Das unwillige Gericht – und der Anspruch auf rechtliches Gehör

Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können1.

Das unwillige Gericht – und der Anspruch auf rechtliches Gehör

Da dies nicht nur durch tatsächliches Vorbringen, sondern auch durch Rechtsausführungen geschehen kann, gewährleistet Art. 103 Abs. 1 GG dem Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern2.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör bedeutet auch, dass das entscheidende Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen muss3. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Nur dann, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass ein Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist, ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt4.

Zwar hat das Gericht bei der Abfassung seiner Entscheidungsgründe eine gewisse Freiheit und kann sich auf die für den Entscheidungsausgang wesentlichen Aspekte beschränken, ohne dass darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt. Wenn aber ein bestimmter Vortrag einer Partei den Kern des Parteivorbringens darstellt und für den Prozessausgang eindeutig von entscheidender Bedeutung ist, besteht für das Gericht eine Pflicht, die vorgebrachten Argumente zu erwägen5. Ein Schweigen lässt hier den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde. Dagegen aber schützt Art. 103 Abs. 1 GG6.

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Kein vermutetes Mitverschulden

Diesen Maßstäben wird der hier zugrunde liegende Beschluss des Landgerichts nicht gerecht:

Das Landgericht setzt sich nicht im Ansatz damit auseinander, dass die Beschwerdeführerin mehrfach vorgetragen hatte, dass der Antragsgegner ihr die Rückabwicklung des Kaufvertrags angeboten habe. Wenn sich die Parteien jedoch tatsächlich – wie die Beschwerdeführerin behauptet – über die Rückabwicklung des Kaufvertrags einig waren, käme es auf die Voraussetzungen eines Rücktrittsrechts nach § 437 Nr. 2, § 440, § 323 BGB – auf deren Fehlen allein das Landgericht die Ablehnung des Prozesskostenhilfeantrags gestützt hat – nicht an. Insofern lässt das Schweigen der Entscheidungsgründe zu diesem Vorbringen der Beschwerdeführerin den Schluss zu, dass der Vortrag der Beschwerdeführerin nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde.

Durch den Anhörungsrügebeschluss vom 14.09.2020 wurde die Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG nicht geheilt, da das Landgericht die Anhörungsrüge rechtsfehlerhaft als unzulässig verworfen hat. Obwohl die Beschwerdeführerin mit ihrer Anhörungsrüge ausdrücklich geltend gemacht hat, dass sie ihren Zahlungsanspruch auch auf eine Einigung mit dem Antragsgegner über die Rückabwicklung des Kaufvertrags und nicht lediglich auf ein Rücktrittsrecht aus § 437 Nr. 2, § 323 BGB gestützt habe, vertritt das Landgericht die Auffassung, damit sei eine Gehörsverletzung nicht dargelegt, weil die Kammer nicht verpflichtet gewesen sei, zu diesem Vorbringen in den Gründen des angefochtenen Beschlusses Stellung zu nehmen. Damit verkennt das Landgericht weiterhin, dass die Beschwerdeführerin ihr Klagebegehren auf zwei voneinander unabhängige Klagegründe gestützt hatte und die Ablehnung eines Rücktrittsrechts aus § 437 Nr. 2, § 323 BGB in dem Beschluss vom 14.08.2020 für die behauptete Vereinbarung einer Rückabwicklung unerheblich ist, sodass es einer gesonderten Auseinandersetzung mit diesem zweiten Kernvorbringen bedurft hätte, um dem Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör zu genügen.

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Vereinfachtes Berufungsverfahren - und das rechtliche Gehör

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. Mai 2022 – 2 BvR 1982 – /20

  1. vgl. BVerfGE 84, 188 <190> 107, 395 <409> m.w.N.[]
  2. vgl. BVerfGE 60, 175 <210 ff.> 64, 135 <143> 65, 227 <234> 86, 133 <144> stRspr[]
  3. vgl. BVerfGE 21, 191 <194> 96, 205 <216> stRspr[]
  4. vgl. BVerfGE 25, 137 <140 f.> 85, 386 <404> 96, 205 <216 f.> stRspr[]
  5. vgl. BVerfGE 47, 182 <188 f.> 86, 133 <146>[]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.06.1992 – 1 BvR 600/92 11; Beschluss vom 14.09.2016 – 1 BvR 1304/13, Rn. 23[]