Richtlinie 2005/36/EG fallen, dort Nr. II.3., Stand: 31.3.2011[↩]
- vgl. Jaekel, Status Quo bei der Umsetzung der EU-Berufsanerkennungsrichtlinie, in: VBlBW 2010, 419, 420[↩]
- vgl. für Ärzte: Richtlinie 75/362/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 und Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993; für Zahnärzte: Richtlinie 78/686/EWG des Rates vom 25. Juli 1978; für Tierärzte: Richtlinie 78/1026/EWG des Rates vom 18. Dezember 1978; für Apotheker: Richtlinie 85/433/EWG des Rates vom 16. September 1985; für Architekten: Richtlinie 85/384/EWG des Rates vom 10. Juni 1985; für Krankenschwestern und Krankenpfleger: Richtlinie 77/452/EWG des Rates vom 27. Juni 1977; und für Hebammen: Richtlinie 80/154/EWG des Rates vom 21. Januar 1980[↩]
- vgl. Richtlinie 89/48/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen; Richtlinie 92/51/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über eine zweite allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise in Ergänzung zur Richtlinie 89/48/EWG; und Richtlinie 1999/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juni 1999 über ein Verfahren zur Anerkennung der Befähigungsnachweise für die unter die Liberalisierungs- und Übergangsrichtlinien fallenden Berufstätigkeiten in Ergänzung der allgemeinen Regelung zur Anerkennung der Befähigungsnachweise[↩]
- vgl. Art. 23 Abs. 1 i.V.m. Anhang V Nrn. 5.1.1., 5.1.2., 5.2.2., 5.3.2., 5.3.3., 5.4.2., 5.5.2. bzw. 5.6.2. Richtlinie 2005/36/EG[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 10.12.2009 – C‑345/08, NJW 2010, 137 f. [Pesla ./. Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern], m.w.N.[↩]
- vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14.04.2010 – 13 E 1612/09; VG Düsseldorf, Urteil vom 18.05.2009 – 15 K 4084/08[↩]