Ermüdend lange Verlesung von Anklageschriften

Der stundenlangen oder teilweise auch tagelangen Verlesung von Anklageschriften (die in der Praxis immer mehr zunehmen) hat der Bundesgerichtshof ein Ende gesetzt. Bei Strafverfahren, die eine Vielzahl von gleichartig begangenen Straftaten zum Gegenstand haben, sind die Anforderungen an die nach der Strafprozessordnung zu Beginn der Hauptverhandlung erforderliche Verlesung des Anklagesatzes genauer definiert worden.

Ermüdend lange Verlesung von Anklageschriften

In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Ausgangsverfahren1 waren dem Hauptangeklagten Serien von Betrugstaten vorgeworfen worden. Er hatte in einem Zeitraum von knapp fünf Jahren aus von ihm gegründeten Gesellschaften heraus die Geschädigten mit Hilfe seiner mitangeklagten Mittäter, die als Vermittler agierten, durch täuschende Angaben zum Abschluss von Verträgen über völlig nutzlose Werbeanzeigen veranlasst. Den Tatopfern waren dadurch Schäden in unterschiedlicher Höhe entstanden. Der Gesamtschaden belief sich auf mehr als 1,8 Millionen Euro.

In der Anklageschrift hatte die Staatsanwaltschaft im so genannten Anklagesatz die sämtliche Einzeltaten prägende gleichartige Begehungsweise geschildert sowie den Tatzeitraum, die Zahl der dem Hauptangeklagten und den Mitangeklagten jeweils vorgeworfenen Einzeltaten und den Gesamtschaden angegeben. Die individuellen Merkmale der Einzeltaten (Name, Anschrift und Telefonnummer des Geschädigten, Tag des Anrufs und der Bestellung, Name des anrufenden Mittäters, Höhe des Einzelschadens) waren in mehreren Listen mit fortlaufenden Nummern zusammengestellt, die der Anklageschrift als Anlagen beigefügt und im Anklagesatz in Bezug genommen waren. Für die Mitangeklagten waren die Einzeltaten, an denen sie jeweils beteiligt waren, in weiteren Listen zusammengestellt. Diese Listen bestanden ausschließlich aus Zahlen. Insgesamt hatten die – eng beschriebenen – Listen einen Umfang von mehr als 100 Seiten.

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Der Staatsanwalt hatte bei der Verlesung des Anklagesatzes in der Hauptverhandlung die Listen nicht mit verlesen. Dagegen hatten zwei AngeklagteIm Rechtsmittel eingelegt. Im Revisionsverfahren war deshalb zu klären, welche Anforderungen in Strafverfahren wegen einer Vielzahl gleichartig begangener Taten an die Verlesung des Anklagesatzes zu stellen sind. In der Strafrechtspraxis gewinnt diese Frage zunehmend an Bedeutung.

Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs genügt es in solchen Strafverfahren, wenn ein inhaltlich auf den wesentlichen Kern reduzierter Teil des Anklagesatzes verlesen wird; Listen wie die im Ausgangsverfahren brauchen nach der Strafprozessordnung nicht vorgelesen zu werden. Denn das Gesetz kann nicht wollen, dass stunden- oder tagelang Tatdetails und Daten verlesen werden, die sich in ihrer Massierung durch Zuhören weder den Verfahrensbeteiligten noch anwesenden Zuhörern einprägen; eine solche Verlesung, der kein Zuhörer über längere Zeit folgen könnte, nähme in erheblichem Umfang Ressourcen in Anspruch, ohne irgendeinen Ertrag für das weitere Verfahren zu bringen. Durch den Verzicht auf die Verlesung der Einzeltatdetails werden Rechte der Verfahrensbeteiligten nicht berührt und die Verteidigung des Angeklagten nicht erschwert.

Dagegen hat der Bundesgerichtshof betont, dass die Pflicht des Gerichts, den Sachverhalt in der Hauptverhandlung in allen Einzelheiten aufzuklären, von der Entscheidung unberührt bleibt.

Bundesgerichtshof Karlsruhe, Beschluss vom 12. Januar 2011 – GSSt 1/10

  1. LG Mannheim v. 12.12.2008 – 22 KLs 628 Js 34798/02[]
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