Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der in einer Gesamtschau durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt.

Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann1.
Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben2.
Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht3.
Fallen die erste potentiell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens zeitlich auseinander, ist der Bewertung eines schädigenden Verhaltens als (nicht) sittenwidrig das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten zugrunde zu legen. Denn im Falle der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB wird das gesetzliche Schuldverhältnis erst mit Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten begründet; der haftungsbegründende Tatbestand setzt die Zufügung eines Schadens zwingend voraus.
Deshalb kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber als nicht sittenwidrig zu werten sein4. Hiervon ist insbesondere dann auszugehen, wenn wesentliche Elemente, die das bisherige Verhalten des Schädigers gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als besonders verwerflich erscheinen ließen, durch die Änderung seines Verhaltens derart relativiert werden, dass der Vorwurf der Sittenwidrigkeit bezogen auf sein Gesamtverhalten gegenüber dem später betroffenen Geschädigten und im Hinblick auf den Schaden, der diesem entstanden ist, nicht gerechtfertigt ist5.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 22. Februar 2022 – VI ZR 934/20
- st. Rspr., s. nur BGH, Urteile vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15[↩]
- BGH, Urteile vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15; vom 28.06.2016 – VI ZR 536/15, NJW 2017, 250 Rn. 16 mwN[↩]
- BGH, Urteile vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15; vom 07.05.2019 – VI ZR 512/17, NJW 2019, 2164 Rn. 8 mwN; BGH, Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, ZIP 2021, 297 Rn. 14[↩]
- BGH, Urteile vom 08.12.2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 12; vom 23.03.2021 – VI ZR 1180/20, VersR 2021, 732 Rn. 10; BGH, Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20, VersR 2021, 661, Rn. 13, jeweils mwN[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 08.12.2020 – VI ZR 244/20, aaO Rn. 14, 17; vom 23.03.2021 – VI ZR 1180/20, VersR 2021, 732 Rn. 12; BGH, Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20, VersR 2021, 661 Rn. 17 f.[↩]