Eine Personenhandelsgesellschaft mit einer „kapitalistischen Struktur“ kann Organgesellschaft sein, wenn neben dem Organträger Gesellschafter der Personenhandelsgesellschaft auch Personen sind, die in das Unternehmen des Organträgers nicht finanziell eingegliedert sind1. Macht eine KG geltend, dass sie aufgrund geänderter BFH-Rechtsprechung Organgesellschaft i.S. von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG sei, setzt die Aufhebung einer gegenüber der KG ergangenen Steuerfestsetzung voraus, dass der Organträger zur Vermeidung eines widersprüchlichen Verhaltens einen Antrag auf Änderung der für ihn vorliegenden Steuerfestsetzung stellt.

Organträger und Organgesellschaft können nicht beanspruchen, im selben Besteuerungszeitraum für den einen Unternehmensteil (z.B. Organgesellschaft) auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung und für den anderen Unternehmensteil (z.B. Organträger)) nach der geänderten Rechtsprechung besteuert zu werden2.
Mit diesem Urteil setzte jetzt der Bundesfinanzhof eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union3 um. Im vorliegenden Fall führte dies zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils4 und Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht Baden-Württemberg. Das Finanzgericht habe zwar zutreffend entschieden, dass im Streitfall aufgrund geänderter BFH-Rechtsprechung eine Organschaft nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) vorliegt. Es hat aber nicht hinreichend berücksichtigt, dass eine Änderung zugunsten der KG im Hinblick auf diese Rechtsprechungsänderung voraussetzt, dass der Organträger für seine Steuerfestsetzung einen Änderungsantrag stellt. Hierzu sind in einem zweiten Rechtsgang weitere Feststellungen zu treffen.
In dem zugrunde liegenden Fall hat der Insolvenzverwalter einer A-GmbH & Co. KG geklagt. Gesellschafter der KG waren im Streitjahr 2010 die A-Verwaltungs-GmbH als Komplementärin ohne eigenen Kapitalanteil (Komplementär-GmbH) sowie einen Mehrheitskommanditisten mit einem Kapitalanteil von 80 % und einen Minderheitskommanditisten mit 20 %. Bei der KG bedurften Gesellschafterbeschlüsse nach § 7 Abs. 2 des notariell beurkundeten Gesellschaftsvertrags vom 31.01.2003 grundsätzlich der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Gesellschafter der Komplementär-GmbH waren im Streitjahr ebenfalls der Mehrheitskommanditist zu 80 % und der Minderheitskommanditist zu 20 %. Einziger Geschäftsführer war der Mehrheitskommanditist. Dieser verpachtete der KG mit Pachtvertrag vom 01.02.2008 das Betriebsgrundstück und diverse Maschinen, die wesentliche Betriebsgrundlagen der KG waren. Die KG gab am 26.08.2011 eine nicht zustimmungsbedürftige Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr ab mit einer Umsatzsteuerzahllast, die vollständig bezahlt wurde. Der Mehrheitskommanditist erklärte seine entgeltlichen Umsätze aus der Verpachtung der Betriebsgrundlagen ebenfalls mit einer Umsatzsteuererklärung 2010 vom 26.08.2011 .Das Amtsgericht eröffnete mit Beschluss vom 31.12.2011 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der KG. Aufgrund der für das Streitjahr vollständig entrichteten Umsatzsteuer waren keine Steuerforderungen zur Tabelle anzumelden. Über das Vermögen des Mehrheitskommanditisten wurde am 16.11.2015 ebenfalls das Insolvenzverfahren eröffnet. Die KG gab am 29.12.2015 eine berichtigte Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr ab, in der sie keine Umsätze mehr erklärte. Der Kläger beantragte mit Schreiben vom gleichen Tag unter Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union „Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt“ vom 16.07.20155, das Bestehen einer Organschaft zwischen dem Mehrheitskommanditist als Organträger und der KG als Organgesellschaft festzustellen. Das Finanzamt lehnte dies ab, da eine Personengesellschaft nicht in eine umsatzsteuerliche Organschaft einbezogen werden könne. Den dagegen eingelegten Einspruch wies das Finanzamt zurück, da nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 02.12.20156 und dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 26.05.20177 sowie nach Abschn.02.8 Abs. 5a des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses eine Personengesellschaft nur dann in das Unternehmen eines Organträgers eingegliedert sein könne, wenn Gesellschafter der Personengesellschaft neben dem Organträger nur Personen seien, die in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert seien. Hieran fehle es, da neben dem Mehrheitskommanditist (als Organträger) auch der Minderheitskommanditist an der KG beteiligt sei. Zudem stehe der Annahme einer Organschaft der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Der Kläger habe sich erst im Dezember 2015 auf eine Organschaft berufen und dem Finanzamt damit die Möglichkeit genommen, vor Ablauf der regulären Festsetzungsfrist zum 31.12.2015 den Mehrheitskommanditisten zum Verfahren hinzuzuziehen. Die Steuerforderung könne beim vermeintlichen Organträger nicht mehr realisiert werden.
Demgegenüber gab das Finanzgericht Baden-Württemberg4 der Klage statt. Alle Eingliederungsvoraussetzungen lägen vor. Zudem sei unter Berücksichtigung von Art. 11 der MwStSystRL 2006/112/EG und der Urteile des Bundesfinanzhofs vom 19.01.2016; und vom 01.06.20168 die Organschaft mit einer KG als Organgesellschaft entgegen dem BFH, Urteil in BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547 und der dem entsprechenden Verwaltungsauffassung auch dann zu bejahen, wenn neben dem Organträger weitere natürliche Personen Gesellschafter der KG seien. Personengesellschaften dürften nur dann von der Organschaft ausgeschlossen werden, wenn dies zur Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Vermeidung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich und geeignet sei, wofür im Streitfall keinerlei Anhaltspunkte bestünden. Der Kläger habe auch nicht gegen Treu und Glauben verstoßen. Das Verlangen nach einer gesetzeskonformen Besteuerung sei keine unzulässige Rechtsausübung. Die KG habe keine Ursache gesetzt, aufgrund der das Finanzamt bei objektiver Beurteilung darauf habe vertrauen dürfen, nicht in Anspruch genommen zu werden. Hiergegen wendet sich das Finanzamt mit der Revision. Während des Revisionsverfahrens hat der Bundesfinanzhof das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache „Finanzamt für Körperschaften Berlin“ ausgesetzt9. Diese Vorabentscheidung des Unionsgerichtshofs ist im April 2021 ergangen3. Nachdem der Bundesfinanzhof das Verfahren wieder aufgenommen hatte, hob er nun das finanzgerichtliche Urteil auf die Revision des Finanzamtes auf und verwies die Sache zurück an das Finanzgericht Baden-Württemberg:
Das Finanzgericht hat im Ausgangspunkt zutreffend entschieden, dass die KG eine Organgesellschaft in einer Organschaft nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG sein kann.
Nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG wird die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit nicht selbständig ausgeübt, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Unionsrechtliche Grundlage ist Art. 11 MwStSystRL. Danach kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln.
Im Streitfall war der Mehrheitskommanditist aufgrund der Verpachtung an die KG Unternehmer. Auch die KG übte eine unternehmerische Tätigkeit aus. Die KG war in das Unternehmen des Mehrheitskommanditisten finanziell eingegliedert, da der Mehrheitskommanditist über die Mehrheit der Stimmrechte bei der KG verfügte. Die wirtschaftliche Eingliederung ergab sich aus der Verpachtung von für das Unternehmen der KG wesentlichen Betriebsgegenständen durch den Mehrheitskommanditisten. Die organisatorische Eingliederung folgte daraus, dass der Mehrheitskommanditist einziger Geschäftsführer und Alleingesellschafter der Komplementär-GmbH war, die allein für die KG geschäftsführungs- und vertretungsbefugt war. Der Mehrheitskommanditist war damit entsprechend dem EuGH, Urteil „Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie“10 in der Lage, seinen Willen bei der Organgesellschaft durchzusetzen, so dass es ihm auch möglich war, die Umsätze des im Organkreis zusammengefassten Unternehmens ordnungsgemäß zu versteuern und den sich daraus nach § 18 UStG ergebenden Verpflichtungen auch im Hinblick auf die Umsatztätigkeit der Organgesellschaft nachzukommen.
Zwar handelt es sich bei der KG vorliegend um eine Personenhandelsgesellschaft mit einer „kapitalistischen Struktur“. Dies steht aber nach der durch die BFH, Urteile in BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547, in BFHE 252, 516, BStBl II 2017, 567 und in BFHE 254, 164, BStBl II 2017, 581 geänderten BFH-Rechtsprechung ihrer Stellung als Organgesellschaft nicht entgegen, wobei es nach den BFH, Urteilen in BFHE 252, 516, BStBl II 2017, 567 und in BFHE 254, 164, BStBl II 2017, 581 nicht darauf ankommt, ob Gesellschafter der KG neben dem Mehrheitskommanditisten nur Personen sind, die in dessen Unternehmen finanziell eingegliedert sind. Dies hat der EuGH mit seinem Urteil Finanzamt für Körperschaften Berlin11 bestätigt, dem sich der Bundesfinanzhof anschließt. Eine Personenhandelsgesellschaft mit einer „kapitalistischen Struktur“ kann daher Organgesellschaft sein, wenn neben dem Organträger Gesellschafter der Personenhandelsgesellschaft auch Personen sind, die in das Unternehmen des Organträgers nicht finanziell eingegliedert sind. Soweit der Bundesfinanzhof dies in seinem zuvor ergangenen Urteil in BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547 anders beurteilt hat, hält er daran nicht fest.
Das Urteil des Finanzgericht ist gleichwohl aufzuheben. Macht eine KG geltend, dass sie aufgrund geänderter BFH-Rechtsprechung Organgesellschaft i.S. von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG und damit nicht Steuerschuldnerin sei, setzt die Aufhebung einer gegenüber der KG ergangenen Steuerfestsetzung voraus, dass der Organträger zur Vermeidung eines widersprüchlichen Verhaltens bei der Anwendung von § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO einen Antrag auf Änderung der für ihn vorliegenden Steuerfestsetzung stellt.
Der Grundsatz von Treu und Glauben ist im Steuerrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz uneingeschränkt anerkannt. Er gebietet, dass im „Steuerrechtsverhältnis“ jeder Beteiligte auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich zu seinem eigenen früheren Verhalten nicht in Widerspruch setzt. Er bringt keine Steueransprüche und -schulden zum Entstehen oder Erlöschen, sondern kann allenfalls ein bestehendes konkretes Steuerrechtsverhältnis dahingehend modifizieren, dass eine Forderung nicht mehr geltend gemacht oder ein Recht nicht mehr ausgeübt werden kann12.
Der Grundsatz von Treu und Glauben ist auch bei der Anwendung von § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO zu berücksichtigen. Danach darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass sich wie vorliegend die Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofs des Bundes geändert hat, die bei der bisherigen Steuerfestsetzung (vorliegend aufgrund der Umsatzsteuererklärung 2010 des Mehrheitskommanditisten vom 26.08.2011) von der Finanzbehörde angewandt worden ist.
Dabei verstößt es gegen Treu und Glauben („venire contra factum proprium“), wenn der Steuerpflichtige aufgrund einer Rechtsprechungsänderung z.B. die Aufhebung eines ihn belastenden Bescheids fordert und erreicht und später geltend macht, er habe auf die Anwendung der früheren Rechtsprechung vertraut und sei nicht bereit, die für ihn negativen Folgen der Rechtsprechungsänderung hinzunehmen13. Hierzu hat der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 26.08.202114 in Bezug auf die Rechtsprechungsänderung durch das BFH-Urteil in BFHE 252, 516, BStBl II 2017, 56715 sowie das BFH-Urteil in BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547 entschieden, dass Organträger und Organgesellschaften nicht beanspruchen können, im selben Besteuerungszeitraum für den einen Unternehmensteil (z.B. Organgesellschaft) auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung und für den anderen Unternehmensteil (z.B. Organträger) nach der geänderten Rechtsprechung besteuert zu werden. Dies beruht darauf, dass das maßgebliche „Steuerrechtsverhältnis“ bei Anwendung von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG zum Organträger als Steuerschuldner und Steuerpflichtigen besteht und sich dabei entsprechend dieser Vorschrift auch auf die Organgesellschaft als Bestandteil dieses Steuerrechtsverhältnisses erstreckt. Dem kommt Vorrang gegenüber der vom Insolvenzverwalter als maßgeblich angesehenen zivilrechtlichen Betrachtung als eigenständige Rechtssubjekte zu.
Dementsprechend kann nicht zugleich beansprucht werden, dass einerseits die KG nach der geänderten BFH-Rechtsprechung als Organgesellschaft behandelt wird, während andererseits der Mehrheitskommanditist, der erst aufgrund der geänderten BFH-Rechtsprechung als Organträger anzusehen ist, Vertrauensschutz gemäß § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO in die frühere BFH-Rechtsprechung gewährt wird, nach der er nicht Organträger für die KG war. Daher ist unter Berücksichtigung des Bundesfinanzhofs, Urteils in BFHE 273, 364 dieser Widerstreit dahingehend aufzulösen, dass der Unternehmensteil der Organschaft, zu dessen Gunsten der Änderungsschutz nach § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO wirkt, diesen durch die Stellung eines Änderungsantrags entfallen lassen muss, um so ein widersprüchliches Verhalten in Bezug auf die Besteuerung der Umsätze des anderen Unternehmensteils der Organschaft zu vermeiden.
Dieses Antragserfordernis wirkt in der Weise zu Lasten der KG, die als Organgesellschaft mit dem Mehrheitskommanditisten gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG verbunden ist, dass eine Aufhebung der für sie vorliegenden Steuerfestsetzung voraussetzt, dass aufgrund eines vom Mehrheitskommanditisten zu stellenden Antrags eine Besteuerung der Umsätze der KG entsprechend der Rechtsauffassung der KG beim Mehrheitskommanditisten als Organträger erfolgen kann. Somit kommt eine Aufhebung der für die KG bestehenden Steuerfestsetzung aufgrund ihrer sich erst aus der geänderten BFH-Rechtsprechung ergebenden Stellung als Organgesellschaft nur in Betracht, wenn der Mehrheitskommanditist gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO vor Ablauf der für ihn geltenden Festsetzungsfrist beantragt, die Umsätze der KG als Organgesellschaft bei seiner Steuerfestsetzung zu erfassen und damit auf den sich aus § 176 AO ergebenden Vertrauensschutz verzichtet.
Das Erfordernis einer entsprechenden Antragstellung durch den Organträger steht nicht im Widerspruch zum Unionsrecht.
Das Besteuerungsverfahren wird, soweit es den Streitfall betrifft, nicht durch die MwStSystRL geregelt. Daher dürfen die Mitgliedstaaten in Ermangelung harmonisierter Vorschriften die Verfahrensvorschriften ihres innerstaatlichen Rechts anwenden, sofern sie dabei die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität einhalten16. Diesen Grundsätzen entspricht eine bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist erforderliche Antragstellung wie auch die Berücksichtigung der sich im Rahmen eines Steuerrechtsverhältnisses nach Treu und Glauben ergebenden Bindungen.
Hierfür spricht im Übrigen die Erwägung des EuGH, dass die nationale Bestimmung des Organträgers als einzigen Steuerpflichtigen nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führen darf17. Eine Haftung der Organgesellschaft nach § 73 AO ist wegen des Grundsatzes der Akzessorietät nur bei Bestehen der Steuerschuld des Organträgers zu bejahen. Das Erfordernis einer Antragstellung durch den Organträger, um eine Festsetzung ihm gegenüber zu ermöglichen, dient dazu, die Gefahr von Steuerverlusten zu vermeiden.
Die Sache ist nicht spruchreif. Dem Bundesfinanzhof ist eine Prüfung, ob der Mehrheitskommanditist einen Änderungsantrag für eine bei ihm vorzunehmende Versteuerung der Umsätze der KG gestellt hat, verwehrt. Dabei kann ein derartiger Antrag auch jetzt noch durch den Mehrheitskommanditist oder im Fall eines noch nicht beendeten Insolvenzverfahrens über sein Vermögen durch seinen Insolvenzverwalter gestellt werden, wenn im Streitfall die Festsetzungsfrist als zeitliche Grenze für den Antrag i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO18 entgegen der Annahme des Finanzamtes nach § 174 Abs. 3 AO noch nicht abgelaufen ist.
Ist ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid (hier: für den Mehrheitskommanditisten) erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden, dass er in einem anderen Steuerbescheid (hier: für die KG) zu berücksichtigen sei, und stellt sich diese Annahme als unrichtig heraus, so kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhalts unterblieben ist (hier: die des Mehrheitskommanditisten), insoweit gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 AO nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden. Dabei steht eine Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung nach Abgabe einer entsprechenden Steuererklärung (§ 168 Satz 1 AO) einem Steuerbescheid i.S. von § 174 Abs. 3 AO gleich19.
§ 174 Abs. 3 AO ist auch anzuwenden, wenn der „andere Steuerbescheid“ -z.B. entsprechend der formellen Bescheidlage- einen anderen Steuerpflichtigen (hier: die KG aufgrund der Verneinung der Stellung als Organgesellschaft) betrifft20. Für den bestimmten Sachverhalt kommt es auf den einzelnen Lebenssachverhalt an, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft, und damit auf den einheitlichen, für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex, nicht aber auf das Bestehen einer Organschaft als hierfür unbeachtlichen Rechtsbegriff21. Daher besteht die Änderungsberechtigung nach § 174 Abs. 3 AO z.B. dann, wenn das Finanzamt Umsätze und Vorsteuerbeträge einer GmbH erkennbar deshalb nicht bei dieser berücksichtigt hat, weil es davon ausgeht, dass diese bei einer anderen Person als Organträger zu erfassen seien22. Dementsprechend besteht die Änderungsbefugnis gemäß § 174 Abs. 3 AO auch dann, wenn Umsätze und Vorsteuerbeträge einer KG erkennbar deshalb nicht beim Organträger berücksichtigt werden, da das Finanzamt davon ausgeht, diese seien mangels Organschaft bei der KG zu erfassen.
Im Streitfall ergibt sich der bestimmte Sachverhalt, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft, aus der Umsatztätigkeit der mit dem Mehrheitskommanditisten finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch verbundenen KG. Dieser Sachverhalt wurde in der Annahme, dass die Umsätze der KG trotz Vorliegens der Eingliederungs-voraussetzungen in einem für diese zu erlassenden Steuerbescheid zu erfassen seien, bei der Steuerfestsetzung des Organträgers nicht berücksichtigt.
Allerdings kann der Bundesfinanzhof nicht entscheiden, ob diese Nichtberücksichtigung auch erkennbar war. Erkennbarkeit liegt insbesondere vor, wenn der Steuerpflichtige durch sein eigenes Verhalten die Finanzbehörde veranlasst hat, einen Sachverhalt nicht bei ihm, sondern bei einem anderen zu erfassen23. Hierfür kann im Streitfall die zeitgleiche Abgabe der Umsatzsteuerjahreserklärungen von Mehrheitskommanditisten und der KG, der die damals herrschende Meinung zugrunde lag, nach der eine KG keine Organgesellschaft war, sprechen.
Sollten danach die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO erfüllt sein, ist die Nachholung, Aufhebung oder Änderung der Steuerfestsetzung für den Mehrheitskommanditisten -und damit auch die Antragstellung durch den Mehrheitskommanditisten gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO- nach § 174 Abs. 3 Satz 2 AO bis zum Ablauf der für die andere Steuerfestsetzung geltenden Festsetzungsfrist zulässig. Maßgebend ist hierfür somit nicht die Festsetzungsfrist für den auf § 174 Abs. 3 AO gestützten neuen Bescheid gegenüber dem Mehrheitskommanditisten24, sondern die Festsetzungsfrist für die KG, die gemäß § 171 Abs. 3a AO in ihrem Ablauf gehemmt ist25.
Im Fall eines fortbestehenden Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Mehrheitskommanditisten ist auf eine durch seinen Insolvenzverwalter abzugebende Erklärung abzustellen. Denn insoweit ist zu berücksichtigen, dass im Insolvenzverfahren ein Änderungsbescheid gemäß § 251 Abs. 2 Satz 1 AO i.V.m. § 87 InsO nicht mehr ergehen kann26. An dessen Stelle tritt die Eintragung des sich für das Kalenderjahr ergebenden Steueranspruchs als Insolvenzforderung in die Insolvenztabelle (§ 178 InsO) oder -im Fall des Bestreitens (§ 179 InsO)- der gemäß § 185 InsO i.V.m. § 251 Abs. 3 AO zu erlassende Feststellungsbescheid27. Die Eintragung in die Tabelle ersetzt damit im Insolvenzverfahren den Steuerbescheid28. Da der Insolvenzverwalter dem an die Stelle eines Änderungsbescheids tretenden Tabelleneintrag im Hinblick auf § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO widersprechen könnte, ist auch für diesen Fall die Inanspruchnahme des aus dieser Vorschrift ansonsten ergebenden Vertrauensschutzes auszuschließen.
Die Änderung nach § 174 Abs. 3 AO gegenüber einem Dritten (hier: gegenüber dem Organträger) nach Einlegung eines Rechtsbehelfs durch den anderen Steuerpflichtigen (hier: durch den Insolvenzverwalter der KG) setzt im Übrigen nicht die Beteiligung des Dritten (Organträger) gemäß § 174 Abs. 5 AO am Verfahren des anderen (des Insolvenzverwalters der KG) voraus29. Dementsprechend kommt es nicht auf die weitergehenden Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 AO an.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 16. März 2023 – V R 14/21
- Anschluss an das EuGH, Urteil Finanzamt für Körperschaften Berlin vom 15.04.2021 – C 868/19, EU:C:2021:285 und insoweit Aufgabe des Bundesfinanzhofs, Urteils vom 02.12.2015 – V R 25/13, BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547[↩]
- Bestätigung von BFH, Urteil vom 26.08.2021 – V R 13/20, BFHE 273, 364[↩]
- EuGH, Urteil „Finanzamt für Körperschaften Berlin“ vom 15.04.2021 – C-868/19, EU:C:2021:285[↩][↩]
- FG Baden-Württemberg, Urteil vom 07.11.2019 – 1 K 1952/18, EFG 2020, 943[↩][↩]
- EuGH, Urteil „Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt“ vom 16.07.2015 – C-108/14 und C-109/14, EU:C:2015:496[↩]
- BFH, Urteil vom 02.12.2015 – V R 25/13, BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547[↩]
- BMF, Schreiben vom 26.05.2017 – III C 2 – S 7105/15/10002, 2017/0439168, BStBl I 2017, 790[↩]
- BFH, Urteile vom 19.01.2016 – XI R 38/12, BFHE 252, 516, BStBl II 2017, 567; und vom 01.06.2016 – XI R 17/11, BFHE 254, 164, BStBl II 2017, 581[↩]
- BFH, Beschluss vom 01.09.2020 – V R 45/19[↩]
- EuGH, Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie vom 01.12.2022 – C-141/20, EU:C:2022:943, Rz 69 f.[↩]
- EU:C:2021:285[↩]
- ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH, Urteil vom 06.07.2016 – X R 57/13, BFHE 256, 1, BStBl II 2017, 334, Rz 16[↩]
- BFH, Urteil vom 08.02.1995 – I R 127/93, BFHE 177, 332, BStBl II 1995, 764, unter II.C.04.; vgl. auch BFH, Urteil vom 25.04.2013 – V R 2/13, BFHE 241, 304, BStBl II 2013, 844, Leitsatz 1[↩]
- BFH, Urteil vom 26.08.2021 – V R 13/20, BFHE 273, 364[↩]
- und damit ebenso in Bezug auf das inhaltsgleiche BFH, Urteil in BFHE 254, 164, BStBl II 2017, 581[↩]
- EuGH, Urteil Caterpillar Financial Services vom 20.12.2017 – C-500/16, EU:C:2017:996, Rz 37[↩]
- EuGH, Urteile Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:2022:943, und Finanzamt T vom 01.12.2022 – C-269/20, EU:C:2022:944[↩]
- BFH, Urteil vom 03.03.2011 – III R 45/08, BFHE 233, 6, BStBl II 2011, 673, Leitsatz 2[↩]
- BFH, Urteil vom 19.12.2013 – V R 7/12, BFHE 245, 80, BStBl II 2017, 841, Rz 50[↩]
- BFH, Urteil vom 27.08.2014 – II R 43/12, BFHE 246, 506, BStBl II 2015, 241, Rz 20[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 21.09.2016 – V R 24/15, BFHE 254, 505, BStBl II 2017, 143, Rz 22 f. zu § 174 Abs. 4 AO[↩]
- BFH, Urteil vom 08.02.1996 – V R 54/94, BFH/NV 1996, 733, unter II. 1.[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 246, 506, BStBl II 2015, 241, Rz 22[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 246, 506, BStBl II 2015, 241, Rz 23[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 246, 506, BStBl II 2015, 241, Rz 25 zu § 171 Abs. 3a AO[↩]
- BFH, Urteil vom 13.05.2009 – XI R 63/07, BFHE 225, 278, BStBl II 2010, 11, unter II. 2.a aa[↩]
- BFH, Urteil vom 21.11.2013 – V R 21/12, BFHE 244, 70, BStBl II 2016, 74, Rz 23 zur Parallelfrage bei der Haftung nach § 13c UStG[↩]
- BFH, Urteil vom 17.09.2019 – VII R 5/18, BFHE 266, 104, Leitsatz 2[↩]
- BFH, Urteile vom 01.08.1984 – V R 67/82, BFHE 141, 490, BStBl II 1984, 788, Leitsatz, und in BFHE 245, 80, BStBl II 2017, 841, Rz 58[↩]