Anforderungen an die Berufungsbegründung – und der Justizgewährungsanspruch

Zur Wahrung des Justizgewährungsanspruches (Art. 2 Abs.1 der Landesverfassung Baden-Württemberg und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 23 Abs. 1 LV) dürfen keine unzumutbaren Anforderungen an den Inhalt von Berufungsbegründungen gestellt werden. Die Gerichte dürfen ein von der Verfahrensordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch eine zu enge Handhabung der Vorschriften über dessen Begründung ineffektiv machen.

Anforderungen an die Berufungsbegründung – und der Justizgewährungsanspruch

Im arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren erhalten diese Anforderungen eine besondere Tragweite, weil dort der Vorsitzende die Entscheidung über die Zurückweisung der Berufung gemäß § 66 Abs. 2 Satz 2 ArbGG allein treffen kann. Kommt es für die Prüfung der Zulässigkeit der Berufung nicht auf die Erfüllung formaler Kriterien an, sondern stehen materielle Rechtsfragen im Vordergrund, ist für die Verwerfung einer Berufung nach § 66 Abs. 2 Satz 2 ArbGG regelmäßig kein Raum.

Eine offensichtlich unrichtige Anwendung von Präklusionsvorschriften kann eine Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör (Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG) darstellen. Diese ist etwa dann anzunehmen, wenn im arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren unabhängig von dem in § 67 Abs. 2 Satz 1 ArbGG genannten Kriterium der Verzögerung zusätzliche Anforderungen für die Zulassung neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel aufgestellt werden.

Der Justizgewährungsanspruch ist ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaates. Rechtsschutz vor den Gerichten wird nicht nur durch die in Art. 67 Abs. 1 LV verankerte Rechtsweggarantie gewährleistet, sondern darüber hinaus im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs. Dieser ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips (Art. 23 Abs. 1 LV) in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG1. Im rechtsstaatlichen Kerngehalt unterscheiden sich die Rechtsweggarantie und der allgemeine Justizgewährungsanspruch nicht2. Da die Rechtsweggarantie Rechtsschutz durch den Richter, nicht aber gegen den Richter gewährleisten soll, ist jedenfalls für zivilrechtliche Streitigkeiten in erster Linie auf den Justizgewährungsanspruch zurückzugreifen3.

Der Justizgewährungsanspruch gilt ebenso wie Art. 67 Abs. 1 LV für die Ausgestaltung des gesamten Verfahrens und umfasst den Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung4. Ein Anspruch auf einen Instanzenzug folgt hieraus nicht5. Wird ein Instanzenzug von den Prozessordnungen aber eröffnet, gewährleisten die genannten Garantien wirksamen Rechtsschutz in allen von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen6.

Der Justizgewährungsanspruch richtet sich auch an den die Verfahrensordnung anwendenden Richter. Zwar ist es nicht Aufgabe des Staatsgerichtshofs, in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren über die Richtigkeit der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts durch die Gerichte zu befinden. Der Staatsgerichtshof ist kein Revisionsgericht, sondern prüft nur, ob die Rechtsanwendung Verfassungsrecht verletzt. Verfassungsrecht in Gestalt des Justizgewährungsanspruchs ist dann verletzt, wenn das Gericht den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen von Voraussetzungen abhängig macht, die unerfüllbar oder unzumutbar sind oder den Zugang in einer aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschweren7. Zur Wahrung des Justizgewährungsanspruches dürfen daher keine unzumutbaren Anforderungen an den Inhalt von Berufungsbegründungen gestellt werden. Das Gericht darf ein von der Verfahrensordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leer laufen“ lassen8.

Diese Anforderungen erhalten im arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren eine besondere Tragweite, weil dort der Vorsitzende die Entscheidung über die Zurückweisung der Berufung allein, also ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss treffen kann (vgl. § 66 Abs. 2 Satz 2 ArbGG). Insofern weicht das arbeitsgerichtliche Verfahren von dem Zivilprozess ab, wo eine Verwerfung der Berufung im Beschlusswege die Entscheidung des gesamten Spruchkörpers voraussetzt. Hinzu kommt, dass im arbeitsgerichtlichen Verfahren eine Rechtsbeschwerde nur dann statthaft ist, wenn diese in dem Beschluss über die Verwerfung der Berufung ausdrücklich zugelassen wurde (vgl. § 77 ArbGG). Um der hierin angelegten Missbrauchsgefahr zu begegnen, bedarf es einer Anwendung der genannten Vorschriften, die den Verfahrensgrundrechten der Rechtsuchenden in besonderer Weise Rechnung trägt. Bei einer Zurückweisung der Berufung nach § 66 Abs. 2 Satz ArbGG ist zu beachten, dass die der Verfahrensbeschleunigung und Rechtsmittelvereinfachung dienende Alleinentscheidungsbefugnis des Vorsitzenden nach der Gesetzesbegründung darauf beruht, dass für eine Kammerentscheidung kein sachliches Bedürfnis bestehe, weil nicht materielle Rechtsfragen, sondern formale Kriterien im Vordergrund stünden9. Kommt es damit für die Prüfung der Zulässigkeit der Berufung nicht auf die Erfüllung formaler Kriterien an, sondern stehen – etwa bei der eine Analyse des erstinstanzlichen Urteils erfordernden Prüfung der hinreichenden Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung – materielle Rechtsfragen im Vordergrund, ist für die Verwerfung einer Berufung nach § 66 Abs. 2 Satz 2 ArbGG regelmäßig kein Raum.

Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergibt. Zwar brauchen die Berufungsgründe für die Zulässigkeit des Rechtsmittels weder schlüssig noch rechtlich haltbar zu sein. Erforderlich ist aber eine hinreichende Darstellung der Gründe, aus denen sich die Rechtsfehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben soll. Die zivilprozessuale Regelung soll gewährleisten, dass der Rechtsstreit für die Berufungsinstanz durch eine Zusammenfassung und Beschränkung des Rechtsstoffs ausreichend vorbereitet wird. Formale und nicht auf den konkreten Streitfall bezogene Berufungsbegründungen sollen ausgeschlossen werden. Der Berufungsführer hat die Beurteilung des Streitfalls durch den Erstrichter zu überprüfen und darauf hinzuweisen, in welchen Punkten und aus welchem Grund er das angefochtene Urteil für unrichtig hält10. Es reicht nicht aus, die tatsächliche oder rechtliche Würdigung durch den Erstrichter mit formelhaften Wendungen zu rügen oder lediglich auf das Vorbringen erster Instanz zu verweisen11.

Zwar trifft es zu, dass die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall zur Begründung ihres Rechtsstandpunktes in weiten Teilen den Sachvortrag aus der ersten Instanz wiederholt. Auf Seite 7 ihres Berufungsbegründungsschriftsatzes macht sie allerdings hinreichend deutlich, warum das angefochtene Urteil aus ihrer Sicht unrichtig ist. In ihrem Vortrag stellt die Berufungsklägerin in hinreichender Weise klar, dass die arbeitsgerichtliche Entscheidung hinsichtlich der genannten Frage zur Überprüfung gestellt werden soll und aus welchen rechtlichen Erwägungen heraus die Entscheidung für unrichtig gehalten wird. Ob diese Ausführungen in sich schlüssig oder rechtlich haltbar sind, ist für die Frage der Zulässigkeit der Berufung ohne Bedeutung12.

Ebenso wenig kann der Zulässigkeit der Berufung entgegenstehen, dass der vorgetragene Rechtsstandpunkt nicht in allen Facetten beleuchtet wird. Es kann vom Rechtsmittelführer nicht mehr an Begründung verlangt werden, als vom Ausgangsgericht in diesem Punkt selbst aufgewendet worden ist13. Da auch das Arbeitsgericht sich mit der von der Beschwerdeführerin aufgeworfenen Problematik nur sehr knapp befasst hat, reicht das Vorgetragene aus, um die Berufung in einer § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO genügenden Weise zu begründen.

Staatsgerichtshof Baden -Württemberg, Urteil vom 3. November 2014 – 1 VB 8/14

  1. vgl. BVerfGE 93, 99 – Juris Rn. 29; BVerfGE 107, 395 – Juris Rn. 16 ff.[]
  2. vgl. BVerfGE 52, 203 – Juris Rn. 13; BVerfGE 117, 71 – Juris Rn. 151 m.w.N.[]
  3. vgl. BVerfGE 107, 395 – Juris Rn. 22 ff. m.w.N.; a.A.:Voßkuhle, NJW 2003, 2193[]
  4. vgl. BVerfGE 117, 71 – Juris Rn. 151 f.; BVerfGE 107, 395 – Juris Rn. 16 ff.[]
  5. vgl. BVerf-GE 87, 48 – Juris Rn. 36; BVerfGE 92, 365 – Juris Rn. 161, st.Rspr.[]
  6. vgl. BVerfGE 112, 185 – Juris Rn. 91, st.Rspr.[]
  7. vgl. BVerfGE 112, 185 – Juris Rn. 92; BVerfGE 78, 88 – Juris Rn. 23 f.; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26.01.1993 – 2 BvR 1058/92 , Juris Rn. 12[]
  8. vgl. StGH Bad.-Württ., Beschluss vom 17.07.2014 – 1 VB 131/13 u.a. , Juris Rn. 32; BVerfGE 74, 228 – Juris Rn. 25; BVerfGE 96, 27 – Juris Rn. 48[]
  9. vgl. BT-Drs. 16/7716, S. 25; Pfeiffer, in: Natter/Gross , ArbGG, 1. Aufl.2010, § 66 Rn. 49[]
  10. vgl. BAG, Urteil vom 28.05.2009 – 2 AZR 223/08 , Juris Rn. 14; BAGE 105, 200 – Juris Rn. 13[]
  11. BAGE 105, 200 – Juris Rn. 13; BAGE 88, 171 – Juris Rn.19 m.w.N.; Hohmann, ArbGG, 2. Aufl.2013, § 64 Rn. 9a[]
  12. vgl. BGH, Beschluss vom 21.05.2003 – VIII ZB 133/02 , Juris Rn. 10 m.w.N.[]
  13. vgl. BAG, Urteil vom 28.05.2009 – 2 AZR 223/08 , Juris Rn. 18; BAG, Urteil vom 16.03.2004 – 9 AZR 323/03 , Juris Rn. 61[]