Eine blinde oder sehbehinderte Person hat keinen Anspruch aus § 191a GVG, § 4 Abs. 1 ZMV auf Zugänglichmachung der Dokumente des gerichtlichen Verfahrens auch in einer für sie wahrnehmbaren Form, wenn sie in dem Verfahren durch einen Rechtsanwalt vertreten wird und der Streitstoff so übersichtlich ist, dass er ihr durch den Rechtsanwalt gut vermittelbar ist.

Eine blinde oder sehbehinderte Person kann gemäß § 191a Abs. 1 Satz 1 GVG nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach § 191a Abs. 2 GVG verlangen, dass ihr die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Die auf der Grundlage des § 191a Abs. 2 GVG erlassene Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen in gerichtlichen Verfahren (Zugänglichmachungsverordnung – ZMV) bestimmt, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Weise einer blinden oder sehbehinderten Person die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente und die von den Parteien zu den Akten gereichten Dokumente zugänglich gemacht werden, sowie ob und wie diese Person bei der Wahrung ihrer Rechte mitzuwirken hat.
Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich der Anspruch auf Zugänglichmachung nach den genannten Regelungen nicht auf die gerichtlichen – also die vom Gericht erstellten – Dokumente beschränkt (§ 191a Abs. 1 Satz 1 GVG); sie umfasst vielmehr auch die von den Parteien zur Akte gereichten Dokumente (§ 191a Abs. 2 GVG) und erstreckt sich damit auf sämtliche Dokumente des gerichtlichen Verfahrens, die der blinden oder sehbehinderten Person zuzustellen oder formlos bekanntzugeben sind (vgl. § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 ZMV).
Der blinde Beklagte kann ferner grundsätzlich verlangen, dass das Landgericht ihm die Prozessunterlagen nicht nur in Klarschrift, sondern auch in Blindenschrift zugänglich macht. Die berechtigte Person hat nach § 6 Satz 1 ZMV ein Wahlrecht zwischen den in § 3 ZMV genannten Formen der Zugänglichmachung, zu denen nach § 3 Abs. 1 und 2 Satz 1 ZMV die schriftliche Zugänglichmachung in Form von Blindenschrift gehört1. Die nach § 1 Abs. 3 ZMV verpflichtete Stelle – im gerichtlichen Verfahren also das Gericht – hat die Zugänglichmachung gemäß § 6 Satz 2 ZMV in der von der berechtigten Person gewählten Form auszuführen.
Das Landgericht hat jedoch ohne Rechtsfehler angenommen, dass es nicht erforderlich ist, dem blinden Beklagten im Berufungsverfahren des vorliegenden Rechtsstreits alle Prozessunterlagen auch in Blindenschrift zugänglich zu machen. Dessen bedarf es nicht, weil der blinde Beklagte durch einen Rechtsanwalt vertreten wird und der Streitstoff nach den Feststellungen des Landgerichts so übersichtlich ist, dass er dem Beklagten durch seinen Rechtsanwalt grundsätzlich gut vermittelbar ist.
Die Bestimmung des § 4 Abs. 1 ZMV regelt aufgrund von § 191a Abs. 2 GVG – entgegen der Ansicht des Landgerichts – nicht nur hinsichtlich der von den Parteien zur Akte gereichten Dokumente, sondern auch bezüglich der vom Gericht erstellten Dokumente, unter welchen Voraussetzungen sie einer blinden oder sehbehinderten Person zugänglich zu machen sind. Danach besteht der Anspruch auf Zugänglichmachung, soweit der berechtigten Person dadurch der Zugang zu den ihr zugestellten oder formlos mitgeteilten Dokumenten erleichtert und sie in die Lage versetzt wird, eigene Rechte im Verfahren wahrzunehmen.
Nach der amtlichen Begründung zum Entwurf der Zugänglichmachungsverordnung2 ist diese Vorschrift im Interesse der behinderten Personen weit auszulegen und wird der Anspruch auf Zugänglichmachung insbesondere auch nicht durch eine rechtswirksame Vertretung, sei es durch einen Prozessbevollmächtigten, einen Verteidiger, einen Beistand oder einen Betreuer, ausgeschlossen. Bei einer anwaltlichen Vertretung der berechtigten Person kann ein Anspruch auf Zugänglichmachung von Dokumenten jedoch ausgeschlossen sein, soweit gewährleistet ist, dass der anwaltliche Vertreter der berechtigten Person die in den Dokumenten enthaltenen Informationen so zu vermitteln vermag, dass eine zusätzliche Übermittlung der Dokumente durch das Gericht in einer für die berechtigte Person wahrnehmbaren Form zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren nicht erforderlich ist3. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist diese Voraussetzung im Streitfall erfüllt; der Streitstoff ist so übersichtlich, dass er dem blinden Beklagten durch seinen Rechtsanwalt grundsätzlich gut vermittelbar ist. Unter diesen Umständen ist, wie das Landgericht mit Recht angenommen hat, ein Zugänglichmachen der Prozessunterlagen des Berufungsverfahrens auch in einer für den blinden Beklagten wahrnehmbaren Form grundsätzlich nicht erforderlich.
Die Rechtsbeschwerde rügt ohne Erfolg, der sehbehinderten Person werde damit im Fall ihrer – gegebenenfalls gesetzlich vorgeschriebenen – Vertretung durch einen Anwalt jede Möglichkeit einer selbstbestimmten Verfahrensführung genommen. Die Zugänglichmachung der Dokumente soll der berechtigten Person die Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren und nicht die Kontrolle der Tätigkeit ihres Rechtsanwalts ermöglichen. Auch eine nicht sehbehinderte und nicht rechtskundige Person muss im Falle ihrer Vertretung durch einen Rechtsanwalt darauf vertrauen, dass dieser ihre Rechte und Interessen im Verfahren ordnungsgemäß wahrnimmt.
Der berechtigten Person wird die Wahrnehmung ihrer Interessen auch dann nicht in unzumutbarer Weise erschwert, wenn sich die Komplexität eines Rechtsstreits erst im Laufe des Verfahrens ergeben sollte. In einem solchen Fall sind der sehbehinderten Person die Dokumente auch nachträglich in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich zu machen, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Soweit sich daraus, wie die Rechtsbeschwerde geltend macht, Verfahrensverzögerungen ergeben, weil der Betroffene nach dem Selbststudium der Gerichtsdokumente noch ergänzenden Vortrag für erforderlich hält, ist dies hinzunehmen.
Die sehbehinderte Person kann allerdings auch bei einem durch einen Rechtsanwalt an sich gut vermittelbaren Streitstoff ausnahmsweise Anspruch auf Zugänglichmachung der Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form haben, wenn sie aufgrund ihrer individuellen Einsichtsfähigkeit nicht dazu in der Lage ist, den Sinngehalt der Dokumente bei einer nur mündlichen Vermittlung durch den anwaltlichen Vertreter zu erfassen. Im Streitfall ist jedoch weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der blinde Beklagte solche Verständnisschwierigkeiten hat.
Die Rechtsbeschwerde macht vergeblich geltend, es gehöre nicht zu den Aufgaben eines Anwalts, seinen Mandanten die Wahrnehmung von Gerichtsdokumenten zu ermöglichen und Schriftsätze vorzulesen. Zu den Aufgaben eines Rechtsanwalts kann es durchaus gehören, einem sehbehinderten Mandanten den wesentlichen Inhalt der Dokumente des Verfahrens zu vermitteln. Es ist nicht ersichtlich, dass eine sachgerechte rechtliche Bearbeitung der Angelegenheit dadurch deutlich erschwert wird.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10. Januar 2013 – I ZB 70/12
- zur Einschränkung des Wahlrechts durch die Verpflichtung der berechtigten Person nach § 5 Satz 1 ZMV, bei der Wahrnehmung ihres Anspruchs auf Zugänglichmachung im Rahmen ihrer individuellen Fähigkeiten und ihrer technischen Möglichkeiten mitzuwirken vgl. Zöller/Lückemann, ZPO, 29. Aufl., § 191a GVG Rn. 2[↩]
- BR-Drucks. 915/06, S. 10[↩]
- vgl. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/9266, S. 41; Beschluss des Bundesrats, BR-Drucks. 915/06 [Beschluss], S. 2; Kissel/Mayer, GVG, 7. Aufl., § 191a Rn. 9; M. Jacobs in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 191a GVG Rn. 6; MünchKomm-.ZPO/Zimmermann, 3. Aufl., § 191a GVG Rn. 6; Zöller/Lückemann aaO § 191a GVG Rn. 2; Wickern in LöweRosenberg, StPO, 26. Aufl., § 191a GVG Rn. 5; Diemer in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 191a GVG Rn. 2; MeyerGoßner, StPO, 55. Aufl., § 191a GVG Rn. 1[↩]