Beitragspflichten zu dem Sozialkassensystem der Bauwirtschaft – und die Verfassungsmäßigkeit des SokaSiG

Das Bundesarbeitsgericht hält es für verfassungsrechtlich unbedenklich, dass § 7 SokaSiG die Rechtsnormen der Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber erstreckt1. § 7 SokaSiG ist mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar2.

Beitragspflichten zu dem Sozialkassensystem der Bauwirtschaft – und die Verfassungsmäßigkeit des SokaSiG

Die Tarifautonomie wird nicht dadurch verletzt, dass mit dem SokaSiG eine weitere Grundlage zur Erstreckung der Verfahrenstarifverträge auf Außenseiter geschaffen wurde. Der Gesetzgeber darf aus formellen Gründen nichtige Allgemeinverbindlicherklärungen durch eine gesetzliche Regelung ersetzen. Er kann sich dabei insbesondere für eine andere Rechtsform als die in § 5 TVG geregelte Allgemeinverbindlicherklärung entscheiden3. Er ist dazu befugt, die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie durch gesetzliche Regelungen herzustellen und zu sichern. Er kann und muss ggf. auch bereits bestehende gesetzliche Rahmenbedingungen für das Handeln der Koalitionen ändern oder ergänzen, um dem Handeln der Koalitionen und insbesondere der Tarifautonomie Geltung zu verschaffen4.

Ein etwaiger Eingriff in die Tarifautonomie ist jedenfalls gerechtfertigt. Das SokaSiG verfolgt einen legitimen Zweck. Es dient dazu, den Fortbestand der Sozialkassenverfahren der Bauwirtschaft und damit die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie zu sichern, indem es die Anwendung der seit dem 1.01.2006 geltenden Verfahrenstarifverträge auf Nichtverbandsmitglieder ausdehnt. Darüber hinaus schafft es Bedingungen für einen fairen Wettbewerb. Das Gesetz ist geeignet, weil es jedenfalls förderlich ist, diese Ziele zu erreichen. Es ist auch erforderlich. Die vom Gesetzgeber angestellten Erwägungen sind von seinem Einschätzungsspielraum gedeckt. Schließlich sind die mit § 7 SokaSiG verbundenen Belastungen zumutbar. Die bezweckte Sicherung der Sozialkassenverfahren der Bauwirtschaft sowie die Herstellung von Bedingungen für einen fairen Wettbewerb stehen im allgemeinen Interesse und stellen einen gewichtigen Belang im Rahmen der durchzuführenden Abwägung dar. Demgegenüber wird die Tarifautonomie der vom SokaSiG erfassten Arbeitgeber und Verbände allenfalls geringfügig beeinträchtigt5.

§ 7 SokaSiG verstößt aus Sicht des Bundesarbeitsgerichts nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG. Das Bundesarbeitsgericht hat bereits entschieden, dass die aufgrund des SokaSiG bestehenden Pflichten, Beiträge und ggf. Verzugszinsen zu entrichten, den Schutzbereich der Eigentumsfreiheit unberührt lassen und etwaige Eingriffe jedenfalls gerechtfertigt wären6.

§ 7 SokaSiG „kassiert“ nicht unter Verstoß gegen Art.20 Abs. 2 Satz 2 GG entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung. Mit der gesetzlichen Erstreckungsanordnung sollte – letztlich mit Rücksicht auf die Forderungen der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit – statt anfechtbaren Rechts unanfechtbares Recht gesetzt werden. Dies hält das Bundesarbeitsgericht für verfassungsrechtlich unbedenklich7.

§ 7 SokaSiG verletzt nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art.20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Gesetzen nicht in unzulässiger Weise belastet zu werden8.

Der Arbeitgeber musste wie alle Betroffenen mit der nachträglichen – gesetzlichen – Bestätigung der Beitragspflicht aufgrund der Verfahrenstarifverträge rechnen. Ob der Sachverhalt einer der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten, nicht abschließend definierten Fallgruppen zugeordnet werden kann, ist nicht von Belang. Für die Frage, ob mit einer rückwirkenden Änderung der Rechtslage zu rechnen war, kommt es allein darauf an, ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war, ein Vertrauen der betroffenen Personengruppe auf ihren Fortbestand zu begründen9.

Bis zum 20.09.2016 bestand keine Grundlage für ein Vertrauen auf die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV 2015, auf den Anlage 26 zu § 7 Abs. 1 SokaSiG verweist10. Über die Wirksamkeit der AVE VTV 2016 war bei Inkrafttreten des SokaSiG noch nicht rechtskräftig entschieden. Schon deshalb konnte kein zu schützendes Vertrauen der tariffreien Arbeitgeber darauf entstanden sein, nicht von der Rechtsnormerstreckung erfasst zu werden. Die von einigen in Anspruch genommenen Arbeitgebern gehegten Zweifel waren keine geeignete Grundlage für die Bildung von Vertrauen dahin, dass auf der Annahme der fehlenden Normwirkung der Verfahrenstarifverträge beruhenden Dispositionen nicht nachträglich die Grundlage entzogen werden würde11.

Der Arbeitgeber beruft sich vergeblich darauf, die „Ersetzung“ der unwirksamen Allgemeinverbindlicherklärungen durch eine gesetzliche Regelung sei nicht vorhersehbar gewesen. Dem Gesetzgeber steht, wie bereits ausgeführt, die Wahl einer anderen Rechtsform als der in § 5 TVG geregelten Allgemeinverbindlicherklärung für die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Außenseiter frei. Die Rechtsform ändert nichts an Inhalt und Ergebnis der Erwägungen zu der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen12. Dass die Rechtsformen mit unterschiedlichen Rechtsschutzmöglichkeiten verbunden sind, führt zu keiner anderen Bewertung.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28. August 2019 – 10 AZR 555/18

  1. vgl. BAG 27.03.2019 – 10 AZR 512/17, Rn. 32 ff.; 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 42 ff., BAGE 164, 201[]
  2. BAG 8.05.2019 – 10 AZR 559/17, Rn. 30 ff.; 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 45 ff., BAGE 164, 201[]
  3. BVerfG 18.07.2000 – 1 BvR 948/00, zu II 2 der Gründe[]
  4. vgl. BVerfG 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16, Rn. 144, 147, BVerfGE 146, 71[]
  5. BAG 3.07.2019 – 10 AZR 499/17, Rn. 83[]
  6. BAG 3.07.2019 – 10 AZR 499/17, Rn. 86 ff.; 3.07.2019 – 10 AZR 498/17, Rn. 42; 27.03.2019 – 10 AZR 318/17, Rn. 54 ff. mwN[]
  7. BAG 3.07.2019 – 10 AZR 499/17, Rn. 95; 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 92 ff., BAGE 164, 201[]
  8. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 68 ff., BAGE 164, 201[]
  9. vgl. BVerfG 17.12 2013 – 1 BvL 5/08, Rn. 64, BVerfGE 135, 1; BAG 3.07.2019 – 10 AZR 499/17, Rn. 91; 8.05.2019 – 10 AZR 559/17, Rn. 47[]
  10. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 77 ff., BAGE 164, 201[]
  11. BAG 3.07.2019 – 10 AZR 499/17, Rn. 93; 8.05.2019 – 10 AZR 559/17, Rn. 49; 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 79 ff., aaO[]
  12. BAG 3.07.2019 – 10 AZR 499/17, Rn. 94; 8.05.2019 – 10 AZR 559/17, Rn. 50; 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 51, BAGE 164, 201[]

Bildnachweis:

  • SokaSiG: BGBl.