Richter begründet Regressanspruch mit eigenen Trinkversuchen

Verursacht ein Versicherungsnehmer einen Verkehrsunfall unter Alkoholeinfluss und liegt zum Unfallzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von mehr als 1,25 Promille vor, kann die KFZ-Haftpflichtversicherung den Versicherungsnehmer als KFZ-Führer wegen einer Obliegenheitsverletzung in Regress nehmen. Der über der Grenze zur absoluten Fahruntauglichkeit liegende Wert begründet bei einem alkoholgewohnten Kraftfahrer die Annahme von vorsätzlichem Handeln in Bezug auf die Alkoholisierung.

Richter begründet Regressanspruch mit eigenen Trinkversuchen

Gegenstand der Klage beim Amtsgericht Nürtingen ist ein Regress, den die Klägerin beim Beklagten vornimmt, unter Berufung darauf, dass der Beklagte zum Unfallzeitpunkt einen Blutalkoholkonzentrationsgehalt von 1,25 Promille gehabt habe. Die Klägerin geht davon aus, dass mit dem genannten Promillegehalt der Beklagte fahruntüchtig war.

Nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen liegt in dem hier entschiedenen Fall eine vorsätzliche Verletzung einer Obliegenheit vor. Die KFZ-Haftpflichtversicherung kann Regress nehmen.

Es steht fest, dass zwar der Fahrbahnwechsel des LKW MAN mit Sicherheit adäquat kausal für den späteren Zusammenstoß zwischen dem Fahrzeug Golf und dem Fahrzeug Nissan war, andererseits steht ebenfalls fest, dass der nachfolgende PKW Nissan (gesteuert vom Beklagten) den motiviert vollbremsenden PKW Golf massiv am Heck beschädigt hat, samt Folgeschäden für die Insassen und der Heckschaden unmittelbar auf das Auffahren des PKW Nissan auf den PKW Golf zurückzuführen ist. Wie sich aus den Einlassungen des Beklagten ergibt, hat er beim Hinterherfahren hinter dem Fahrzeug Golf mit einer Geschwindigkeit zwischen 90 und 100 km/h lediglich einen Abstand von einer Fahrzeuglänge (ca. 5 m) eingehalten.

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Dass dieses Verhalten, nämlich Mißachtung der Einhaltung des ausreichenden Sicherheitsabstandes gem. § 4 Abs.1 StVO kausal für das schädigende Ereignis ist, liegt auf der Hand und braucht nicht näher begründet zu werden. Auch ein nicht alkoholisierter Kraftfahrer, der erst beim Aufleuchten der Bremsleuchten des Vordermannes reagiert ist nicht mehr in der Lage, bei einer Vollbremsung des Vordermanns und einer Ausgangsgeschwindigkeit zwischen 90 und 100 km/h sein Fahrzeug ohne Anstoß zum Halten zu bringen. Allein die Wahrnehmungs- und Reaktionszeit auch eines nüchternen Fahrers macht dies unmöglich.

Beim Beklagten kommt allerdings hinzu, dass er nach eigenen Angaben mit Trinkbeginn 10.30 Uhr vor dem Unfallgeschehen, das sich um 13.45 Uhr ereignete, bis 13.00 Uhr mindestens 1 1/2 Liter Bier und drei Schnäpse zu je 2 cl zu sich genommen hat. Das Amtsgericht Nürtingen bezweifelt allerdings, ob diese Angabe der Menge nach zutreffend ist, nachdem die Blutentnahme von 16.17 Uhr eine nicht zurückgerechnete Blutalkoholkonzentration von 1,25 Promille ergeben hat, so dass zur Tatzeit der Blutalkoholkonzentrationsgehalt mutmaßlich 0,1 bis 0,2 Promille höher war. Dies kann allerdings dahingestellt bleiben. Objektiverweise war der Beklagte mit dem vorangegangenen Alkoholgenuss absolut fahruntüchtig.

Aus eigenen Trinkversuchen des Richters mit dem Versuch, sich an einen Blutalkoholgehalt von 1,0 Promille heranzutrinken, weiß der Richter, dass jeder erwachsene Mensch, der nicht alkoholkrank ist, den Genuss von Alkohol, den er in diesen Mengen in geselligem Beisammensein zu sich nimmt verspürt und auch die Beeinträchtigungen, die der Alkoholgenuss vermittelt, wahrnimmt.

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Bei dem Beklagten kommt hinzu, dass er bei der Unfallfahrt auf dem Weg zur Arbeit war und am Arbeitsplatz, der Beklagte ist Flugzeugabfertiger von Beruf, absolutes Alkoholverbot besteht. Der Beklagte wußte also, dass er nach Trinkende eine Fahrt zu unternehmen hat, dass er alkoholisiert ist und hat diese Fahrt trotzdem unternommen. Bei der genossenen Menge Alkohol ist das Gericht im Rahmen von § 287 ZPO davon überzeugt, dass die Beeinträchtigung dem Beklagten auch nicht verborgen geblieben sein konnte. Eines diesbezüglichen Sachverständigengutachtens bedurfte es nicht.

Soweit sich der Beklagte darauf beruft, dass die herbeigerufenen Polizeibeamten, die ihm um 14.33 Uhr die Atemalkoholkonzentration abnahmen bei ihm keine alkoholische Beeinträchtigung feststellen konnten, ist dies insoweit unzutreffend, als natürlich der Alkoholgeruch, der vom Beklagten ausging, die Polizei veranlasste, den Alkotest zu machen. Soweit sich der Beklagte weiter darauf beruft, dass der die Blutentnahme um 16.15 Uhr vornehmende Arzt den äußeren Eindruck des Beklagten dahin umschrieben hat, dass er keine äußeren Anzeichen feststellen konnte, wonach der Beklagte merkbar alkoholisiert war, spricht dies dafür, dass der Beklagte vermutlich mehrjährig Alkoholabusus getrieben hat und sich bei ihm ein Gewöhnungeffekt eingestellt hat.

Das Gericht hält nun dafür, dass der Alkoholiker sich zumindest seines Alkoholgenusses bewusst ist und sich auch bewusst ist, welche abstrakten Gefahren hiervon ausgehen. Mag sich der Alkoholiker auch aufgrund vielfältiger Alkoholfahrten, die folgenlos blieben, sicher fühlen, so weiß er doch aufgrund eigener Erfahrung und des ihm abstrakt ständig vermittelten Verbotes alkoholisiert zu fahren, dass seine Wahrnehmungsfähigkeit und seine Reaktionsfähigkeit durch den Alkoholgenuss herabgesetzt sind. Dasselbe gilt auch für die allgemeine Kritikfähigkeit. Im konkreten Fall hat es sich dahin ausgewirkt, dass der Beklagte bei einer Geschwindigkeit zwischen 90 bis 100 km/h auf den vorausfahrenden PKW Golf auf einen Abstand von ca. 5 m nach eigenen Angaben aufgeschlossen hat, wobei es ihm als aufmerksamen Kraftfahrer hätte auffallen müssen, dass jedenfalls voraus sich eine kritische Situation anbahnte.

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Selbst wenn der Beklagte auch in nüchternem Zustand und andere Kraftfahrer in nüchternem Zustand das Abstandsgebot (halber Tacho) zum vorausfahrenden Verkehr nicht einhalten, hindert das nicht, einen derartigen Verstoß als alkoholbedingt zu qualifizieren. Ständige Unsitten und massive Verkehrsverstöße, die auch Nüchterne begehen (hier dichtes Auffahren bei hoher Geschwindigkeit) sind nicht aus diesem Grunde bereits ungeeignet, ein alkoholbedingtes Fehlverhalten anzuzeigen.

Gerade die vom Beklagtenvertreter aufgeführten Umstände zeigen, welche Kritiklosigkeit der Beklagte infolge des Alkoholgenusses an den Tag legte. Er fuhr das weitaus schwerere Kraftfahrzeug mit der selben oder einer leicht höheren Geschwindigkeit als das vorausfahrende Fahrzeug Golf, das, so das Vorbringen des Beklagtenvertreters, schlechtere Verzögerungswerte aufwies. Im Zusammenhang mit dem Dichtauffahren bis zu einer Fahrzeuglänge Abstand muss das Verhalten des Beklagten schon als abenteuerlich bezeichnet werden.

Die Wertung, ob das konkrete Fahrverhalten auf Alkoholkonsum zurückzuführen ist oder nicht ist nach Auffassung des Gerichts einem Sachverständigengutachten letztlich nicht zugänglich.

Der Verkehrsrowdy, der es darauf ankommen lässt, ob seine rücksichtslose Fahrweise zu einem Verkehrsunfall führt, dies aber in nüchternem Zustand macht, ist von der alkoholbedingten Fehlleistung in der konkreten Situation nicht zu unterscheiden. Der massiv alkoholisierte Kraftfahrer, der sich wie ein Verkehrsrowdy benimmt, muss sich nach Auffassung des Gerichts dieses rowdyhafte Verhalten als alkoholbedingt zurechnen lassen. Bei dem Verkehrsrowdy, der nicht alkoholisiert ist, käme eine Leistungsfreiheit des Versicherers gem. § 103 VVG in Betracht.

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Auch der Umstand, dass der Beklagte vom Amtsgericht Nürtingen im Strafverfahren 13 Cs 74 Js 88424/10 lediglich wegen einer fahrlässigen Trunkenheitsfahrt gem. § 316 StGB angeklagt und verurteilt wurde, führt nicht zu einem anderen Ergebnis.

Das Amtsgericht Nürtingen schließt sich in diesem Verfahren der Kritik an der diesbezüglichen Praxis an, wie sie im Kommentar Tröndle/Fischer1 formuliert ist. Danach hat sich im amtsgerichtlichen Massengeschäft der Verfahren wegen § 316 und § 315 c Abs. 1 Nr. 1 a StGB eine der Gerechtigkeit abträgliche Praxis herausgebildet, die sich zum „Nutzen“ aller Beteiligten vom Gesetz entfernt. Der Feststellung des Vorsatzes bei der Trunkenheitfahrt wird nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen in Strafverfahren aus Beschleunigungsgründen kaum eine Beachtung geschenkt.

Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass § 28 VVG in Absatz 2 Satz 1 die Leistungsfreiheit des Versicherers normiert, wenn der Versicherungsnehmer die Obliegenheit, hier die Meidung alkoholischer Getränke, die zur Fahruntauglichkeit führen, gem. § 2 b Abs. 1 e der AKB 2007, vorsätzlich verletzt hat.

Die Leistungsfreiheit tritt bei der vorsätzlichen Verletzung der Obliegenheit nur dann nicht ein, wenn sie für den Eintritt des Versicherungsfalles (hier des Unfallschadens) nicht ursächlich ist. Das bedeutet, dass auch die Beweislast für die Nichtursächlichkeit der Gesetzeswortlaut bei einer Trunkenheitsfahrt dem Versicherungsnehmer aufbürdet. Aus der Sicht des Amtsgerichts Nürtingen ist es nicht möglich, die Nichtursächlichkeit der konkreten Alkoholfahrt für den eingetretenen Schaden nachzuweisen. Dies mag anders sein, wenn etwa plötzlich ein Fußgänger vom Straßenrand dem Kraftfahrer, sei er nun alkoholisiert oder nicht, wenige Meter vor Erreichen der gleichen Höhe in die Fahrbahn tritt.

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Hier jedoch, wo es um komplexe Wahrnehmungsverhältnisse und Reaktionsverhältnisse geht und insbesondere um das Einhalten von geschwindigkeitsabhängigen Abständen steht für das Gericht fest, dass das Nichteinhalten des Abstandes alkoholbedingt für das Unfallgeschehen kausal war.

Nach allem war der von der Klägerin geltend gemachte Gesamtschuldnerausgleichsanspruch in Höhe von 5.000,00 EUR zuzusprechen, da die Leistungsfreiheit der Versicherung gegenüber dem Versicherungsnehmer im Verhältnis zu dem geschädigten Dritten nicht durchschlägt.

Amtsgericht Nürtingen, Urteil vom 10. Oktober 2011 – 11 C 1053/11

  1. Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, 54. Auflage, 2007, Randnr. 43 zu § 316 StGB[]