Überschreiten des Gutachtenauftrags

Die Überschreitung des gerichtlichen Auftrags in einem schriftlichen Gutachten kann unter Umständen eine Besorgnis der Befangenheit des Sachverständigen aus der Sicht einer Partei rechtfertigen. Eine Besorgnis der Befangenheit ist allerdings nicht anzunehmen, wenn die Überschreitung des Auftrags darauf beruht, dass der Sachverständige den gerichtlichen Beweisbeschluss missverstanden hat, und wenn dieses Missverständnis aus der Sicht der Partei bei vernünftiger Betrachtung unter den gegebenen Umständen unschwierig erkennbar ist.

Überschreiten des Gutachtenauftrags

Ein Befangenheitsgesuch kann grundsätzlich nicht darauf gestützt werden, dass ein schriftliches Gutachten Ausführungen und Bewertungen enthält, die – wie vorliegend – für eine Partei möglicherweise nachteilig erscheinen. Denn es ist Aufgabe des Sachverständigen, Feststellungen zu treffen und Bewertungen aufgrund seiner Sachkunde vorzunehmen, die entscheidungserheblich sind, und sich daher generell zum Vorteil oder Nachteil der einen oder der anderen Partei auswirken können.

Ebensowenig kann eine sachliche Kritik am Gutachten (eventuelle Unvollständigkeit oder mögliche fachliche Mängel) ein Ablehnungsgesuch rechtfertigen. Solche (möglichen) sachlichen Einwendungen sind kein Indiz für eine Parteilichkeit des Sachverständigen, sondern können nur zu anderen prozessualen Konsequenzen führen, wie beispielsweise einer ergänzenden Befragung des Sachverständigen oder gegebenenfalls auch einem neuen Gutachtenauftrag an einen anderen Sachverständigen.

Auch der Vorwurf, der Sachverständige habe in seinem Gutachten den gerichtlichen Auftrag überschritten, rechtfertigt im vorliegenden Fall eine Ablehnung nicht.

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Eine Überschreitung des Gutachtenauftrags kann aus Sicht einer Partei eine Besorgnis der Befangenheit des Sachverständigen begründen. Dies lässt sich jedoch nicht schematisch und generell feststellen. Vielmehr ist bei einer Überschreitung des Auftrags durch den Sachverständigen jeweils eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles erforderlich1. Es kommt darauf an, ob sich im Einzelfall aus dieser Überschreitung bei vernünftiger Betrachtungsweise eine parteiliche Tendenz zu Gunsten oder zu Lasten einer Partei ergibt. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Eine Parteilichkeit wäre beispielsweise dann anzunehmen, wenn der Sachverständige seinen Auftrag bewusst überschritten hätte, um aus eigenem „Gerechtigkeitsempfinden“ einer Partei zu „helfen“. Eine solche Tendenz ist nicht erkennbar. Die Überschreitung des Gutachtenauftrags beruht ersichtlich auf einem Missverständnis des Sachverständigen.

Bei diesem – auf einem Missverständnis beruhenden – Verständnis war es konsequent, dass der Sachverständige die Ausführungen des landgerichtlichen Beschlusses im Gutachten „diskutiert“ hat. Dabei ist es grundsätzlich nachvollziehbar, dass der Sachverständige bei dieser „Diskussion“ diejenigen fachlich-medizinischen Gesichtspunkte eingebracht hat, die aus seiner Sicht für oder gegen bestimmte Konsequenzen (insbesondere die Feststellung einer Verletzung der Anzeigepflicht) sprechen.

Ein eindeutiges Verständnis des Gutachtenauftrags war für Sachverständigen nicht etwa deshalb zwingend, weil nur unter III. konkrete Beweisfragen gestellt wurden, während sich in den Absätzen I. und II. Ausführungen des Landgerichts zur Sach- und Rechtslage finden. Zwar ist es durchaus sinnvoll, Beweisfragen -wie vorliegend unter III. des Beschlusses – für den Sachverständigen präzise zu formulieren. Gutachter werden in der Praxis jedoch nicht selten mit Aufträgen von Gerichten konfrontiert, die sehr allgemein und unpräzise gehalten sind. Daher musste sich aus der Art der Formulierung in den Absätzen I. und II. für den Sachverständigen nicht zwingend ergeben, dass diese Darstellungen – die keine direkten Fragen enthalten – nicht an ihn gerichtet waren.

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Allerdings kommt es auch bei der Bewertung des Missverständnisses auf Seiten des Sachverständigen auf die Sichtweise einer „vernünftigen“ Partei an. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts ändert dies jedoch nichts. Auch aus dem Blickwinkel der anwaltlich vertretenen Beklagten war erkennbar, dass die Überschreitung des Gutachtenauftrags aus den angegebenen Gründen durch ein verständliches Missverständnis verursacht wurde, zu dem wohl auch das Auftragsschreiben des Landgerichts beigetragen haben dürfte, in welchem nicht nur auf Ziffer III des Beschlusses, sondern auf den gesamten Beschluss Bezug genommen wurde.

Schließlich ergibt sich auch aus bestimmten deutlichen Bewertungen des Sachverständigen zu dem Vorbringen der Beklagten („gänzlich unverständlich“ und „vollkommen unersichtlich“) kein Hinweis auf eine Parteilichkeit. Die Bewertungen beziehen sich auf ein tatsächliches Vorbringen der Beklagten, zu dem der Sachverständige nach den ausdrücklichen Fragen unter III. des Beschlusses des Landgerichts Stellung nehmen sollte; denn die Beklagte hat – nach der Wiedergabe im Beschluss des Landgerichts – vorgetragen, bei der Klägerin habe schon im Jahr 2005 eine Mehlstauballergie vorgelegen. Die nach Auffassung des Landgerichts entscheidungserhebliche Beweisfrage hat der Sachverständige mit den von der Beklagten angegriffenen Bewertungen beantwortet. Hinsichtlich der Art und Weise der Formulierung muss einem Sachverständigen ein Spielraum gebilligt werden. Eine Bewertung wie „gänzlich unverständlich“ entspricht einem Begriff wie „abwegig“, der beispielsweise auch gelegentlich von Gerichten benutzt wird. Die sachlichen Gründe für die Deutlichkeit dieser Aussage hat der Sachverständige im Gutachten dargelegt.

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Ein Indiz für eine Parteilichkeit käme nur dann in Betracht, wenn die Bewertungen des Sachverständigen in ihrer Deutlichkeit unvertretbar wären. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Sachverständige hat darauf hingewiesen, dass eine Mehlstauballergie nur dann in Betracht kommt, wenn eine Person entsprechenden Einwirkungen durch Mehlstaub ausgesetzt ist, was im Jahr 2005 bei der damals 15-jährigen Klägerin unstreitig nicht der Fall war. Das Oberlandesgericht hält die Auffassung des Sachverständigen, dass der Sachvortrag der Beklagten in diesem Punkt – Mehlstauballergie der Klägerin bereits im Jahr 2005 – völlig unverständlich ist, unter den gegebenen Umständen für jedenfalls nicht fernliegend.

Oberlandesgericht Karlsruhe, Beschluss vom 4. September 2013 – 9 W 28/13

  1. vgl. BGH, NJW-RR 2013, 851[]

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