Effektiver Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Eilverfahren

Es stellt eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz dar, wenn im sozialgerichtlichen Eilverfahren eine nur unzureichende Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache trotz Berührung einer höchst strittigen Rechtsfrage erfolgt.

Effektiver Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Eilverfahren

Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes verlangt grundsätzlich die Möglichkeit eines Eilverfahrens, wenn ansonsten dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Rechte droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann1. Dies gilt gleichermaßen für Anfechtungs- wie für Vornahmesachen2. Hieraus ergeben sich Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz3. Hinsichtlich des fachgerichtlich begründeten Erfordernisses der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs bedeutet dies, dass die Anforderungen an dessen Vorliegen, gemessen an der drohenden Rechtsverletzung, nicht überspannt werden dürfen4.

Die Entscheidungen dürfen sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeit zu verhindern2. Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen5. Indessen dürfen sich die Gerichte, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, nur dann an den Erfolgs-aussichten der Hauptsache orientieren, wenn sie die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen können. Eine solche abschließende Prüfung kommt allerdings nur in Betracht, wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren möglich ist6. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist eine Folgenabwägung durchzuführen7.

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Auch wenn irreparable Grundrechtsverletzungen von erheblichem Gewicht drohen, ist das Gericht indessen nicht von vornherein daran gehindert, auch zu solchen Rechtsfragen eine „abschließende“ rechtliche Prüfung vorzunehmen, die schwierig und ungeklärt sind oder die im entscheidungserheblichen Zeitpunkt als hoch streitig eingestuft werden müssen. Das Gericht hat in solchen Fällen allerdings in den Blick zu nehmen, dass sich eine solche Prüfung im Eilverfahren auf die Möglichkeiten des Rechtsschutzsuchenden auswirkt, die Entscheidungsfindung im Hauptsacheverfahren und im Rahmen prozessrechtlich vorgesehener Rechtsmittelverfahren zu beeinflussen8. Daraus ergeben sich Anforderungen an die Begründungstiefe. Insbesondere kann eine „abschließende“ Prüfung eine – zumindest knappe – Auseinandersetzung mit dem Meinungsstand erfordern9.

Nach diesen Maßstäben verletzt der hier angegriffene Beschluss  des Hessischen Landessozialgerichts10 Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG. Vorliegend ist der Anspruch auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 1 GG betroffen, dessen Beeinträchtigung auch nachträglich bei einem erfolgreichen Abschluss des – möglicherweise noch längere Zeit in Anspruch nehmenden – Hauptsacheverfahrens nicht mehr ausgeglichen werden kann, weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht11. Angesichts des Gewichts einer solchen Grundrechtsbeeinträchtigung hätte das Landessozialgericht nur dann auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abstellen dürfen, wenn es die Sach- und Rechtslage abschließend geprüft hätte. Das ist nicht der Fall. Das Landessozialgericht hat auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abgestellt, ohne die dem Gewährleistungsgehalt des Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG hier entsprechende „abschließende“ Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache vorzunehmen. 

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Das Landessozialgericht hat entscheidungstragend verneint, dass dem Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a)) SGB II ein Aufenthaltsrecht des Antragstellers aus § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthaltsG (analog) entgegenstehe. Zur Begründung hat es auf seinen eigenen Beschluss vom 21.08.201912 verwiesen, in dem wiederum auf den nicht veröffentlichten Beschluss vom 28.06.201713 sowie auf den Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 22.05.201714 verwiesen wird. Mit diesen Verweisen konnte die für eine abschließende Entscheidung hier erforderliche Begründungstiefe nicht erreicht werden.

Ob § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthaltsG (analog) und Art. 18 Abs. 1 AEUV dem sorgeberechtigten Elternteil eines wegen der Begleitung des anderen Elternteils nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigten minderjährigen Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht vermitteln kann, ist in der Rechtsprechung und der Literatur sehr umstritten15. Das Landessozialgericht hätte für eine abschließende Prüfung dieser ungeklärten Rechtsfrage jedenfalls auf Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts eingehen müssen, die in den tragend in Bezug genommenen früheren Beschlüssen der Landessozialgerichte noch nicht hatten berücksichtigt werden können, weil sie vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangen sind. Das Bundesverfassungsgericht hat am 4.10.2019 einen Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss des auch hier betroffenen Senats des Landessozialgerichts vom 03.07.201816 aufgehoben. Hintergrund war bereits in diesem Verfahren, dass die auch dort relevante Frage nach der Anwendbarkeit von § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthaltsG und Art. 18 Abs. 1 AEUV eine ungeklärte und schwierige Rechtsfrage ist, in welcher auch die Wertungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu berücksichtigen sind17. Die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts konnte das Hessische Landessozialgericht in seinem Beschluss vom 21.08.2019 noch nicht kennen. Im jetzigen Verfahren hätte das Landessozialgericht die Wertungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK aber berücksichtigen müssen, um zu einer „abschließenden“ Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache gelangen zu können. Der bloße Verweis auf seinen insoweit unergiebigen Beschluss vom 21.08.2019, der wiederum auf ältere Entscheidungen verweist, genügt hierfür nicht. Das Gericht hätte die Konsequenzen der von ihm angedachten Lösung einer Rückkehr des Antragstellers in sein Heimatland und damit die Trennung von seiner Familie nunmehr – wenigstens knapp – im Lichte von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK würdigen müssen. Der bloße Verweis auf die Betreuung der gemeinsamen Kinder durch die Lebensgefährtin reicht hierfür nicht aus.

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Die Entscheidung des Landessozialgerichts beruht auf der unzureichenden Beachtung der sich aus Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG ergebenden Anforderungen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass das Landessozialgericht bei einer verfassungsrechtlich gebotenen Befassung mit dem Begehren des Antragstellers zu einem für diesen günstigeren Ergebnis gelangt wäre.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 932/20

  1. BVerfGE 126, 1 <27> vgl. auch BVerfGE 93, 1 <13>[]
  2. vgl. BVerfGE 126, 1 <27 f.>[][]
  3. vgl. BVerfGE 49, 220 <226> 77, 275 <284>[]
  4. BVerfG, Beschluss vom 14.03.2019 – 1 BvR 169/19, Rn. 14 m.w.N.; stRspr[]
  5. vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.03.2019 – 1 BvR 169/19, Rn. 15 m.w.N.; stRspr[]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.07.2016 – 1 BvR 1241/16 – , Rn. 11; Beschluss vom 20.11.2018 – 2 BvR 80/18, Rn. 8[]
  7. vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.07.2016 – 1 BvR 1241/16, Rn. 11; Beschluss vom 20.11.2018 –  2 BvR 80/18, Rn. 8; Beschluss vom 14.03.2019 – 1 BvR 169/19, Rn. 15 m.w.N.; stRspr[]
  8. vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.11.2018 – 2 BvR 80/18, Rn. 8; Beschluss vom 01.08.2019 – 2 BvR 1556/17, Rn. 11[]
  9. vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.11.2018 – 2 BvR 80/18, Rn. 11; Beschluss vom 01.08.2019 – 2 BvR 1556/17, Rn. 14[]
  10. Hess. LSG, Beschluss vom 20.02.2020 – L 7 AS 43/20 B ER[]
  11. vgl. BVerfGE 125, 175 <225>[]
  12. Hess. LSG, Beschluss vom 21.08.2019 – L 7 AS 285/19 B ER, Rn. 45[]
  13. Hess. LSG, Beschluss  vom 28.06.2017 – L 7 AS 140/17 B ER[]
  14. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.05.2017 – L 31 AS 1000/17 B ER[]
  15. siehe dazu nur die Nachweise in BVerfG, Beschluss vom 04.10.2019 – 1 BvR 1710/18, Rn. 12[]
  16. Hess. LSG, Beschluss 03.07.2018 – L 7 AS 274/18 B[]
  17. vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.10.2019 – 1 BvR 1710/18, Rn. 13[]
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