Die rückwirkende Einstufung in den Notlagentarif des § 12h VAG in der bis zum 31.12 2015 geltenden Fassung gemäß Art. 7 Satz 2 EGVVG setzt voraus, dass ein Ruhen der Leistungen noch bei Inkrafttreten der Regelung am 1.08.2013 vorgelegen hat.

Zu der Rechtsfrage, ob die Regelung des Art. 7 Satz 2 EGVVG voraussetzt, dass die Leistungen aus dem Vertrag am Tag des Inkrafttretens des Gesetzes noch gemäß § 193 Abs. 6 VVG ruhend gestellt sind, werden in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedliche Auffassungen vertreten.
Ebenso wie die Vorinstanzen sind auch das Kammergericht [1] und das Oberlandesgericht Köln [2] der Ansicht, dass die in Art. 7 Satz 2 EGVVG angeordnete Rückwirkung des Notlagentarifs nicht voraussetze, dass die Versicherungsleistungen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der gesetzlichen Regelung noch ruhend gestellt waren.
Diese Gerichte meinen, dass der Wortlaut des Gesetzes eine Einschränkung der angeordneten Rückwirkung auf am 1.08.2013 ruhend gestellte Verträge nicht enthalte und auch Sinn und Zweck des Gesetzes gegen eine dahingehende einschränkende Auslegung der Rückwirkungsfiktion sprächen. Die vom Gesetzgeber beabsichtigte Erleichterung der Schuldenlast werde anderenfalls verfehlt; insbesondere würden die finanziell besonders schwachen Versicherungsnehmer, die hilfebedürftig im Sinne des SGB XII sind, von der Begünstigung ausgeschlossen [3].
Gegenteiliger Auffassung sind das Landgericht Dortmund [4], das Oberlandesgericht Hamm [5], das Landgericht Berlin [6] jedenfalls für den Fall, dass das Versicherungsverhältnis am 1.08.2013 vollständig beendet war, sowie im Schrifttum Muschner [7] und Mandler [8].
Zur Begründung wird vor allem angeführt, aus der Gesetzesbegründung zur Neufassung des Art. 7 EGVVG [9] ergebe sich, dass der Gesetzgeber nur die Beitragsschuldner im Blick gehabt habe, deren Verträge bei Inkrafttreten der Regelung noch fortbestanden, und eine Gleichstellung von Versicherten, bei denen das Ruhen der Leistungen bis zum 1.08.2013 andauerte, mit denjenigen Altschuldnern, bei denen das Ruhen der Leistungen bereits vor dem 1.08.2013 beendet war, durch die neue Rechtslage nicht beabsichtigt worden sei [10] und dass eine dementsprechend enge Auslegung der Vorschrift auch aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten sei, weil die rückwirkende Einführung eines Notlagentarifs eine nur ausnahmsweise zulässige echte Rückwirkung darstelle [11]. Teilweise wird auch darauf verwiesen, dass die in § 193 Abs. 8 VVG geregelte Belehrungspflicht des Versicherers nur für einen noch bestehenden und auf den Notlagentarif umgestellten Krankenversicherungsvertrag einen Sinn ergebe [12].
Zudem folge schon aus Wortlaut und Systematik des Gesetzes, dass von der rückwirkenden Regelung nur solche Versicherungsverhältnisse erfasst würden, die zum 1.08.2013 noch ruhend gewesen seien, weil der Gesetzgeber sich des Passiv Perfekts bedient habe („ruhend gestellt worden sind“) und die Versicherungsnehmer „ab“ diesem Zeitpunkt als im Notlagentarif versichert gelten [13].
Zutreffend ist die zuletzt genannte Auffassung, nach der Art. 7 Satz 2 EGVVG nur anzuwenden ist, wenn ein Ruhen der Leistungen noch bei Inkrafttreten der Regelung am 1.08.2013 vorgelegen hat.
Dies folgt in erster Linie aus Wortlaut und Systematik des Art. 7 EGVVG.
Danach kann die Regelung über die rückwirkende Geltung des Notlagentarifs in Art. 7 Satz 2 bis 6 EGVVG nicht losgelöst von dem in Art. 7 Satz 1 EGVVG enthaltenen Grundtatbestand gesehen werden, nach der solche Versicherungsnehmer als im Notlagentarif versichert gelten, für die am 1.08.2013 das Ruhen der Leistungen gemäß § 193 Abs. 6 VVG festgestellt ist. Diese Grundvoraussetzung muss auch für die nach Maßgabe der Sätze 2 bis 6 vorgesehene zeitliche Rückwirkung erfüllt sein. Denn Art. 7 Satz 2 EGVVG ordnet seinem Wortlaut nach nur an, dass der Notlagentarif unter den dort genannten Voraussetzungen „ab“ einem früheren Zeitpunkt gilt als nach der Grundregel des Satzes 1 vorgesehen.
Ein hiervon abweichender Wille des Gesetzgebers dahingehend, dass nicht nur rückwirkend eine zeitliche Ausdehnung der Geltung des Notlagentarifs stattfinden soll, sondern von ihr auch solche Versicherungsnehmer erfasst sein sollen, für die die Regelung des Art. 7 Satz 1 EGVVG nicht gilt, weil ein Ruhen der Leistungen nur für einen früheren Zeitraum in der Vergangenheit vorgelegen hat, kommt im Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck.
Ein solcher Wille hätte auch wegen der verfassungsrechtlichen Problematik einer derartigen Regelung deutlich formuliert werden müssen.
Die rückwirkende Einführung eines Notlagentarifs führt zum Wegfall oder der Herabsetzung bereits voll entstandener Beitragsansprüche der Versicherer und stellt damit eine echte Rückwirkung dar [14]. Eine echte Rückwirkung liegt immer dann vor, wenn der Gesetzgeber nachträglich ändernd in einen abgeschlossenen, der Vergangenheit angehörenden Tatbestand eingreift [15]. Sie ist grundsätzlich unzulässig [16] und bedarf für ihre Zulässigkeit einer besonderen Rechtfertigung [17].
Insoweit sind verschiedene Fallgruppen für eine Zulässigkeit anerkannt [18]. Die Gesetzesbegründung [19] stellt allerdings nicht fest, welchen dieser anerkannten Gründe der Gesetzgeber als gegeben betrachtete, um eine Rückwirkung zu rechtfertigen.
Dabei ist zu erkennen, dass der Gesetzgeber von einer geringen Belastung der Versicherer durch die rückwirkende Versicherung im Notlagentarif ausging, weil die so begründete niedrigere Forderung aus dem Notlagentarif an die Stelle einer in vielen Fällen ohnehin nicht mehr beitreibbaren höheren Forderung trete, so dass der Wertberichtigungsbedarf für die Versicherungsunternehmen reduziert werde [20]. Unter Berücksichtigung dieses Umstands erscheint es möglich, in dem vom Gesetzgeber beabsichtigten Schutz von säumigen Versicherungsnehmern vor weiterer Überschuldung einen überwiegenden, zwingenden Grund des Gemeinwohls zu sehen, der jedenfalls für den Fall von am Stichtag noch ruhenden Leistungen den Eingriff in eine entstandene und noch nicht ausgeglichene Prämienforderung rechtfertigt.
Die Rückwirkungsproblematik gebietet eine möglichst enge Auslegung. Dies gilt umso mehr, als der Zweck des Gesetzes, die Zahlungsfähigkeit des Versicherungsnehmers schneller wiederherzustellen, damit der volle Versicherungsschutz zügig wiedererlangt werden könne, bei einem Versicherten, bei dem kein Ruhen der Leistungen mehr besteht, bereits insoweit erreicht ist, als er wieder vollen Versicherungsschutz genießt [21].
In dieser Auslegung verstößt die Regelung auch nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
Dem Gesetzgeber ist bei der Schaffung von Übergangsregelungen notwendigerweise ein gewisser Spielraum einzuräumen. Denn gerade bei weitreichenden Änderungen ist es unmöglich, die unter dem alten Recht entstandenen und womöglich schon abgewickelten Rechtsverhältnisse vollständig dem neuem Recht zu unterstellen. Auch verlangt der Grundsatz der Rechtssicherheit klare schematische Entscheidungen über die zeitliche Abgrenzung zwischen dem alten und dem neuen Recht, so dass es unvermeidlich ist, dass sich in der Rechtsstellung der Betroffenen, je nachdem, ob sie dem alten oder dem neuen Recht zu entnehmen ist, Unterschiede ergeben, die dem Ideal der Rechtsgleichheit widersprechen. Die verfassungsrechtliche Prüfung von Stichtags- und anderen Übergangsvorschriften muss sich daher auf die Frage beschränken, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Spielraum in sachgerechter Weise genutzt hat, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und die gefundene Lösung sich im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen lässt oder als willkürlich erscheint [22].
Dieser Prüfung hält die Übergangsregelung des Art. 7 EGVVG stand, insbesondere weil sie nicht der Beseitigung eines verfassungswidrigen Zustands diente, sondern lediglich einer materiellen Besserstellung finanziell überforderter Versicherungsnehmer, die alte Rechtslage aber auch unzweifelhaft verfassungsgemäß war [23].
Bundesgerichtshof, Urteil vom 6. Juli 2016 – IV ZR 169/15
- KG, VersR 2015, 440[↩]
- OLG Köln, r+s 2015, 454[↩]
- KG aaO 3136; OLG Köln aaO 4345[↩]
- LG Dortmund, r+s 2014, 85; zustimmend Voit in Prölss/Martin, VVG 29. Aufl. § 193 Rn. 45[↩]
- OLG Hamm, r+s 2016, 136[↩]
- LG Berlin, VersR 2015, 1015[↩]
- Muschner, in HK-VVG, 3. Aufl. Art. 7 EGVVG Rn. 3 f.[↩]
- Mandler, VersR 2015, 818[↩]
- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss), BT-Drs. 17/13947 S. 31 f. zu Artikel 5[↩]
- OLG Hamm aaO Rn. 1315; LG Dortmund aaO; Mandler aaO S. 819[↩]
- LG Berlin aaO; Muschner aaO Rn. 4; Mandler aaO S. 820[↩]
- LG Dortmund aaO; LG Berlin aaO[↩]
- Mandler aaO S. 818[↩]
- Muschner in HK-VVG, 3. Aufl. Art. 7 EGVVG Rn. 4[↩]
- BVerfGE 114, 258, 300; 101, 239, 263; 95, 64, 86[↩]
- BVerfGE aaO[↩]
- BVerfGE 72, 200, 242[↩]
- vgl. dazu Grzeszik in Maunz/Dürig, GG 76. EL Art.20 – VII Rn. 80 ff.; Jarass in Jarass/Pieroth, GG 12. Aufl. Art.20 Rn. 72[↩]
- BT-Drs. 17/13947 S. 31 f.[↩]
- BT-Drs. 17/13947 S. 31 re. Sp. unten[↩]
- zutreffend Mandler aaO S. 819[↩]
- BVerfG NJW 2013, 2103 Rn. 34 m.w.N.[↩]
- vgl. hierzu BVerfG aaO Rn. 35 m.w.N.[↩]