Nachträgliche Anschaffungskosten als Veräußerungsverlust – und die Änderung des Steuerbescheids

Der Änderung eines bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO wegen eines rückwirkenden Ereignisses steht nicht entgegen, dass der Sachverhalt, auf den sich das Ereignis auswirkt (hier: Veräußerung einer qualifizierten Beteiligung, Entstehung nachträglicher Anschaffungskosten) im Ausgangsbescheid nicht berücksichtigt war.

Nachträgliche Anschaffungskosten als Veräußerungsverlust – und die Änderung des Steuerbescheids

Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO ist ein Feststellungsbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Das Ereignis muss nachträglich eintreten, weil nur in diesem Fall die Notwendigkeit besteht, die Bestandskraft zu durchbrechen. Konnte das Ereignis bei Erlass des betreffenden Bescheids bereits berücksichtigt werden, greift die Vorschrift nicht ein1. Ob dem Ereignis eine rückwirkende steuerliche Bedeutung zukommt, bestimmt sich nach dem einschlägigen materiellen Recht2.

Nach § 17 Abs. 1 EStG gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch der Verlust aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften, wenn der Gesellschafter innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft qualifiziert beteiligt war und er die Beteiligung in seinem Privatvermögen hielt. Veräußerungsgewinn i.S. von § 17 Abs. 1 EStG ist gemäß Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten übersteigt. Veräußerungspreis im Sinne der genannten Vorschrift ist der Wert der Gegenleistung, die der Veräußerer durch Abschluss des dinglichen Veräußerungsgeschäfts am maßgebenden Stichtag erlangt. Anschaffungskosten sind nach § 255 Abs. 1 Satz 1 des Handelsgesetzbuchs (HGB) Aufwendungen, die geleistet werden, um einen Vermögensgegenstand zu erwerben. Dazu gehören nach § 255 Abs. 1 Satz 2 HGB auch die nachträglichen Anschaffungskosten. Zu den nachträglichen Anschaffungskosten einer Beteiligung zählen neben (verdeckten) Einlagen auch nachträgliche Aufwendungen auf die Beteiligung, wenn sie durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst sind und weder Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen noch Veräußerungs- oder Auflösungskosten sind. Zu in diesem Sinne funktionalem Eigenkapital werden Finanzierungshilfen oder Finanzierungsmaßnahmen, wenn der Gesellschafter der Gesellschaft in der Krise der Gesellschaft ein Darlehen gewährt (§ 32a Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung a.F.) und diese Finanzierungsmaßnahme eigenkapitalersetzenden Charakter hat3.

Wie der Bundesfinanzhof wiederholt entschieden hat, ist die Gewinnermittlung nach § 17 Abs. 2 EStG nicht nach dem Zuflussprinzip des § 11 EStG, sondern nach einer Stichtagsbewertung auf den Zeitpunkt der Entstehung des Gewinns oder Verlusts vorzunehmen4. Daran ändert nichts, dass nach Veräußerung einer Beteiligung noch Aufwendungen anfallen können, die nachträgliche Anschaffungskosten der Beteiligung i.S. des § 17 Abs. 2 Satz 1 EStG darstellen. Das kann, wie der Bundesfinanzhof bereits in seinem Urteil in BFHE 222, 464, BStBl II 2009, 227, unter II. 1.a entschieden hat, insoweit der Fall sein, als ein Kapitalgesellschafter der Gesellschaft ein eigenkapitalersetzendes Darlehen gegeben hat und mit diesem nach der Veräußerung oder Auflösung der Gesellschaft ausfällt5. Solche nachträglichen Anschaffungskosten sind bei der Ermittlung des Gewinns nach § 17 Abs. 2 Satz 1 EStG im Zeitpunkt der Veräußerung zu berücksichtigen. Es handelt sich dann um ein nachträgliches Ereignis, das die Höhe des Veräußerungs- oder Auflösungsgewinns beeinflusst und auf den Zeitpunkt der Veräußerung oder Auflösung zurückzubeziehen ist. Das Ereignis beeinflusst die Steuerschuld des Jahres der Veräußerung oder Auflösung und ist nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu berücksichtigen6.

Daran gemessen mangelt es hinsichtlich des unbesicherten Darlehensbetrags und der bis zum 28.12 2005 angefallenen und der Gesellschafterin bekannt gewordenen Rechtsverfolgungskosten an einem rückwirkenden Ereignis. Denn auf der Grundlage der vom Finanzgericht getroffenen und nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen war der Darlehensbetrag in Höhe der nicht besicherten Summe bereits im Jahr 2003 und damit bereits vor Erlass des erstmaligen Verlustfeststellungsbescheids uneinbringlich geworden. Gleiches gilt für die bis zum Erlass des Bescheides am 28.12 2005 angefallenen Rechtsanwalts- und Gerichtskosten. An einem rückwirkenden Ereignis fehlt es, wenn das Finanzamt erst nachträglich Kenntnis von einem bereits gegebenen Sachverhalt erlangt.

Das Finanzamt ist berechtigt und auch verpflichtet, im Änderungsbescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags auf den 31.12 2003 den erst nachträglich eingetretenen Darlehensausfall und die damit zusammenhängenden Aufwendungen als nachträgliche Anschaffungskosten zu berücksichtigen, sofern es sich um ein eigenkapitalersetzendes Darlehen gehandelt hat.

Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dahingehend, dass die Norm nur dann Anwendung finden soll, wenn der „Sachverhalt in seiner ursprünglichen Gestalt“ bereits steuerlich erfasst ist und eine Änderung eines Veräußerungsgewinns oder -verlusts nach § 17 EStG auf der Grundlage dieser Vorschrift demnach nur erfolgen kann, wenn ein Gewinn oder Verlust bereits in der Einkommensteuererklärung enthalten und nachfolgend im zu ändernden Ausgangsbescheid erfasst ist, lässt sich dem Wortlaut des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht entnehmen7.

Die gegenteilige Rechtsauffassung deckt sich auch nicht mit der bisherigen Rechtsprechung des BFH, die das Vorliegen nachträglicher Anschaffungskosten und demzufolge die Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO gerade nicht von der Berücksichtigung des Veräußerungsvorgangs im Ausgangsbescheid abhängig gemacht hat8. Der Rechtsprechung des BFH zu anderen Anwendungsfällen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO lässt sich eine derartige Einschränkung ebenfalls nicht entnehmen9. Vielmehr findet § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sogar dann Anwendung, wenn der Steuer- oder Feststellungsbescheid, in dem der Vorgang zu berücksichtigen ist, überhaupt noch nicht ergangen ist und das rückwirkende Ereignis beim erstmaligen Erlass des Steuer- oder Feststellungsbescheids zu berücksichtigen ist10.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 16. Juni 2015 – IX R 30/14

  1. ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. BFH, Urteil vom 25.02.2009 – IX R 95/07, BFH/NV 2009, 1393, m.w.N.[]
  2. ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. BFH, Urteile vom 28.10.2009 – IX R 17/09, BFHE 227, 349, BStBl II 2010, 539, unter II. 2.a; und vom 20.11.2012 – IX R 34/12, BFHE 240, 8, BStBl II 2013, 378, unter II. 1., jeweils m.w.N.[]
  3. ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Urteile vom 22.07.2008 – IX R 79/06, BFHE 222, 464, BStBl II 2009, 227, unter II. 1.b aa; und vom 07.12 2010 – IX R 16/10, BFH/NV 2011, 778, m.w.N.; und vom 20.08.2013 – IX R 43/12, BFH/NV 2013, 1783, unter II. 1. und II. 2.[]
  4. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 01.07.2003 – VIII R 71/02, BFH/NV 2003, 1398, unter 2.a; in BFHE 240, 8, BStBl II 2013, 378, unter II. 3.a; und vom 01.07.2014 – IX R 47/13, BFHE 246, 188, BStBl II 2014, 786, unter II. 1.a[]
  5. vgl. auch BFH, Urteil in BFH/NV 2003, 1398[]
  6. ständige Rechtsprechung, vgl. zuletzt BFH, Urteil in BFHE 246, 188, BStBl II 2014, 786, unter II. 1.c; vgl. auch H 17 (5) „Rückbeziehung von Anschaffungskosten“ des Amtlichen Einkommensteuer-Handbuchs 2014; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 175 AO Rz 34[]
  7. vgl. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 175 AO Rz 234[]
  8. vgl. BFH, Urteil in BFHE 222, 464, BStBl II 2009, 227, unter II. 1.[]
  9. vgl. BFH, Urteile vom 12.07.1989 – X R 8/84, BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957; und vom 28.07.2005 – III R 48/03, BFHE 210, 393, BStBl II 2005, 865, unter II. 2.a.; vgl. auch den Überblick bei Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 175 AO Rz 33 ff.[]
  10. vgl. BFH, Urteil vom 19.08.2003 – VIII R 67/02, BFHE 203, 309, BStBl II 2004, 107, unter 1.a, m.w.N.[]