Der Streit um eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung – und die Antragsbefugnis

Bei dem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG handelt es sich um ein Normenkontrollverfahren, dessen Durchführung eine Antragsbefugnis nach § 98 Abs. 1 oder Abs. 6 ArbGG voraussetzt.

Der Streit um eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung – und die Antragsbefugnis

Nach § 98 Abs. 1 ArbGG ist antragsbefugt, wer geltend macht, durch die AVE oder die VO oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden.

Im Fall der Aussetzung eines Rechtsstreits nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG besteht nach § 98 Abs. 6 Satz 7 ArbGG eine Antragsbefugnis für die Parteien dieses Rechtsstreits, die von der Antragsbefugnis nach § 98 Abs. 1 ArbGG unabhängig ist. Soweit mehrere AVE angegriffen werden, muss die Antragsbefugnis hinsichtlich aller Angriffsziele vorliegen1.

Die Antragsbefugnis muss für jeden Antragsteller geprüft werden und vorliegen. Dies kann auch dann nicht unterbleiben, wenn das Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG wegen des unstreitigen Bestehens der Antragsbefugnis einzelner Antragsteller zu einer inhaltlichen Prüfung der angegriffenen AVE führt. Der Antrag eines Antragstellers, dem die Antragsbefugnis fehlt, muss unabhängig von der Frage der Wirksamkeit der AVE erfolglos bleiben. Fehlt es allen Beteiligten an einer Antragsbefugnis bzw. einem Feststellungsinteresse, darf keine Sachentscheidung nach § 98 Abs. 4 Satz 1 ArbGG über die Wirksamkeit der angegriffenen AVE oder Rechtsverordnung ergehen.

Aus der Antragsbefugnis folgt grundsätzlich ein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung. Hinsichtlich bereits außer Kraft getretener AVE oder VO bedarf es allerdings der Darlegung eines rechtlich anerkennenswerten Feststellungsinteresses an einer entsprechenden Entscheidung. Rein vergangenheitsbezogene Feststellungen, ohne dass die erstreckten Tarifnormen noch geschützte Rechtspositionen des Antragstellers beeinträchtigen können, scheiden aus2.

Die Antragsbefugnis von Arbeitgebern in derartigen Verfahren ergibt sich aus § 98 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG, wenn Sie von der Sozialkasse (hier: der ULAK) auf Zahlung von Sozialkassenbeiträgen für den Geltungszeitraum der angegriffenen AVE in Anspruch genommen werden, ohne Mitglied der tarifvertragsschließenden Parteien gewesen zu sein und diese Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sind. Diese Antragsbefugnis besteht unabhängig davon, ob der jeweilige Antragsteller im Ausgangsverfahren leugnet, unter den Geltungsbereich der Tarifverträge des Baugewerbes zu fallen3.

Im vorliegenden Fall beschränkte sich die Antragsbefugnis auch nicht auf die AVE VTV 2015, da es sich hierbei lediglich um den Verfahrenstarifvertrag handelt und sich die materiellen Verpflichtungen der Antragsteller zur Beitragszahlung jeweils auf Grundlage der durch die AVE BRTV 2015, AVE BBTV 2015 und AVE TZA Bau 2015 erstreckten Tarifnormen ergeben.

Etwas anderes gilt allerdings, soweit sich diese Antragsteller auch gegen die AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV wenden. Zwar bezieht sich die Antragsbefugnis regelmäßig einheitlich auf die AVE eines bestimmten Tarifvertrags oder einer bestimmten Rechtsverordnung4, ohne dass für jede Tarifnorm dargelegt werden müsste, dass der Antragsteller gerade durch sie in seinen Rechten verletzt wird. Hinsichtlich des BBTV besteht aber die Besonderheit, dass dessen AVE auf zwei verschiedene Rechtsgrundlagen gestützt ist. Während die AVE des überwiegenden Teils des BBTV auf § 5 Abs. 1a TVG gestützt wurde, ist die AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV auf Grundlage von § 5 Abs. 1 TVG erfolgt. Wegen der unterschiedlichen Rechtswirkungen beider Teile der AVE, insbesondere der Verdrängungswirkung nach § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG, ist auch im Hinblick auf die Antragsbefugnis eine getrennte Betrachtung geboten5. Die Antragsteller und Beteiligten zu 27., 28., 34., 36. und 38. stützen ihre Darlegung der Möglichkeit einer Rechtsverletzung nach § 98 Abs. 1 ArbGG ausschließlich auf die Inanspruchnahme durch die ULAK im Sozialkassenverfahren. Die §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV gewähren hingegen ausschließlich individuelle Ansprüche der Auszubildenden gegen ihren Arbeitgeber, die nicht über die Sozialkassen abgewickelt werden. Jeglicher Vortrag dazu, inwieweit die Antragsteller hierdurch in ihren Rechten berührt sein könnten, fehlt. Auch aus dem Akteninhalt ergeben sich hierfür keinerlei Anhaltspunkte.

Das zwischenzeitliche Inkrafttreten des SokaSiG steht einem Rechtsschutzbedürfnis nicht entgegen.

Insoweit kann sich das Bundesarbeitsgericht nicht der Auffassung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales anschließen, durch das Inkrafttreten des SokaSiG sei das Rechtsschutzbedürfnis der betroffenen Arbeitgeber entfallen.

Da § 98 Abs. 1 ArbGG der Regelung des § 47 Abs. 2 VwGO nachgebildet ist, kann für die Antragsbefugnis grundsätzlich auf die in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit hierzu entwickelten Anforderungen zurückgegriffen werden6. Das BVerwG nimmt an, dass ein Normenkontrollantrag mangels Rechtsschutzinteresses unzulässig ist, wenn die Feststellung der Nichtigkeit nichts dazu beizutragen vermag, das Rechtsschutzziel zu erreichen. Dies könne der Fall sein, wenn die Nichtigkeitserklärung einer Norm eine inhaltsgleiche andere Norm unberührt lasse. Das Rechtsschutzbedürfnis fehle aber nur dann, wenn feststehe, dass der Antragsteller dem mit seinem Normenkontrollantrag verfolgten Ziel selbst dann auf unabsehbare Zeit nicht näher kommen könne, wenn die von ihm angegriffene Rechtsvorschrift für nichtig erklärt werde. Dementsprechend ist dem Zulässigkeitserfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses genügt, wenn sich nicht ausschließen lässt, dass die gerichtliche Entscheidung für den Rechtsschutzsuchenden ggf. von Nutzen sein kann7. Es braucht nicht entschieden zu werden, ob diese Grundsätze in vollem Umfang auf das Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG übertragen werden können. Die vom BVerwG für einen Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses geforderten Voraussetzungen sind nicht gegeben8.

Allerdings wird durch § 7 Abs. 2 iVm. Anlage 27 SokaSiG und durch § 2 Abs. 2 iVm. Anlage 9 SokaSiG die Geltung der Normen des VTV und des TZA Bau in den hier maßgeblichen Fassungen kraft Gesetzes angeordnet. Durch § 1 Abs. 1 iVm. Anlage 1 SokaSiG ist darüber hinaus die Geltung bestimmter Regelungen des BBTV angeordnet. Nach § 3 Abs. 2 iVm. Anlage 13 SokaSiG gelten bestimmte Regelungen des BRTV. Es handelt sich jeweils um die hier maßgeblichen Fassungen. Damit könnte das Rechtsschutzbedürfnis (nur) entfallen sein, soweit das SokaSiG die Geltung der Tarifnormen kraft Gesetzes anordnet. Dies ist aber nicht der Fall. § 13 SokaSiG bestimmt ausdrücklich, dass die Allgemeinverbindlichkeit tarifvertraglicher Rechtsnormen nach dem Tarifvertragsgesetz unberührt bleibt. Die gesetzliche Anordnung der Geltung der Tarifnormen sollte „als weiterer Rechtsgrund neben die bestehenden allgemeinverbindlichen Tarifverträge“ treten9. Die durch das SokaSiG begründeten Ansprüche sind jedenfalls teilweise von anderen tatsächlichen Voraussetzungen abhängig (vgl. zB § 11 SokaSiG). Gleichzeitig ist das Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG durch das SokaSiG unberührt geblieben. Entscheidend ist jedoch, dass auch in der Rechtsprechung zu § 47 VwGO ein Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses nicht angenommen wird, wenn die Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Überprüfung der inhaltsgleichen Norm im Raum steht. So ist die Situation hier. Gegen das SokaSiG werden, insbesondere im Hinblick auf dessen Rückwirkung, verfassungsrechtliche Bedenken erhoben10. Die Frage der Vereinbarkeit mit Verfassungsrecht ist auch im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens umfangreich erörtert worden11. Einige Antragsteller haben nach ihrem unwidersprochenen Vortrag bereits Verfassungsbeschwerden erhoben. Sollten sich diese als erfolgreich erweisen, könnte ein Anspruch gegen die Antragsteller ausschließlich auf Grundlage der angegriffenen AVE bestehen. Deshalb lässt sich nicht ausschließen, dass eine gerichtliche Entscheidung über die Wirksamkeit der AVE für die Antragsteller noch von Bedeutung sein kann. Ihr Rechtsschutzbedürfnis besteht deswegen unabhängig davon fort, ob man diese verfassungsrechtlichen Bedenken teilt.

Die ULAK ist nach § 98 Abs. 6 Satz 7 ArbGG für ihren ausschließlich auf die AVE VTV 2015 bezogenen positiven Feststellungsantrag antragsbefugt. Sie hat Aussetzungsbeschlüsse nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG vorgelegt, die die angegriffene AVE betreffen. Dabei ist nicht zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Aussetzung vorlagen, solange die Entscheidungserheblichkeit der AVE nicht offensichtlich fehlt12. Hierfür gibt es keine Anhaltspunkte.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 21. März 2018 – 10 ABR 62/16

  1. vgl. noch zu § 98 Abs. 6 Satz 2 ArbGG idF vom 11.08.2014 im Einzelnen BAG 21.09.2016 – 10 ABR 33/15, Rn. 44 ff., 50 ff., BAGE 156, 213[]
  2. BAG 21.09.2016 – 10 ABR 33/15, Rn. 49, BAGE 156, 213[]
  3. BAG 21.09.2016 – 10 ABR 33/15, Rn. 55, BAGE 156, 213[]
  4. BAG 21.09.2016 – 10 ABR 33/15, Rn. 43, BAGE 156, 213[]
  5. B VII 2 a, VIII 1[]
  6. BAG 21.09.2016 – 10 ABR 33/15, Rn. 45, BAGE 156, 213[]
  7. BVerwG 7.03.2002 – 4 BN 60.01, zu II A I 1 der Gründe mwN[]
  8. aA LAG Berlin-Brandenburg 17.01.2018 – 15 BVL 5011/16, zu II 2 der Gründe[]
  9. BT-Drs. 18/10631 S. 653[]
  10. vgl. zB Thüsing NZA-Beilage 2017, 3, 6 ff.[]
  11. BT-Drs. 18/11001 S. 7 f.[]
  12. vgl. BAG 21.09.2016 – 10 ABR 33/15, Rn. 51, BAGE 156, 213[]