Ein großes Ausmaß im Sinne von § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO liegt bei jeder Steuerhinterziehung über 50.000 € vor.

Dies entschied jetzt der Bundesgerichtshof in Verschärfung seiner bisherigen Rechtsprechung1 zum Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 AO, in der die Wertgrenze z.T. allerdings bei 100.000 € gelegen hatte.
Der Straftatbestand der Steuerhinterziehung stellt in § 370 Abs. 3 Satz 1 AO für besonders schwere Fälle einen erhöhten Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe zur Verfügung. Ein besonders schwerer Fall liegt gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO in der Regel vor, wenn der Täter in großem Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Vorteile erlangt.
Nach der bisher geltenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt die Wertgrenze in Fällen dieser Art allerdings bei 100.000 €. Nach dieser Rechtsprechung, die der Bundesgerichtshof seit der Grundsatzentscheidung vom 02.12 20082 mehrfach bestätigt und fortgeschrieben hat3, ist das nach objektiven Maßstäben zu bestimmende Merkmal des Regelbeispiels „in großem Ausmaß“ dann erfüllt, wenn der Hinterziehungsbetrag 50.000 € übersteigt. Beschränkt sich das Verhalten des Täters aber darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen und führt das lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs, soll die Wertgrenze bei 100.000 € liegen.
Mit Beschluss vom 15.12 20114 hat der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung weiter präzisiert:
Die Wertgrenze liegt bei 100.000 €, „wenn der Steuerpflichtige zwar eine Steuerhinterziehung durch aktives Tun (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) begeht, indem er eine unvollständige Steuererklärung abgibt, er dabei aber lediglich steuerpflichtige Einkünfte oder Umsätze verschweigt … und allein dadurch eine Gefährdung des Steueranspruchs herbeiführt“.
An dieser Rechtsprechung hält der Bundesgerichtshof nicht fest. Aus folgenden Erwägungen ist eine einheitliche Wertgrenze von 50.000 € angemessen.
)) Eine einheitliche Wertgrenze von 50.000 € gilt entsprechend bei den Regelbeispielen des Herbeiführens eines Vermögensverlusts großen Ausmaßes der §§ 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Var., 263a Abs. 2, 264 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, 266 Abs. 2, 300 Satz 2 Nr. 1 StGB.
Zwar hatte der Bundesgerichtshof in seiner Grundsatzentscheidung5 ausgeführt, der Umstand, dass sich die Betragsgrenze von 50.000 € bei § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO an derjenigen des Vermögensverlustes großen Ausmaßes im Sinne von § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Alt. 1 StGB orientiere, bedeute zugleich, dass – ähnlich wie beim Betrug – zwischen schon eingetretenem Vermögensverlust und einem Gefährdungsschaden zu differenzieren sei.
Diese Erwägung berücksichtigt aber nicht hinreichend, dass ein vollendeter Betrug bereits dem Wortlaut nach den Eintritt eines Vermögensschadens voraussetzt; dies gilt auch für die Fälle der „schadensgleichen Vermögensgefährdung“6. Für den Tatbestand der Steuerhinterziehung genügt dagegen eine tatbestandliche Gefährdung des Steueraufkommens.
Steuerhinterziehung und Betrug sind nicht uneingeschränkt vergleichbar7, weil die Steuerhinterziehung gegenüber dem Betrugstatbestand „strukturelle Unterschiede“ aufweist8.
§ 370 Abs. 4 Satz 1 AO fordert für eine Steuerverkürzung lediglich eine nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig erfolgte Steuerfestsetzung, nicht aber den Eintritt eines Vermögensverlusts beim Fiskus9. Die Gefährdung des durch die Verwirklichung des materiellen Besteuerungstatbestands entstandenen Steueranspruchs durch die infolge einer Tathandlung im Sinne von § 370 Abs. 1 AO unterbliebene, zu niedrige oder nicht rechtzeitig erfolgte Steuerfestsetzung genügt für die Erfüllung des Straftatbestands unabhängig davon, ob das „staatliche Vermögen“ dadurch gemindert worden ist oder letztlich gar keine Zahllast des Steuerpflichtigen festzusetzen ist10. Darin liegt der Unterschied zum Betrugstatbestand, dessen Vollendung u.a. eine Vermögensverfügung und spiegelbildlich hierzu einen eingetretenen Vermögensschaden voraussetzt.
Das Gesetz unterscheidet damit in § 370 AO nicht zwischen der Gefährdung des Steueranspruchs und dem Eintritt des Vermögensschadens beim Staat. Diese Gleichsetzung findet ihre Rechtfertigung darin, dass die falsche Steuerfestsetzung nahezu immer zu einem Schaden führen wird11, weil eine nicht festgesetzte Steuer auch nicht beigetrieben werden kann und darf.
Vor diesem Hintergrund zwischen Gefährdungsschaden und eingetretenem Schaden zu differenzieren, ist deshalb nicht gerechtfertigt12.
Steht aber die Gefährdung des Steueranspruchs dem beim Fiskus eingetretenen Schaden bei der Tatbestandserfüllung qualitativ gleich, ist die Verdoppelung des Schwellenwerts bei dem sog. Gefährdungsschaden nicht zu begründen13.
Eine einheitliche Wertgrenze von 50.000 € gewährleistet zudem mehr Rechtssicherheit, weil sich die Differenzierung zwischen nicht erklärten Steuererhöhungsbeträgen und zu Unrecht geltend gemachten Steuerminderungsbeträgen und die auf Elemente des Erfolgsunrechts (Höhe des Steuerschadens) und auf Elemente des Handlungsunrechts (unterschiedlicher Gehalt des Handlungsunrechts) gestützte und deshalb schwierige Abgrenzung erübrigt, in welchen Fällen der niedrigere und in welchen Fällen der höhere Grenzwert gilt14.
Das Merkmal „in großem Ausmaß“ ist in diesem Sinne erfolgsbezogen, weil es an der Höhe der verkürzten Steuer betragsmäßig anknüpft. Aus dem erfolgsbezogenen würde andernfalls ein handlungsbezogenes Merkmal, wenn der das Regelbeispiel begründende, typischerweise erhöhte Unrechts- und Schuldgehalt nicht mehr aus dem Umfang des Taterfolgs, sondern aus der Art seiner Herbeiführung hergeleitet wird. Die Unterscheidung nach der Art und Weise der Hinterziehung von Steuern ist mit dem auf den Taterfolg abstellenden Regelbeispiel schon von seinem Wortlaut her nicht ohne Weiteres vereinbar. Es ist für den Taterfolg ohne Relevanz, ob der Täter dem Finanzamt Umsätze verschweigt, seine Buchhaltung entsprechend abstimmt und dadurch eine Steuerentlastung generiert oder ob er dieses Ziel durch Vortäuschen von Betriebsausgaben erreicht. Die Art seines manipulativen Verhaltens – zum Beispiel die Vorlage falscher Belege beim Finanzamt oder das teilweise Löschen von Umsätzen vor Ausdruck der Bons durch die Registrierkassen oder der Einkauf ohne Rechnung gegen Barzahlung – findet ihren Platz bei der Gesamtwürdigung im Rahmen der Prüfung, ob die „Indizwirkung“ des Regelbeispiels entkräftet wird oder umgekehrt bei Nichterreichen der Wertgrenze ein unbenannter besonders schwerer Fall anzunehmen ist.
Die ausschließliche Ausrichtung am Ausmaß des Taterfolgs vermeidet beliebige Ergebnisse, weil es eine Frage des Einzelfalls ist, ob das Vortäuschen von Betriebsausgaben oder Vorsteuerbeträgen zu ungerechtfertigten Steuererstattungen oder dem scheinbaren Erlöschen bestehender Steuerforderungen führt. So kann eine Zahllast des Finanzamts, also der sogenannte „Griff in die Kasse des Staates“, nicht nur durch das Vortäuschen von Betriebsausgaben oder einer Vorsteuerabzugsberechtigung entstehen, sondern ebenso durch Verschweigen von Betriebseinnahmen oder Umsätzen.
Der Steuerpflichtige erreicht eine zu niedrige Zahllast gleichermaßen durch Manipulationen bei den Betriebsausgaben, der Vorsteuerabzugsberechtigung, den Betriebseinnahmen oder Umsätzen. Bei unterschiedlichen Schwellenwerten würde, anders als im Falle einer Zahllast des Finanzamts, nach der Art der Manipulation differenziert, obwohl nicht sie, sondern ihr Umfang darüber entscheidet, ob es zu einer zu geringen Zahllast des Steuerpflichtigen und damit zu einem Gefährdungsschaden oder zu einer Zahllast des Finanzamts mit einem damit verbundenem Vermögensschaden kommt.
Für den Tatrichter verbleibt auch bei einer einheitlichen Wertgrenze von 50.000 € ausreichend Spielraum, um den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung zu tragen15.
Hierzu hat der Bundesgerichtshof in seiner Grundsatzentscheidung bereits angemerkt16, dass die Bejahung bzw. Verneinung des Regelbeispiels in einem ersten Prüfungsschritt bei der Strafrahmenwahl bedeutet, dass – wie bei sonstigen Regelbeispielen auch – in einem zweiten Schritt zu prüfen ist, ob die Besonderheiten des Einzelfalls die Indizwirkung des Regelbeispiels entkräften. In diesem Zusammenhang spielen die vorgenannten handlungsbezogenen Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle. In ihrem Licht hat der Tatrichter zu beurteilen, ob die Indizwirkung des Regelbeispiels durchgreifen kann.
Bei Bejahung eines Regelbeispiels verbleibt die Möglichkeit, innerhalb des Strafrahmens die konkrete Einzelstrafe wegen des Eintritts eines bloßen Gefährdungsschadens niedriger oder wegen eines Steuerverlusts höher anzusetzen17; auch Geständnis, lange Verfahrensdauer, Nachzahlung der verkürzten Steuern, Steuerhinterziehungen, die sich erst nach Anwendung des Kompensationsverbots ergeben18, der Aufbau besonderer unternehmerischer Strukturen, um den steuerunehrlichen Handel zu betreiben, raffinierte Manipulationen und Relation von Geschäftsvolumen und Steuerschaden19, können als Strafzumessungsfaktoren berücksichtigt werden.
Im vorliegenden Fall hat die Strafkammer bei der Prüfung der Frage, ob die „Indizwirkung“ des Regelbeispiels entkräftet wird, – nach Ansicht des Bundesgerichtshofs rechtsfehlerfrei – ein Absehen von der Anwendung des Regelstrafrahmens deshalb verneint, weil die Taten Seriencharakter aufweisen und weil der Verurteilte die Kasse des Betriebs bereits seit dem Jahr 2000 regelmäßig manipulierte und „mit besonderer Dreistigkeit“ das System der Steuerhinterziehung trotz Aufdeckung durch die Steuerfahndung unverändert weitergeführt hat.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 27. Oktober 2015 – 1 StR 373/15
- BGHSt 53, 71[↩]
- BGH, Urteil vom 02.12 2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71, 84 ff.[↩]
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 28.07.2010 – 1 StR 332/10, wistra 2010, 449; vom 05.05.2011 – 1 StR 116/11, NStZ 2011, 643, 644; vom 05.05.2011 – 1 StR 168/11; vom 12.07.2011 – 1 StR 81/11, wistra 2011, 396; vom 29.11.2011 – 1 StR 459/11, wistra 2012, 151; vom 15.12 2011 – 1 StR 579/11, NStZ 2012, 331; vom 25.09.2012 – 1 StR 407/12, wistra 2013, 67; vom 26.09.2012 – 1 StR 423/12, wistra 2013, 31; und vom 22.11.2012 – 1 StR 537/12, wistra 2013, 1999 sowie Urteile vom 21.08.2012 – 1 StR 257/12, wistra 2013, 28; vom 07.02.2012 – 1 StR 525/11, wistra 2012, 236; und vom 22.05.2012 – 1 StR 103/12, wistra 2012, 350[↩]
- BGH, Beschluss vom 15.12 2011 – 1 StR 579/11, NStZ 2012, 331, 332[↩]
- BGH, Urteil vom 02.12 2008 – 1 StR 416/08, wistra 2009, 107[↩]
- vgl. auch Fischer, StGB 62. Aufl., § 263 Rn. 159 mwN, MünchKomm-StGB/Hefendehl, StGB 2. Aufl., § 263 Rn. 588 ff.[↩]
- dazu näher BGH, Beschluss vom 22.11.2012 – 1 StR 537/12, BGHSt 58, 50, 54 ff. Rn. 1218[↩]
- MünchKomm-StGB/Schmitz/Wulf AO 2. Aufl., § 370 Rn. 479[↩]
- BGH aaO BGHSt 58, 50, 56 f. Rn. 15 f. mit zahlr. Nachw.[↩]
- BGH aaO BGHSt 58, 50, 56 Rn. 16, vgl. auch MünchKomm-StGB/Schmitz/Wulf AO 2. Aufl., § 370 Rn. 11, 81[↩]
- vgl. MünchKomm-StGB/Schmitz/Wulf AO 2. Aufl., § 370 Rn. 12[↩]
- vgl. Rolletschke/Roth wistra 2012, 216, 217; Stam NStZ 2013, 144, 146; Fischer StGB 62. Aufl., § 263 Rn. 263[↩]
- so auch Stam aaO, S. 146; Fischer aaO § 263 Rn. 265[↩]
- vgl. MünchKomm-StGB/Schmitz/Wulf AO 2. Aufl., § 370 AO Rn. 479, Grießhammer, NZWiSt 2012, 155 ff., Ochs/Wargowske, NZWiSt 2012, 369, 370[↩]
- Rolletschke/Roth, wistra 2012, 216, 218[↩]
- BGHSt 53, 71, 88[↩]
- Rolletschke/Roth, aaO, S. 218[↩]
- Pflaum, wistra 2012, 376, 377[↩]
- Jäger in Klein, AO 12. Aufl., § 370 Rn. 282[↩]