„Iura novit curia“ – aber nicht bei Rechtsanwälten

Ein Rechtsanwalt haftet seiner Partei zwar nicht dafür, dass das Gericht das Gesetz richtig anwendet, wohl aber dafür, dass er alles unternimmt, dass das Gericht kein Fehlurteil trifft. Der Rechtsanwalt muss also alles unternehmen, um eine unzutreffende Rechtsansicht des Gerichts zu verhindern. Auch wenn es sich bei dem Gericht um ein Kollegialgericht handelt muss der Rechtsanwalt also schlauer sein als das Gericht.

„Iura novit curia“ – aber nicht bei Rechtsanwälten

Vor dem Bundesverfassungsgericht hat sich jetzt eine Rechtsanwaltssozietät gegen diese ausgedehnte Anwaltshaftung gewehrt. In ihrem Fall hatte der Bundesgerichtshof geurteilt, die Anwälte hätten die sie aus dem Anwaltsvertrag treffende Pflicht gegenüber ihrem Mandanten dadurch verletzt, dass der Rechtsanwalt das Berufungsgericht nicht auf die der Klägerin günstige jüngere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hingewiesen habe. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass auch das Gericht zu einer umfassenden rechtlichen Prüfung des Falles verpflichtet gewesen sei, gleichwohl aber – ebenso wie der Rechtsanwalt – die Entscheidung des Bundesgerichtshofs außer Acht gelassen habe. Nach § 137 Abs. 2 ZPO sei Aufgabe des Rechtsanwalts nicht nur die Beibringung der Tatsachengrundlage, der Vortrag der Parteien habe das Streitverhältnis vielmehr auch in rechtlicher Beziehung zu umfassen. Der Satz „iura novit curia“ betreffe nur das Verhältnis der juristisch nicht gebildeten Naturalpartei zum Gericht.

Gegen dieses Urteil des Bundesgerichtshofs wehrten sich die betroffenen Rechtsanwälte mit einer Verfassungsbeschwerde. Doch die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts nahm die Verfassungsbeschwerde gar nicht erst zur Entscheidung an.

Die beschwerdeführenden Rechtsanwälte wenden sich dagegen, dass der Bundesgerichtshof ihre Haftung wegen einer Verletzung von Pflichten aus dem mit ihr geschlossenen Anwaltsvertrag bejaht hat. Diese zivilrechtlichen Folgen der Schlechterfüllung von Verträgen fallen jedoch – ebenso wie die Haftung für Schäden aus unerlaubter Handlung – bereits nicht in den Schutzbereich der allein als verletzt gerügten Berufsfreiheit. Die Verpflichtung zum Schadensersatz tritt unabhängig davon ein, ob die Haftungsvoraussetzungen bei Ausübung des Berufs erfüllt werden oder nicht; sie kann allenfalls mittelbar Auswirkungen auf die Ausübung der beruflichen Tätigkeit haben, indem sie die Erwartung sorgfältiger Vertragserfüllung unter Einhaltung der beruflichen Standards nachdrücklich unterstreicht und sich auch auf den Umfang der gebotenen Haftpflichtversicherung auswirkt. Weder die zugrunde liegenden Normen des Zivilrechts noch ihre Anwendung in den Ausgangsverfahren betreffen berufsspezifische Sanktionen1.

Von den nicht berufsbezogenen allgemeinen Grundsätzen des Schadensersatzrechts entfernt sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht dadurch, dass eine Haftung des Rechtsanwalts im Regelfall auch dann angenommen wird, wenn ein Fehler des Gerichts insbesondere bei der rechtlichen Aufarbeitung des Streitfalls für den Schaden einer Prozesspartei mitursächlich geworden ist. Der Bundesgerichtshof kann vielmehr auf die im Zivilrecht anerkannte gleichstufige Haftung all derjenigen verweisen, die für einen Schaden gleich aus welchen rechtlichen Gründen verantwortlich sind2. Hierbei ergibt sich aus dem Umstand, dass die Haftung für den Verursachungsbeitrag des Gerichts durch § 839 Abs. 2 BGB im Unterschied zur Haftung des Rechtsanwalts beschränkt ist, keine Besonderheit. Dass mehrere Verantwortliche einen Schaden herbeiführen, sich aber nicht alle von ihnen auf eine vertragliche oder gesetzliche Haftungserleichterung oder einen Haftungsausschluss berufen können, ist auch in anderen Fallgestaltungen des Schadensersatzrechts anzutreffen und erlangt insbesondere für den internen Ausgleich unter den Gesamtschuldnern Bedeutung3.

Ob anderes gilt, wenn bei der Verurteilung eines Rechtsanwalts zu Schadensersatz die Auseinandersetzung mit einer ausnahmsweisen Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs durch den hinzutretenden Fehlers des Gerichts unterblieben ist, obwohl dies auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Einzelfall nahe liegend gewesen wäre, kann dahinstehen. Die Hinweise des Bundesverfassungsgerichts auf die nicht schlechthin in jedem Fall gerechtfertigte Haftungsverschiebung zu Lasten des Rechtsanwalts im Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. August 20024 sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin lässt sich der Entscheidung nicht entnehmen, dass die haftungsrechtliche Verantwortung von Verfassungs wegen ausschließlich den Gerichten übertragen sein soll. Der Kammerbeschluss geht vielmehr davon aus, dass der dort beschwerdeführende Rechtsanwalt durch seine Schlechtleistung die Verfestigung einer seinem Mandanten ungünstigen Position mitverschuldet hatte. Allerdings können die konkreten Umstände des Einzelfalls nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dazu führen, dass der Fehler des Rechtsanwalts bei wertender Betrachtung in keinem inneren Zusammenhang zu dem aus der Fehlentscheidung des Gerichts resultierenden Schaden steht. Ob und unter welchen Umständen das Außerachtlassen dieses Gesichtspunkts den betroffenen Rechtsanwalt in seiner Berufsfreiheit verletzt, bedarf jedoch hier ebenso wenig einer Entscheidung wie in dem Fall, der dem Kammerbeschluss vom 12. August 2002 zugrunde lag. Der Bundesgerichtshof hat sich nämlich in dem angegriffenen Beschluss mit einer etwaigen Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs eingehend auseinandergesetzt.

Allerdings besteht aufgrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Bereich der Anwaltshaftung gegenüber dem allgemeinen Schadensersatzrecht eine Besonderheit insofern, als das Regressgericht zur Feststellung eines normativen Schadens nicht auf die hypothetische Entscheidung des Gerichts des Vorprozesses bei unterbliebener anwaltlicher Pflichtverletzung abstellen darf, sondern seine eigene rechtliche Wertung an die Stelle derer des Gerichts des Vorprozesses setzen muss5. Die Maßgeblichkeit der Sicht des Regressgerichts kommt jedoch nach Zielsetzung und Wirkung einem Eingriff in die anwaltliche Berufsfreiheit schon deshalb nicht gleich, weil mit ihr keinerlei Präjudiz für den Ausgang des Schadensersatzprozesses und damit auch keine tendenziell strengere Haftung des Rechtsanwalts verbunden ist.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. April 2009 – 1 BvR 386/09

  1. vgl. BVerfGE 96, 375 <397>[]
  2. vgl. Grüneberg, in: Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 421 Rn. 11; Bydlinski, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 5. Aufl. 2007, § 421 Rn. 49[]
  3. vgl. Grüneberg, in: Palandt, a.a.O., § 426 Rn. 18 ff.[]
  4. 1 BvR 399/02 -, NJW 2002, S. 2937 <2938>[]
  5. vgl. BGHZ 174, 205 <208 f.>[]