Ein im Prozessvergleich nicht enthaltenes Widerrufsrecht kann von den Parteien nachträglich nur wirksam vereinbart werden, wenn die für den Prozessvergleich geltenden Förmlichkeiten eingehalten werden und die prozessbeendende Wirkung des Vergleichs noch nicht eingetreten ist.

Der Prozessvergleich hat eine rechtliche Doppelnatur. Er ist zum einen Prozesshandlung, durch die der Rechtsstreit beendet wird und deren Wirksamkeit sich nach verfahrensrechtlichen Grundsätzen bestimmt. Dazu ist er ein privates Rechtsgeschäft, für das die Vorschriften des materiellen Rechts gelten und mit dem die Parteien Ansprüche und Verbindlichkeiten regeln. Prozesshandlung und privates Rechtsgeschäft stehen nicht getrennt nebeneinander. Vielmehr sind die prozessualen Wirkungen und die materiellrechtlichen Vereinbarungen voneinander abhängig. Der Prozessvergleich ist nur wirksam, wenn sowohl die materiellrechtlichen Voraussetzungen für einen Vergleich als auch die prozessualen Anforderungen erfüllt sind, die an eine wirksame Prozesshandlung zu stellen sind. Fehlt es an einer dieser Voraussetzungen, liegt ein wirksamer Prozessvergleich nicht vor; die prozessbeendigende Wirkung tritt nicht ein [1].
Zu den prozessualen Voraussetzungen eines wirksamen Prozessvergleichs gehört, dass er vom Sonderfall des § 278 Abs. 6 ZPO abgesehen in gerichtlicher Verhandlung erklärt; und vom Gericht in das Protokoll oder eine Anlage dazu aufgenommen wird (§ 160 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 5 ZPO). Das Protokoll muss den Vertragsschließenden vorgelesen, zur Durchsicht vorgelegt oder aus einer vorläufigen Aufzeichnung vorgelesen oder vorgespielt und von ihnen genehmigt werden (§ 162 Abs. 1 ZPO) sowie vom Vorsitzenden; und vom Urkundsbeamten unterschrieben werden (§ 163 ZPO). Nur der auf diese Weise ordnungsgemäß beurkundete Vergleich ist ein wirksamer Vergleich, der das Verfahren beendet [2]. Ein Verzicht der Parteien auf die Beachtung der Formvorschriften ist unwirksam [3].
Prozesshandlungen können im Allgemeinen nicht unter eine Bedingung gestellt werden. Es ist jedoch anerkannt, dass im Prozessvergleich zugunsten einer oder beider Parteien ein Widerrufsvorbehalt vereinbart werden kann. Es handelt sich dabei in der Regel um eine aufschiebende Bedingung [4]. Der Prozessvergleich wird erst wirksam, wenn von dem Widerrufsrecht kein Gebrauch gemacht worden ist; dann erst endet die Rechtshängigkeit.
Auch nach dem Abschluss eines Prozessvergleichs können die Parteien durch einen Abänderungs- oder Aufhebungsvertrag die materiellrechtlichen Wirkungen des Vergleichs ändern oder beseitigen. Allein dadurch entfällt aber nicht die prozessbeendende Wirkung des Vergleichs. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann eine nachträglich außerhalb des beendeten Rechtsstreits getroffene Vereinbarung der Parteien die verfahrensrechtliche Wirkung des Prozessvergleichs nicht beseitigen und die Sache nicht von Neuem rechtshängig machen, weil andernfalls der Rechtsunsicherheit und dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet wäre [5]. Das Bundessozialgericht [6] und das Bundesverwaltungsgericht [7] hatten diese Ansicht schon zuvor vertreten. Das Bundesarbeitsgericht [8] hat sich dagegen auf den Standpunkt gestellt, in der Arbeitsgerichtsbarkeit beseitige die Aufhebung eines Prozessvergleichs durch die Parteien wegen der Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens, insbesondere wegen des in § 9 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG normierten Beschleunigungsgrundsatzes, auch dessen prozessbeendende Wirkung. Der Bundesgerichtshof sieht keinen Anlass, von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abzuweichen. Deshalb kann, wenn ein Rechtsstreit durch einen wirksamen Prozessvergleich bereits beendet ist, sei es weil kein Widerrufsrecht vorbehalten wurde oder weil von einem einseitigen Widerrufsvorbehalt kein Gebrauch gemacht wurde, die prozessbeendende Wirkung nicht dadurch wieder beseitigt werden, dass die Parteien nunmehr ein (weiteres) Widerrufsrecht vereinbaren.
Im Streitfall haben die Parteien allerdings die im Prozessvergleich vereinbarte Regelung nicht nach, sondern noch vor dem Wirksamwerden des Vergleichs und damit vor der Beendigung der Rechtshängigkeit insoweit verändert, als sie der Beklagten ein eigenes Widerrufsrecht einräumten. Dies rechtfertigt jedoch keine andere Beurteilung.
Allerdings entspricht es seit langem der gerichtlichen Praxis und der in der veröffentlichten Rechtsprechung und im Schrifttum ganz überwiegend vertretenen Meinung, dass die Parteien eine im Prozessvergleich vereinbarte Widerrufsfrist ohne gerichtliche Protokollierung wirksam verlängern können [9]. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass bei einer Versäumung der Widerrufsfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht komme, weil es sich um eine vertraglich vereinbarte Frist handle, die nur von den Parteien verlängert werden könne [10]. Einer Mitwirkung des Gerichts bedarf es hierbei nicht. Dieser Auffassung tritt der Bundesgerichtshof bei. Für sie spricht auch die praktische Erwägung, dass eine Mitwirkung des Gerichts oft nicht rechtzeitig erreicht werden könnte, was vielfach einen vorsorglichen, bei ausreichender Überlegungszeit vermeidbaren Widerruf des Vergleichs zur Folge hätte.
Die bloße Verlängerung der Frist, innerhalb der ein formwirksam im Prozessvergleich vereinbartes Widerrufsrecht ausgeübt werden kann, ist aber mit der erstmaligen Vereinbarung eines Widerrufsrechts und damit einer (zusätzlichen) Bedingung der Wirksamkeit außerhalb des Prozessvergleichs nicht vergleichbar. Die förmlichen Anforderungen an den Abschluss eines wirksamen Prozessvergleichs, insbesondere die gesetzlich vorgeschriebene Beurkundung durch Protokollierung, dienen vornehmlich der Rechtssicherheit. Sie sollen nach Möglichkeit verhindern, dass über den Inhalt, aber auch über das wirksame Zustandekommen und damit über die prozessualen Folgen Prozessbeendigung und Vollstreckbarkeit (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) Streit entsteht. Dieses Ziel wäre gefährdet, wenn man den Parteien gestattete, einen formgültig geschlossenen Prozessvergleich nachträglich von zusätzlichen Wirksamkeitserfordernissen abhängig zu machen, ohne dabei die für einen Prozessvergleich geltenden Förmlichkeiten einzuhalten. Ein solches Wirksamkeitserfordernis ist auch ein im Prozessvergleich noch nicht enthaltener Widerrufsvorbehalt, der das Wirksamwerden des Vergleichs unter die aufschiebende Bedingung der Nichtausübung des Widerrufs stellt. Den Eintritt der prozessualen Folgen des Prozessvergleichs hindert eine solche Vereinbarung nur, wenn die für den Prozessvergleich selbst geltenden förmlichen Anforderungen eingehalten werden. Geschieht dies nicht, muss der Inhalt der Vereinbarung im Wege der einschlägigen Rechtsbehelfe geltend gemacht werden.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 19. April 2018 – IX ZR 222/17
- BGH, Urteil vom 14.07.2015 – VI ZR 326/14, BGHZ 206, 219 Rn. 12 mwN[↩]
- BGH, Beschluss vom 05.10.1954 – V BLw 25/54, BGHZ 14, 381, 398; Urteil vom 10.03.1955 – II ZR 201/53, BGHZ 16, 388, 390; Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 794 Rn. 29[↩]
- Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl., § 130 Rn. 10; Wieczorek/Schütze/Paulus, ZPO, 4. Aufl., § 794 Rn. 30a[↩]
- BGH, Urteil vom 27.10.1983 – IX ZR 68/83, BGHZ 88, 364, 367[↩]
- BGH, Urteil vom 15.04.1964 Ib ZR 201/62, BGHZ 41, 310, 312 f; vom 19.05.1982 IVb ZR 705/80, NJW 1982, 2072, 2073[↩]
- BSG, NJW 1963, 2292[↩]
- BVerwG, DÖV 1962, 423, 424[↩]
- BAG, NJW 1983, 2212[↩]
- OLG Hamm, FamRZ 1988, 535 und BauR 2001, 833; OLG Karlsruhe, MDR 2005, 1368; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 23. Aufl., § 224 Rn. 3; Zöller/Geimer, ZPO, 32. Aufl., § 794 Rn. 10c; Musielak/Voit/Lackmann, ZPO, 14. Aufl., § 794 Rn. 14; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl., § 130 Rn. 45; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 38. Aufl., § 224 Rn. 1; Schneider, MDR 1999, 595, 596 f; aA VG Hamburg, MDR 1982, 962; LG Bonn, MDR 1997, 783; einschränkend MünchKomm-ZPO/Wolfsteiner, 5. Aufl., § 794 Rn. 63; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl., Anh. § 307 Rn. 46[↩]
- BGH, Urteil vom 15.11.1973 – VII ZR 56/73, BGHZ 61, 394, 398[↩]
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